Inventur

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Iki

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Inventur

Das braune Stoff des Sofas in der Ecke ist verschlissen und fleckig. Man kann noch immer den Fleck auf der Armlehne sehen, von Omas Kaffee. Wir hatten damals alle Verwandten und Freunde in unsere kleine Wohnung eingeladen. Alle waren so viel jünger. Oma und Opa hatten auf dem kleinen Sofa gesessen und Kaffee getrunken. Vater hatte hinter ihnen gestanden und gespannt darauf gewartet, was wir zu sagen hatten. Als Jo dann gesagt hatte, dass wir ein Kind bekommen würden, hatte Oma sich verschluckt und etwas des Kaffees war über den Tassenrand geschwappt. In der folgenden Freude und den vielen Fragen hatte sich niemand um den Fleck gekümmert, und so war er immer noch da.
Wenn man genau hinsieht kann man immer noch kleine weiße Kratzer sehen. Als Mia noch kleiner war hatte sie sich aus Holzstücken kleine Figuren geschnitzt und mit ihnen auf dem Sofa gespielt. Sie hat immer Geschichten erfunden und uns erzählt, von Prinzen und Rettern, Helden und Abenteurern. Sie hatte immer so glücklich ausgesehen, manchmal, wenn wie Freunde zu Besuch hatte, waren sie mit den Figuren durch die ganze Wohnung gerannt.
Vor dem Sofa steht der kleine Beistelltisch aus Holz. Jos Onkel hatte ihn uns zur Hochzeit geschenkt. Er ist aus dunklem Holz. Am Anfang, als der Tisch noch ganz neu war, hat er geduftet, nach exotischem Holz. Sie hatte uns eine Geschichte erzählt, woher er ihn hatte, aber ich kann mich nicht mehr an sie erinnern. Der Geruch hat sich aber im Lauf der Jahre verflüchtigt.
Mein Blick wandert zu dem Bild an der Wand. Es zeigt eine Landschaft, Felder und Wiesen an einem sonnigen Tag, alles umrandet von einem braunen Rahmen. Es hing schon dort, als wir hier eingezogen sind. Jo wollte es immer wegschmeißen, er hat nie etwas darin gesehen. Aber ich habe immer noch das Gefühl, als würde das Bild etwas Wichtiges bedeuten und mir etwas sagen wollen. Lange stehe ich davor und versinke in den parallelen Linien der Felder und den wirren Strukturen der Wolken, ganz wie früher.
Mit meiner Hand streiche ich über den Sessel der in der Ecke steht. Er hat dieselbe Farbe wie das Sofa, aber es sieht älter aus. Jeden Tag, wenn Jo von der Arbeit kam, hat er sich in diesen Sessel gesetzt und die Zeitung gelesen. Dann kamen Mia oder ich und haben uns zu ihm gesetzt, auf das Sofa, und er hat immer gefragt ,,Wie war euer Tag?“ Und dann hat er lächelnd zugehört während zuerst ich ihm erzählt habe, was Mia gemacht hat, und Mia ihm dann später selber erzählt hat, was im Kindergarten oder in der Schule war. Dann ist sie immer zu ihm auf den Schoss geklettert und er hat ihr eine Geschichte erzählt.
An der Wand gegenüber stehen immer noch die Regale, die wir auf einem Flohmarkt gefunden hatten, als wir gerade einmal eine Woche lang in der Wohnung gewohnt hatten. Sie waren einmal weiß gewesen, aber wir hatten sie grün gestrichen, als wir sie gerade einmal zwei Wochen gehabt hatten. Jo hatte die Farbe eines Tages mitgebracht und gesagt: ,,Weiß passt nicht zu uns. Wir sind viel bunter!“. Als Mia fünf gewesen war hatte sie uns erklärt dass sie Grün nicht mag. Jo hat gemeint dass wir sie gerne anders anstreichen könnten und so sind sie noch am selben Tag Farbe kaufen gegangen. Jetzt haben wir ein Hellblaues, ein Gelbes und ein Lilafarbenes Regal.
Auf den Büchern in den Regalen liegt Staub, die Bücher sind schon alt. Ich nehme eines heraus. Eine alte Ausgabe von Winnetou. Ich blättere durch die alten Seiten. Ganz vorne steht: Für Mia zu Weihnachten, Mama und Papa. Ich stelle es zurück und streiche mit den Fingern über die Buchrücken. In der Mitte des Raumes steht der Esstisch, ein wuchtiger Tisch aus Eichenholz. Um ihn herum stehen drei Stühle. Früher waren es einmal vier, aber Jo wollte nicht jeden Tag einen leeren Stuhl ansehen müssen, also hat er ihn irgendwann einmal weggebracht. Die Oberfläche des Tisches ist glatt, von vielen Jahren Benutzung abgeschliffen. Nur in der Mitte ein kleiner runder Fleck, an dem das Holz kaum merklich heller und rauer ist. Dort stand immer eine Kerze.
Etwas Licht fällt durch das Fenster an der kleinen Küchenecke. Ich öffne die Schränke und Schubladen, aber sie sind alle leer. Ich weiß noch genau, wo die Teller und die Töpfe lagen, und das Besteck. Jo hatte immer ein kleines Klappmesser mit verziertem Griff, dass einen eigenen Platz in einem der Fächer der Besteckschublade hatte. Auch das ist weg. Über dem Herd hängt ein Foto. Auf ihm kann man vier Gestalten erkennen, aber die Zeit hat es unkenntlich gemacht. Trotzdem weiß ich genau wen ich sehe. Ich nehme das Foto ab und stecke es in meine Tasche.
Ich drehe mich. Der Raum hat zwei Türen. Eine führt in den Flur mit den drei Zimmern und dem Bad, die andere nach draußen. ,,Mama?“ Mia steht hinter mir. Sie ist groß geworden. Sie trägt ein blaues Kleid. ,,Mama?“ Sie nimmt meinen Arm. ,,Wir müssen los. Erinnerst du dich noch?“ Ich sehe sie an. Ihre Augen schauen ernst. Sie ist in letzter Zeit viel zu ernst, ich frage mich wieso. Ich lächele und sie lächelt zurück. Langsam führt sie mich in Richtung der Tür, die nach draußen führt.
 

