In der anderen Welt

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anbas

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In der anderen Welt

Was war geschehen? Plötzlich stand ich auf dem Bürgersteig einer belebten Straße, die mir völlig unbekannt war. Eben noch hatte ich frierend an der Haltestelle gestanden und auf meinen Bus gewartet. Doch nun hatte sich die Welt um mich herum schlagartig verändert.

Das Ganze war mir unheimlich. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Nur langsam traute ich mich, mir die Umgebung näher anzuschauen. Die Sonne schien. Es war warm. Autos rasten die Straße entlang und eine Straßenbahn schlängelte sich spielerisch zwischen den Häuserzeilen hindurch. In einer Fußgängerzone drängten sich Menschen um eine Vielzahl von Marktständen. Das Leben um mich herum pulsierte. Jeder ging eifrig seinen Geschäften nach.

Ich kam mir vor wie ein fremder Beobachter, der sich mitten im Geschehen befindet und doch nicht dazu gehört. Während mein Blick nervös umhereilte, spürte ich, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Ich sah die Autos, die durch die Straßen jagten, ich sah die Straßenbahn, die gerade hinter einer Kurve verschwand, ich sah die Marktfrauen, die ihre Waren anpriesen, ich sah ...

Ich erstarrte vor Schreck. Genau, das war es. Schlagartig wurde mir bewusst, was hier nicht in Ordnung war und was mich so irritierte. Es war nicht das, was ich sah, sondern das, was ich hörte, beziehungsweise nicht hörte. Es war nämlich nichts zu hören. Totenstill war es um mich herum! Weder die Autos, noch die Straßenbahn, noch die Marktfrauen waren zu hören. Es war so, als liefe vor meinen Augen ein Film ohne Ton ab.

Nur mühsam gelang es mir, mich zu beherrschen. Ich hielt einen Mann an, der mir entgegen kam. Obwohl es mir irgendwie lächerlich erschien, fragte ich ihn, wo ich hier überhaupt wäre und ob es tatsächlich so still sei, wie es mir vorkäme. Als ich meine Frage stellte, stockte mir der Atem - keine einzige Silbe, kein Laut war zu hören. Fassungslos versuchte ich es noch einmal. Nichts - es war so, als würde sich jeder Ton sofort auflösen und verschwinden, bevor er überhaupt meinen Mund verlassen hatte.

Der Mann sah mich verwundert an. Sofort hätte ich vor Scham im Boden versinken können. "Natürlich", schoss es mir durch den Kopf, "ich würde wahrscheinlich auch seltsam gucken, wenn mich jemand mitten in der Stadt anhalten und dann vor meinen Augen lediglich den Mund auf und zu machen würde".

Aber hatte ich wirklich nichts gesagt? Noch einmal blickte ich in das Gesicht des Mannes und schrie entsetzt auf, wobei wieder kein Ton meines Schreies zu hören war. Sein Gesicht - es war starr wie eine Maske. Dieses Gesicht konnte sich gar nicht wundern; es konnte sich auch nicht ärgern, freuen oder eine andere Gefühlsregung zeigen. Wie versteinert stand ich da und starrte den Mann an. Sein nichtssagender Blick durchbohrte mich regelrecht. Dann drehte er sich um und ging mit einem leichten Kopfschütteln weiter.

Ich blieb fassungslos zurück. Nun erst bemerkte ich, dass alle Menschen um mich herum genau die gleichen ausdruckslosen Maskengesichter hatten. Es war gespenstisch. Panik breitete sich in mir aus. Diese Stille, diese Masken - immer verrückter kam mir das vor was ich sah, und immer mehr zweifelte ich an meinem eigenen Verstand. Da standen Menschen zusammen, die sich unterhielten; die Marktfrauen priesen immer noch ihre Waren an; ein weinendes Kind trottete neben seiner Mutter an mir vorüber; vor einem Geschäft bellte ein angeleinter Hund und an einer Straßenecke saß ein bettelnder Akkordeonspieler. Das alles sah ich, ohne auch nur einen Laut zu hören.

