Irene

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chrissieanne

Mitglied
Irene

„Ich muss unbedingt abwaschen. Sieht ja furchtbar hier aus."
Irene zieht ihren zerschlissenen Morgenrock zusammen. Sie sitzt in der dunklen Küche und fröstelt. Angewidert mustert sie das Chaos. Berge von Tellern, Tassen und Töpfen überall, in denen sich teilweise grünweißer Schimmel gebildet hat. Irene spürt den Keim der Verzweiflung in ihrem Bauch, und steht auf. Ruckartig. Damit er rausfällt.
„Erst einmal schauen, was ich mir heute Leckeres koche. Danach gehe ich einkaufen."
Mit ihrem Lieblingskochbuch in der Hand schlurft sie durch die totenstille Wohnung. Am Wohnzimmertisch blättert sie das Buch durch und entscheidet sich für Brokkoliauflauf. Sorgfältig schreibt sie die Zutaten auf. Dann nimmt sie die Fernsehzeitung und studiert ausführlich das Programm, kreuzt alles an, was sie am Abend anschauen könnte.
Plötzlich durchbricht ein Schrillen die Stille. Irene zuckt zusammen. Ihr Herz klopft. Wer könnte das sein?
Meine Güte, es ist vierzehn Uhr, und ich bin noch nicht angezogen! Soll ich aufmachen? Sie reißt die Vorhänge auf und macht das Radio an, um Lebendigkeit vorzutäuschen. Dann drückt sie aufgeregt die Gegensprechanlage.
„Hallo?"
„Werbung! Könnten Sie bitte die Tür aufmachen?"
Irene knallt den Hörer auf, lehnt sich an die Wand. Sie zittert, ihr Atem geht schwer.
Ihr Blick fällt in den Spiegel. Ein bleiches Gesicht mit schweren Tränensäcken unter den Augen, aus denen sich eine unendliche Leere offenbart. Der schmale Mund verzieht sich zu einem bitteren Grinsen, das sich plötzlich in ein Lächeln verwandelt und einen Blick in die Augen zaubert.
Oh, doch. Es gibt Menschen, die an sie denken. Viele Menschen. Und es werden mehr werden. Heute noch.
Sie geht zu ihrem schweren Eichenschreibtisch und öffnet die oberste Schublade. Behutsam holt sie ein rotes Heft heraus. Hier sind sie. Ihre Menschen. In deren Gehirne sie sich eingenistet hat.


Als es angefangen hat, hat sie auf ihren Spaziergängen wildfremde Menschen herzlich gegrüßt.
„Hey, hallo wie geht`s?"
Die Angesprochenen grüßten, sichtlich verwirrt, zurück. Sie stellte sich vor, wie sie grübelten, woher sie sie wohl kennen.
Vielleicht erzählten sie es abends ihren Freunden:
„heute hat mich eine schwarzhaarige, sympathische Frau gegrüßt. Mir fällt einfach nicht mehr ein, woher ich sie kenne."
Das war ein befriedigendes Gefühl. Aber es hielt nicht an. Denn ihre Anwesenheit in diesen Gehirnen währte nur kurz.
Manchmal ging sie die Straße entlang, und stieß Irgendjemanden im Vorbeigehen fest in die Rippen.
„Aua! Sind Sie verrückt? Das gibt es doch gar nicht!"
Sie drehte sich um, zeigte ihr Gesicht und lächelte.
Diesmal würden sie länger an sie denken. Ein blauer Fleck in der Seite - von ihr. Empörte Gespräche - über sie. Auch in späteren Jahren immer wieder als Anekdote gut.
Ein kleiner, aber bleibender Platz im Bewußtsein dieser Leute war ihr gewiß.
Sie ist nicht bedeutungslos und allein - oh, nein!
Dieses schöne Heft hat sie sich gekauft, um all die Personen festzuhalten, zu deren Leben sie nun gehört
Sie liest weiter in ihm, und ihr Lächeln wird zärtlich.
Timmy. Ja, Timmy wird sie nicht vergessen. Nie mehr. Ein kleiner Junge mit einem Schulranzen kam ihr allein entgegen. Sie sprach ihn an.
„Hör mal, mein Kleiner, du gehst doch jetzt nach Hause, nicht wahr?"
„Ja, warum?"
„Wie heißt Du denn?"
„Timmy."
„Ach, ja. Timmy. Das hatte ich ganz vergessen."
„Wieso vergessen? Sie kennen mich doch gar nicht."
„Doch Timmy, ich kenne dich. Gut sogar. Und ich muß Dir leider sagen, dass Deine Mami tot ist."
Wie dieses kleine Gesicht an Farbe verlor, seine Augen riesig wurden. Wie er schrie und weinte.
„Das stimmt nicht. Sie lügen! Mami ist nicht tot. Sie lügen, Sie lügen!" Während sie aufstand, ihm übers Haar strich und fortging. Nein, Timmy würde sie nie mehr vergessen. Bei ihm hatte sie einen festen Platz im Gehirn. Auch wenn die Mami gar nicht tot war.
Als sie ihren letzten Eintrag liest, bekommt sie einen kleinen Schreck. Ach Gott, daran hat sie ja gar nicht mehr gedacht.
Nein, sie hat natürlich nicht Lydia vergessen, die nette Frau mit dem Kinderwagen. Sie hatte sie vor drei Tagen angesprochen und nach dem Weg gefragt. Sie kamen ins Gespräch und Lydia meinte schließlich, sie ginge in dieselbe Richtung und könne sie zu dem Cafè begleiten, nachdem sie gefragt hatte. Am Cafè angekommen, waren sie sich so sympathisch, dass sie zusammen hineingingen.
Nach einiger Zeit saß das Baby auf Irenes Schoß, und Lydia musste mal aufs Klo.