Vagant

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Hallo Iki,
wie in einem kleinen Schwarzweißfilm sah ich beim Lesen die Bilder einer alten Frau, die, vielleicht ein letztes mal, ihre melancholischen Erinnerungen an die mit Patina überzogenen Einrichtung ihrer Wohnung heftet. Die beginnende Demenz lässt nur noch die alten Erinnerungen zu. An ihren Mann Jo, sein Messer, die spielende Tochter, gestrichenen Regale (mein Gott, viel ist ja nicht was am Ende bleibt).
Es ist ein kurzer Text. Der Stil eher nüchtern und unaufgeregt, und der Text weiß vom ersten Satz an genau wie er klingen will. Der Klang der Sprache, dieser Duktus, hat bei mir eine regelrechte Sogwirkung ausgelöst. Sauber.
Ein paar ungelenke Satzstellungen (eingeschobene Nebensätze) sind mir aufgefallen, die ich vielleicht etwas anders formuliert hätte. Apropos 'hätte'; man tappt halt bei dem vielen Plusquamperfekt leider auch schnell in die 'Hätte-Falle'. Hier wäre die eine oder andere elegantere Lösung besser gewesen. Aber ich bin nur Leser und nicht die Stilpolizei.
Im vorletzten Absatz wurde ich dann doch noch kurz aus dem Text geschubst. Die vier 'Gestalten' auf dem Foto haben mir überhaupt nicht gefallen, denn a) das Wort 'Gestalten' passte nun so gar nicht in den Sprachduktus, und b) wer ist der vierte Mann? Einen Vierten hatte ich bis dahin nun gar nicht auf dem Schirm. Also begann ich die Geschichte noch ein mal von vorn zu lesen. Aber; Fehlanzeige.
Nix für ungut, Ich halte dies für einen starken Text und habe ihn mit Vergnügen gelesen.
Vagant.
 



 
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