Ich schrie. Ich schrie, bis mir der Hals weh tat. Doch niemand drehte sich um. Warum hätte es auch irgendjemand tun sollen? Es war ja nichts zu hören gewesen.

Wie in Trance ließ ich mich durch die Straßen treiben. Ich konnte nicht mehr denken, ich wollte nicht mehr denken. Mein Verstand, meine Sinne waren kaum noch vorhanden. Fast beiläufig fiel mir irgendwann auf, dass ich auch keine Gerüche mehr wahrnahm. Weder das Obst in den Auslagen der Geschäfte, noch die Blumen in den Beeten, weder den Müll aus den Abfalleimern, noch die Abgase der Autos konnte ich riechen. Doch das war mir inzwischen schon völlig egal. Apathisch ging ich weiter, immer weiter, bis ich zu einem großen Platz kam. In seiner Mitte stand eine Telefonzelle. Unwillkürlich musste ich lachen. Es war das lautlose Lachen eines Wahnsinnigen. Wozu brauchte man hier ein Telefon? Das Lachen blieb mir im Halse stecken. Entgeistert sah ich wie eine Frau auf das Telefonhäuschen zulief. Sie nahm den Hörer ab, warf Geld ein, wählte und fing an zu reden. Das heißt, sie bewegte den Mund so, als ob sie reden würde, doch es war nichts zu hören - auch als ich ganz nahe heranging, drang kein Ton an mein Ohr.

Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Gleich in der Nähe befand sich ein Springbrunnen dessen stummes Wasserspiel für einige Minuten meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor meinem inneren Auge tauchten Bilder vom Meer, breiten Flüssen und kräftigen Gewittern auf. Doch die dazu gehörenden Geräusche begannen in meiner Erinnerung zu verblassen.

Es dauerte einige Zeit bis die Frau ihr Telefonat beendet hatte. Unschlüssig saß ich da und starrte hinüber zu der nun leeren Telefonzelle. Dann gab ich mir einen Ruck und ging langsam zu ihr hinüber - ich musste es wissen. Zögernd nahm ich den Hörer ab. Kein Ton klang mir aus der Muschel entgegen. Mit zitternder Hand warf ich etwas Geld ein. Dann wollte ich wählen und zuckte zusammen. Die Tasten hatten weder Zahlen noch andere Beschriftungen. Hastig schlug ich ein Telefonbuch auf - es war leer, keine Buchstaben, nur weiße Seiten! Entsetzt sah ich auf und blickte mich um. Nun erst bemerkte ich, dass nirgends etwas Geschriebenes zu sehen war: keine Reklamen, keine Straßenschilder, selbst die Kennzeichen der Autos waren unbeschriftet. Zitternd wählte ich trotzdem. Es war kein Rufzeichen zu hören. Langsam legte ich den Hörer auf. Das Geld kam nicht wieder heraus.

Diese Stille! Diese Totenstille - es war zum verrückt werden! Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen. Mein Hals war wie zugeschnürt, mein Herz schlug wild und mein Magen wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer. Ich setzte mich an den Rand des Brunnens und tauchte meine Hand in das Wasser, um mich abzukühlen. Dabei sah ich mein Spiegelbild. Mir wurde für einen Moment lang schwarz vor Augen. Das Gesicht, das mir da entgegensah, war ausdruckslos mit starrem, mattem Blick. Es war genau so ein Gesicht, wie die anderen Gesichter dort auf der Straße - tot.

Ich war nicht mehr zu halten. Außer mir vor Panik lief ich die Straße hinunter, bog in eine der vielen Nebenstraßen ein und lief ziellos durch ein Labyrinth von Gassen bis ich irgendwann stehen blieb und mich erschöpft an eine Hauswand lehnte. Damit hatte ich nicht gerechnet: Ich war einer von ihnen! Ich war auch eine Maske! Mein ganzer Körper zitterte. Tränen rannen mir aus den Augen. Die Gedanken jagten nur so durch meinen Kopf. Was war nur mit mir geschehen? Wie war ich hier hergekommen? Wie konnte ich aus diesem Horror wieder entfliehen? Ich bestand nur noch aus schierer endloser Angst.

