In wilder Ehe

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Raniero

Textablader
In wilder Ehe

„Wer von Euch Gründe gegen die beabsichtigte Eheschließung hier vor Gott und den anwesenden Zeugen hat“ donnerte der Pfarrer durch die vollbesetzte Kirche, „möge diese jetzt und sofort aufzeigen, ansonsten möge er schweigen bis in alle Ewigkeit.“


Schweißgebadet von diesen eindringlichen Worten, die wie eine Drohung klangen, wachte Hubert Böcker auf, mitten in der Nacht.
Neben sich vernahm er die regelmäßigen Atemzüge seiner Ehefrau Hilde.
Sie schläft wie ein Stein, dachte er und empfand ein wenig Neid darüber, dass seine bessere Hälfte offensichtlich trotz dieser unangenehmen Angelegenheit nicht unter Schlafstörungen litt.
Die ‚unangenehme Angelegenheit’ bestand für ihn im Fest der goldenen Hochzeit, das den beiden Eheleuten in Kürze bevorstand.
Hierzu hatten sie respektive ihre Kinder die Feier sorgfältig vorbereitet und im großen Stil Einladungen verschickt, an den nicht gerade kleinen Verwandten- und Freundeskreis.
Doch mitten in diesen Vorbereitungen war plötzlich etwas zutage getreten, was Hubert vollends den Schlaf raubte.
Zwei seiner Enkelsöhne, zwei besonders aufgeweckte Knaben namens Christian und Andreas hatten nämlich, wie das im Vorfeld solcher Feierlichkeiten des Öfteren vorkommt, in den Annalen geforscht und hierbei, so unglaublich es klingen mag, festgestellt, dass die Großeltern miteinander verwandt waren, ohne es zu wissen. So hatten sie herausgefunden, dass es sich beim Urgroßvater ihrer Großmutter Hilde sowie beim Vater ihres Großvaters Hubert um Brüder handelte, waschechte Brüder!
Diese Nachricht war eingeschlagen, wie eine Bombe, in erster Linie allerdings bei Hubert.
Während seine Ehefrau, die Kinder und die Enkel die Sache nicht weiter tragisch nahmen, nach dem Grundsatz, dass die Menschen seit Adam und Eva irgendwie alle miteinander verwandt seien, konnte sich Hubert damit zunächst überhaupt nicht abfinden.
Schamröte stieg ihm ins Gesicht, im Bewusstsein, fünfzig Jahre lang mit einer Verwandten, wenn auch nicht mit einer ganz nahen, das Bett geteilt und Nachkommenschaft gezeugt zu haben.


Als erste Reaktion zog er aus dem gemeinsamen Schlafgemach aus und richtete sich im Gästezimmer sein Nachtlager ein.
Seine Frau hatte dafür kein Verständnis:
„Du spinnst doch, drei Tage vor der Goldenen Hochzeit!“
Hubert konterte, es gäbe gar keine goldene Hochzeit mehr zu feiern, da eine Eheschließung unter Verwandten nicht legal sei, und er zitierte hierbei die bekannte Geschichte eines berühmten israelischen Autors, nach der ein lange verheiratet geglaubtes Paar plötzlich ernüchtert feststellen musste, dass es ohne Trauschein lebe.
„Und bei uns“ rief er aus, „ist das noch viel schlimmer als bei Kishon; wir sind zwar verheiratet, auf dem Papier, mit Trauschein, aber wir hätten nie heiraten dürfen! Mensch, warum hat mich denn kein Mensch damals vor dir gewarnt?“
Bei diesen Worten erlitt seine Frau einen Weinkrampf, und in ihrer Not rief sie die Kinder zu Hilfe.
Diesen gelang es nach und nach, den Vater zu überzeugen, dass er mit ihrer Mutter, wenn überhaupt, in einem solch lächerlichen Grad verwandt sei, dass man diesen mathematisch kaum ausrechnen könne.
Schließlich sah Hubert dies ein, doch ins Schlafzimmer zurück wollte immer noch nicht, denn für ihn bestand trotz eines noch so geringen Verwandtschaftsverhältnisses mit seiner Frau die Möglichkeit, dass die Ehe nach damaligem Recht nicht gültig geschlossen worden sei, und in wilder Ehe zu leben, das verboten ihm seine ehernen Grundsätze.
Seine Frau aber war darüber derartig erbost, dass sie sich ihrerseits im Schlafzimmer verbarrikadierte und ebenfalls ernsthaft darüber nachdachte, das goldene Fest abzusagen und stattdessen mit einer Freundin in den Süden zu düsen.
So standen die Zeichen kurz vor dem goldenen Ehejubiläum auf Sturm, und niemand war bereit, darauf zu wetten, dass es überhaupt noch stattfinden werde.