Irene schließt das Heft und steht auf.
Sie zieht sich an und öffnet die Besenkammer. Auf dem Boden liegt ein kleines Bündel. Sie hebt es hoch, und schaut lange in das kleine, starre Gesicht. Dann reißt sie ihm den Klebestreifen von dem winzigen Mund.

„Komm, wir beide gehen jetzt ein bißchen spazieren."
 
G

Gelöschtes Mitglied 5196

Gast
hi

deine kleine geschichte gefällt mir RICHTIG gut, habe wirklich nichts zu meckern. ich habe an keiner stelle gedacht: och, wie langweilig/ ist ja albern/ und wo ist die spannung?... etc., denn alles war vorhanden. und vor allem auch in der kürze durchaus genügend... was nicht leicht ist. also von mir ein dickes plus, schön schaurige, bitterböse geschichte, einfach gute unterhaltung. folgende stelle fand ich besonders gelungen: [blue]Nach einiger Zeit hatte Irene das Baby auf dem Schoß,und Lydia musste mal aufs Klo.[/blue] und danach der absatz, sehr gut, so hat der satz richtig gewirkt.

danke dafür...

und einen lieben gruß von

andré

(ein frohes weihnachtsfest!)
 

chrissieanne

Mitglied
lieber andrè,
ich hab zu danken. fürs lesen und für dein positives feed-back. schön, dass sie dir gefallen hat, die geschichte.
ich wünsch dir auch frohe weihnachten.
lg
chrissieanne
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
na,

gruseliger gehts wohl kaum. da kann man ja glatt albträume kriegen!
jetzt muss ich schnell was lustiges lesen . . .
lg
 
D

Denschie

Gast
hi chrissieanne,
deine geschichte gefällt mir sehr.
die "störung" der frau ist originell.
einzig den anfang könntest du vielleicht
ein bißchen straffen.
oder geht es dir darum, daß die leser sich
am ende noch mal ob des alltagshandelns
gruseln, das die protagnistin ausführt,
während das baby bei ihr in der besenkammer
liegt?
viele grüße,
denschie
 

chrissieanne

Mitglied
liebe flammarion, liebe denschie!
danke euch für die kommentare.
ja, du hast recht, denschie. darum geht es mir zum einen und zum anderen auch um die einsamkeit aufzuzeigen, in der sie lebt, und an der sie zerbrochen ist.
und noch mehr straffen ist schwierig. der text ist ja schon ziemlich kurz.
lg
chrissieanne
 

chrissieanne

Mitglied
ähm. versteh ich nicht.
erst dacht ich hui, ihm fehlen die worte, und er gibt mir eine zehn. aber das war es nicht.
kannste mich aufklären, was du damit sagen willst??
danke.
lg
chrissieanne
 

MDSpinoza

Mitglied
Gut, in Langform: Die Geschichte hat es mir eiskalt den Rücken rnterlaufenlassen, was mich dazu ermuntert, sie mit einer 10 zu bewerten von der ich keine Punkte abgezogen wissen möchte.
 