Mühsam schleppte ich mich weiter. Nach einiger Zeit führte mich die Gasse zurück zur Hauptstraße. Die Leute gingen achtlos an mir vorüber. Natürlich, ich war ja einer von ihnen. Es war alles so unwirklich, so wie in einem Alptraum: Man wünscht sich endlich aufzuwachen, doch der Traum, der schreckliche, geht weiter.

Vor einem Hochhaus blieb ich stehen. Auf dem Dach schien eine Aussichtsplattform zu sein. Frische Luft! Ich brauchte frische Luft zum Atmen. Und ich wollte weg, einfach nur weg. Weg von diesen Strassen, weg von diesen Menschen. Zögernd ging ich hinein. Es war niemand zu sehen. Ein Fahrstuhl brachte mich sanft in die oberste Etage. Von dort aus führte eine Treppe auf das Dach. Der frische Wind tat mir gut. Für einen Moment lang konnte ich tief durchatmen und mich ein wenig entspannen. Die ganze Plattform war von einem Drahtgitter umzäunt. Langsam ging ich nach vorne, presste mich dicht an das Gitter und schaute hinunter. Es war eine Stadt wie jede andere auch, mit viel Verkehr und vielen Menschen, doch eben ohne den geringsten Lärm.

'Lärm' - welch andere Bedeutung dieses Wort für mich bekam. 'Lärm' wurde zu einem Wunsch, zu einem Traum. Lärm - einfach nur Lärm. Wie viel hätte ich jetzt dafür gegeben, im Lärm fast ersticken zu dürfen. Ich wollte so schreien, dass sich alle Leute nach mir umdrehten; ich wollte das Knattern eines Motorrades genießen; das Bellen eines Hundes in mich einsaugen; ich wollte eine Ramme stampfen hören; mich über das schrille Geschrei eines Kleinkindes freuen und Ohrensausen von zu lauter Musik bekommen. In Gedanken flehte ich um Lärm, wie ein Verdurstender um Wasser. Doch stattdessen umhüllte mich eine alles erdrückende Stille, und eisige Einsamkeit ergriff meinen Körper.

Wieder glitt mein Blick nach unten. "Spring runter!" flüsterte eine Stimme in mir. "Spring, bevor es zu spät ist." Ich war nahe daran, es wirklich zu tun. Doch im letzten Moment zögerte ich. So grotesk es auch klingen mag: Wenn ich springen sollte, dann wollte ich mich wenigstens schreien hören. Ein langer erlösender Schrei sollte mich von all dem befreien. - Nein, noch gab ich nicht auf! Während meines Rückwegs nach unten versuchte ich mir immer wieder einzuhämmern, dass solch eine Welt nicht existieren könnte. Aber sie war da, und ich mitten in ihr drin!

Direkt vor der Tür des Hochhauses war eine Bushaltestelle an der einige Menschen standen. Ein Bus kam, hielt an und öffnete seine Türen. Die Leute drängten hinein und zogen mich wie ein Sog mit sich mit. Ich zahlte nicht. Niemand zahlte. Der Bus fuhr los. Mir gegenüber saß ein alter Mann. Er sah mich mit diesem starren Blick an und bewegte ständig den Mund.

"Er redet mit mir!" fuhr es mir durch den Kopf.

In mir stieg Wut und Verzweifelung auf. So stark hatte ich diese Gefühle noch nie in meinem Leben erlebt. Ich wollte ihn verstehen! Ich wollte wissen, was er sagte! Diese Machtlosigkeit, diese Ohnmacht! Schon fing ich an zu bereuen, dass ich nicht gesprungen war. Nun war da dieses ausdruckslose Gesicht des alten Mannes vor mir, der mit mir redete ohne dass etwas zu hören war. Mein Magen schien ein einziger Klumpen Stein zu sein. Der ganze Körper tat mir weh und verkrampfte sich immer weiter. Meine Augen hingen an seinen Lippen und bemühten sich, zumindest einige Worte abzulesen. Ich spürte, wie mir der Schweiß auf die Stirne trat, während mein Mund langsam auszutrocknen begann.