In der Nacht vor dem Fest erlitt Hubert erneut einen jener Alpträume, die ihn in all den vorangegangenen Nächten heimgesucht hatten.
Wiederum sah er sich in der vollbesetzten Kirche, gemeinsam mit seiner Braut Hilde, vor fünfzig Jahren vor dem Traualtar kniend, und wie schon in den vergangenen Nächten hörte er den Pfarrer die unheilvollen Worte sprechen, nach denen Hubert ein jedes Mal schweißgebadet erwacht war:
„Wer von Euch Gründe gegen die beabsichtigte Eheschließung hier vor Gott und den anwesenden Zeugen hat, möge diese jetzt und sofort aufzeigen, ansonsten möge er schweigen bis in alle Ewigkeit.“
Dieses Mal erwachte er nicht, stattdessen wurde mit einem Schlag die Kirchentüre von außen aufgerissen. Die anwesenden, außer dem Pfarrer, drehten sich um und erstarrten; mitten in der Eingangstür stand breitbeinig ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit Hut und Cowboystiefeln, beide Hände schussbereit an den Hüften.
„Ich habe einen Grund“ donnerte der Fremde mit unmenschlich klingender Stimme, „diese beiden dürfen nicht heiraten, denn die Braut gehört mir!“
Sodann zog er einen Colt und schoss, um seiner Drohung noch mehr Gewicht zu verleihen, in die Kirchendecke.
Namenloses Entsetzen machte sich breit, Kinder schrien, Frauen fielen in Ohnmacht.
Der Bräutigam aber, dessen erster Schreck einer Erleichterung darüber Platz gemacht hatte, dass ihn jemand vor dem Irrtum bewahrte, eine Verwandte zu ehelichen, geriet plötzlich in Wut.
Er erkannte nämlich in dem Fremden einen Jugendfreund seiner Braut, seinen schärfsten Rivalen, den er seinerzeit äußerst knapp beim Werben um die Gunst seiner früheren Freundin aus dem Feld geschlagen hatte, und nun stand dieser Blödmann plötzlich da und wollte ihm mit Gewalt seine Beute abjagen.
„Scher dich zum Teufel“ schrie Hubert ihn an, außer sich vor Zorn, „du Lump kriegst meine Hilde nicht!“
Glückstrahlend blickte Hilde ihren Hubert an, der sie mit solcher Inbrunst verteidigte und begehrte, während alle Glocken auf einmal anfingen, zu läuten, weil innerhalb der Kirchenmauern vom Teufel die Rede war.
Der Fremde aber stieß einen Fluch aus und machte auf der Stelle kehrt, während alle Anwesenden einschließlich des Pfarrers vor Freude und Erleichterung Beifall klatschten.


Im gleichen Moment wachte Hubert auf und blickte erstaunt in das Gesicht seiner Frau neben sich auf der Gästecouch.
„Was machst du denn hier?“ murmelte er schlaftrunken.
„Ich wollte dir zu deiner goldenen Hochzeit gratulieren, mein wilder Ehemann“ strahlte seine bessere Hälfte.
„Wie spät ist es denn?“
„Noch früh, mein Schatz, du kannst noch weiterschlafen.“


Das aber wollte Hubert nun absolut nicht mehr.
Flink wie in alten Zeiten sprang er auf, umfasste seine entfernt verwandte Ehefrau und trug sie über die Schwelle ins gemeinsame Nachtlager.
Dort setzte er, sämtliche Grundsätze über Bord werfend, zu einer Maßnahme an, in einer derartigen Wildheit, wie man eine solche selbst in einer wilden Ehe nicht vermutet hätte.
 

Eve

Mitglied
Hallo Raniero,

eine witzige Geschichte, die aufzeigt, dass die stürmischen Zeiten längst nicht nur der Jugend gehören ;-) ... deine Idee gefällt mir gut!

Aber ... du schreibst zu Beginn,
Neben sich vernahm er die regelmäßigen Atemzüge seiner Ehefrau Hilde
, weiter unten jedoch, dass er sofort nach Kenntnis dieser schrecklichen Nachricht aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen ist. Wie passt das zusammen?

Und am Schluss kommt mir sein Wandel doch etwas zu plötzlich. Warum ist ihm die "Verwandtschaft" mit seiner Frau plötzlich egal? Klar, ich kann mir denken, dass es vom Traum herrührt ... aber eine gewisse Überleitung fände ich da ganz schön. Und warum steht Hilde, die sich vorher sauer im Schlafzimmer verbarrikadiert hat, auf einmal freudestrahlend vor ihm - klar, Gratulation zum Ehrentag, aber "vergessen" (Ehe-)Frauen wirklich so schnell und übergangslos den Ärger vorher? Ich könnte mir vorstellen, dass er im Schlaf vielleicht laut gesprochen hat ... und sie zufällig auf dem Weg in die Küche – auf der Suche nach einem Glas Wasser – seine leidenschaftliche Verteidigung seiner Liebe zu ihr hören konnte ... daraufhin ist der ganze vorige Ärger vergessen, sie erinnern sich ihrer beider Liebe und ... Ende gut, alles gut ;-)

... nur ein Vorschlag, wie der Schluss etwas runder gelingen könnte ...

Viele Grüße,
Eve
 

Raniero

Textablader
Hallo Eve,

vielen Dank für Deine Anmerkungen und Hinweise.
Du hast Recht, er darf nicht sofort, sondern kurzfristig
aus dem Schlafzimmer ausziehen.
Der Wandel zum Schluss allerdings; na ja, seine Frau hat sich dermaßen an ihn gewöhnt und kennt ihn so gut, dass sie genau weiß, wie sie ihn zu nehmen hat, und nachdem auf beiden Seiten die Wut verraucht ist, was soll er machen, der Gute, wenn ihm am goldenen Hochzeitsmorgen seine Jubelbraut anlächelt? :)
Darüberhinaus ist natürlich die Feier nicht abgesagt, dafür haben die Kinder und Enkel schon gesorgt.


Gruß Raniero
 



 
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