B

bonanza

Gast
nicht berauschend geschrieben. hat aber einen guten plot.
beim schluß mußte ich lachen, und das ist was wert.

bon.
 

chrissieanne

Mitglied
jo, ich bin nicht so die superschreiberin. das weiß ich. dafür tu ichs zu selten. freut mich, dass dir der plot gefällt. den find ich auch ziemlich gut. was so lustig ist an dem schluss ist mir schleierhaft. ich schätze mal, du magst es, dich möglichst unkonventionell zu geben.
stimmt, es ist viel wert, jemanden zum lachen zu bringen. nichts ist wichtiger. war zwar hier wahrlich nicht beabsichtigt, aber - seis drum. fein, dass ich dir freude bereiten konnte.
gruss von
chrissieanne
 
Hallo chrisseane,

meiner Meinung nach zerfällt die Geschichte in drei Teile.
1. Einleitung, die sich mir auch nach dreifachem Lesen nicht erschließt. Was willst du damit sagen.
2. Der Mittelteil, indem du den Leser geschickt verwirrst, da könnte man sogar noch mehr Szenen daraus machen
3. Der Schluß mit der Pointe, gefällt mir, obwohl du im Schlußsatz vielleicht besser sie anstatt Irene schreiben könntest, da es ja aus ihrer Sicht ist.

Gefällt mir eigentlich gut, nur die Einleitung passt nicht, unabhängig, ob gekürzt, oder eher verlängert. Bei letzterem könntest du Irene etwas mehr skizzieren, damit sie dem Leser näher kommt.

Bis bald,
Michael
 

chrissieanne

Mitglied
hallo michael,

der erste teil der geschichte soll die isolation, die einsamkeit der prot. deutlich machen, an der sie letztendlich zerbrochen ist. auch den gruseleffekt im nachhinein verstärken. denn die ganze zeit über liegt das tote baby in der kammer.
schade, dass es für dich nicht gelungen scheint.
ich werde es mir zu herzen nehmen und mir den text beizeiten noch einmal vornehmen. bisher fand ich ihn recht schlüssig.
auf jeden fall bedanke ich mich fürs lesen und kritisieren.
lg
chrissieanne
 
M

Minds Eye

Gast
Hi,
fein gruselig aber...
1. da klingelt jemand und sagt "Werbung" (das Schrillen in der Stille liest sich auch nicht so schön)?
2. Irene hat ein rotes Buch mit den Namen von Leuten, die sie angelächelt, bzw. angerempelt hat?
3. "Irgendjemand" wird groß geschrieben? In diesem Zusammenhang?
Gruß,
Stefan.
 

JuDschey

Mitglied
Hallo chrissieanne,

die Idee finde ich spitze. Die Ausführung ist ebenfalls gut gelungen.
Der Anfang fängt ganz normal an und man ist gespannt was dann wohl passiert.
Und dann holt sie ihr Buch raus und man ahnt, nein, man weiß, Irene ist ungewöhnlich, vielleicht sogar total verrückt und dann paff die Pointe.
So muss Horror sein. Eine gut gelungene Kurzgeschichte.

Mit freundlichen Grüßen
JuDschey
 

Piratenbraut

Mitglied
Hi Chrissieanne,

die Idee finde ich klasse!
Ein bisschen hättest du noch ausschmücken sollen, damit der Grusel richtig rüberkommt.

Das hier finde ich allerdings unglaubwürdig:
[blue]Als sie ihren letzten Eintrag liest, bekommt sie einen kleinen Schreck. Ach Gott, daran hat sie ja gar nicht mehr gedacht....[/blue]
Dass die Prot. sich erschreckt und gar nicht mehr an das gedacht hat, was sie offensichtlich zuletzt verbrochen hat, ist unlogisch.

Kompliment für deinen Einfall. :)

LG PB
 

Chrizzader

Mitglied
Hallo chrissianne

Richtig schön psycho was du da geschrieben hast.
Ein Mensch mit einer so dunklen, verstörend, kranken Fantasie verdient meinen uneingeschränkten Respekt ;)

Chrizzader
 



 
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