"... meine Frau einen Herzinfarkt bekommen. Es wird an der Hitze damals gelegen haben, wissen Sie. Seitdem bin ich vorsichtig - habe auch ein schwaches Herz. Mein Sohn sagt immer, ich soll auch die Gartenarbeit sein lassen, aber das will ich nicht! Etwas Abwechslung braucht der Mensch schon, finden Sie nicht auch? Ja, ja, man wird alt, da kann man dann nicht mehr so, wie man möchte. Aber alles ändert sich. Als ich noch jung war, bin ich hier mit dem Pferdewagen langgezogen, Autos gab's da noch kaum. Jetzt hat man alles zugebaut, die ganze Natur ist futsch! Und das nennt man dann Fortschritt! Da schneidet sich der Mensch noch ins eigene Fleisch, Sie werden sehen! So, ich muss hier raus. Sie fahren bis zur Endstation? Entschuldigen Sie, wenn ich so viel geredet habe, aber wenn man alleine ist ... Sie wissen schon. Einen guten Tag noch!"

Er stieg aus. Ich saß wie benommen da. In wenigen Sekunden war aus dieser starren toten Maske ein normales, menschliches Gesicht geworden. Ein altes Gesicht mit vielen Falten. Und er hatte mit mir gesprochen! Und ich hatte ihn verstanden! Und ich hatte gehört, was er gesagt hatte! Jedes Wort hatte ich aufgenommen, so, als müsste ich es auswendig lernen. Bis dahin waren mir solche Monologe von fremden Leuten zuwider gewesen. Doch nun ...

Allmählich nahm ich auch das Gemurmel um mich herum wahr. Den Autolärm, die Polizeisirene, die Stimme des Busfahrers - alles war zu hören. Jetzt erkannte ich auch die Straßen wieder. Ich saß in dem Bus, auf den ich gewartet hatte. Es war wie das Erwachen aus einem tiefen Traum. Noch konnte ich mir das, was ich da gerade erlebt hatte nicht erklären, doch die Erleichterung, die mich erfasste, war unbeschreiblich. Es drängte mich danach, mit anderen Menschen zu reden. Hatte dieser Alptraum tatsächlich ein Ende gefunden? Zaghaft tippte ich einem Mann, der etwas weiter vor mir saß, auf die Schulter.

"Entschuldigen Sie! Könnten Sie mir bitte sagen, wie spät es ist?" hörte ich mich fragen.

Es war so wunderbar, mich selber wieder sprechen zu hören. Was für ein herrliches Gefühl. Ich kam mir vor, wie neu geboren. Und in der Scheibe spiegelte sich nicht mehr eine Maske, sondern ein lebendiges Gesicht. Mein Gesicht!

Der Mann drehte sich um. Fast hätte ich vor Schreck aufgeschrieen, denn mir blickte ein ausdrucksloses, versteinertes Gesicht, mit starren toten Augen entgegen. Der Mann zog wortlos den Ärmel hoch und ließ mich auf seine Uhr blicken. Dann drehte er sich wieder um und starrte nach vorne.
 

anbas

Mitglied
Vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich war mir selber nicht so sicher, wo ich die Geschichte einstellen sollte. Fantasy war auch eine Option. An Horror hatte ich nicht so gedacht.

Liebe Grüße

Andreas
 

Joh

Mitglied
Hallo Andreas

fein herausgearbeitet, die Geschichte weckt Grausen auf eine Art, wie es hin und wieder in wirklich guten (meist alten)Krimis der Fall ist, ohne Blut wird mit der Angst gespielt. Der Schluß ist besonders gelungen. Habe ich sehr gern gelsen!

ein Gruß an Dich Johanna
 

anbas

Mitglied
Liebe Johanna,

vielen Dank für Deine Rückmeldung. Ich sehe es auch so, dass nicht immer Blut fließen muss, um Spannung und Beklemmung auszulösen.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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