Irgendwer von Nirgendwo

SvenKratt

Mitglied
Irgendwer von Nirgendwo




Die Schreie klingen immer noch in meinen Ohren nach. Die Schreie von all denen, die zurückgelassen wurden. Von all denen, die allein zurückblieben. Allein, verlassen. Auf sich selbst gestellt. Ich höre ihre Schreie jede Nacht. Jede Nacht, in der ich Ruhe finde. Ruhe von der endlosen Reise durch dieses Gefängnis aus Stahl, Beton, Abgasen, Rost, Staub. Die Stadt ist mein Gefängnis, so endlos, rastlos, lieblos und verständnislos. So grau. So unendlich, unendlich grau. So voller Stahl, Beton, Abgasen. So voller grauem Stahl und Beton. Sie verschlingt jedes einzelne Licht. Nur die Straßenlaternen spenden manchmal ein bisschen kaltes, graues Licht. Gerade noch genug, um sich nicht zu verlaufen. Doch verlaufen kann ich mich nicht. Verlaufen können sich nur die, die ein Ziel haben, ein Zuhause, ein Mädchen, das auf sie wartet mit hungrigem Herzen und kalter Seele, ein Bett, in dem sie schlafen und vom nächsten Tag träumen, eine Flasche Schnaps, die ihnen hilft, den letzten Tag zu vergessen. Die können sich verlaufen, wenn sie ihren Gedanken nachhängen und sich von ihren Füßen tragen lassen. Die können sich verlaufen. Doch meistens verlaufen sie sich nicht. Sie denken an ihr Ziel, an ihr Mädchen oder an ihren Schnaps und wissen, wo das alles auf sie wartet. Ich kann mich nicht verlaufen, denn ich bin rastlos, ruhelos, immer unterwegs ohne Ziel vor Augen, ohne Bett, ohne Mädchen und ohne Schnaps.


Aber allein, allein bin ich nicht. Mir bleiben immer noch die Schreie derer, die allein gelassen wurden. Die Schreie in den Nächten, in denen ich Ruhe finde, mich vielleicht in die Arme einer billigen Hure fallen lasse und einen Hunderter für ein paar Stunden geheuchelter Liebe, erlogenem Verständnis und einen weichen, grauen, kalten Körper bezahle, damit sie sich auch ein bisschen zu Essen kaufen kann. Ein Hunderter für ein paar Stunden Geborgenheit vor dieser grauen, kalten Stadt, die mich verschlingt und wieder ausspuckt, mich rastlos umherhetzt ohne ein Ziel vor den Augen. Ein Hunderter für ein paar Stunden Ruhe, in denen ich versuche zu vergessen. Versuche die Schreie zu vergessen. Die Schreie von den Alleingelassenen. Versuche zu vergessen, dass ich ohne Ziel, ohne Zuhause und ohne Schnaps bin. Und wenn ich dann so neben ihr liege in ihrem Bett und denke, dass ich jetzt vielleicht ausruhen kann, dann, dann drängt mich die Stadt weiter. Weiter durch die steingrauen Nebengassen und die versifften Wohnviertel, wo man leicht mit einem Messer in den Rippen und leerer Brieftasche endet. Durch die Einkaufsstraßen, die zum Bersten mit Leuten gefüllt sind und in denen man doch allein ist. Tausende von Leuten laufen herum, reden, lachen, verlieben sich, verfeinden sich, prügeln sich manchmal oder bleiben kurz stehen, um so einem armen Teufel ein paar Pfennige in den alten Hut zu werfen. Einem von denen, die keine Chance hatten, denen nichts zurückblieb. Armer Teufel sagen sie, aber in Wirklichkeit denken sie: Geh arbeiten, du fauler Sack! Was kümmert mich dein Elend? Was kümmert’s mich? Ich hab Geld und kann es mir leisten dir ein bisschen was davon abzugeben, um zu zeigen, wie sehr ich dich bemitleide. Aber die Wahrheit ist, dass du gar kein Mitleid verdienst. Die Polizisten sollten dich mal ein bisschen Aufmischen, dich ein bisschen mit ihren Knüppeln streicheln, dass du merkst, wie viel härter es noch sein könnte. Das verdienst du, du Stück Dreck!


Tausende von Leuten laufen herum und ich bin allein unter ihnen. Bin unbekannt unter Tausenden, Millionen von Gesichtslosen. Aber am schlimmsten sind die Abende. Die Abende, an denen alles passieren kann, an denen man nicht weiß, was auf einen zukommt. Die Abende, an denen sich Banden versammeln und in leeren Gassen aufeinander losstürmen, die schwüle Nachtluft mit Kriegsgeschrei und dem Duft von Angstschweiß, Pulverdampf und Blut, das auf den heißen Asphalt tropft, erfüllen. Abende, an denen Liebende übereinander herfallen, Zecher durch die Straßen torkeln und die alten Lieder ihrer Kameraden grölen: „Ach du schöner Westerwald“ und „Erika“, an denen brave Ehemänner dem Rotlichtviertel einen Besuch abstatten und sich die leichten Mädchen packen, die so süßlich herb nach billigem Parfüm, altem Schnaps und Zigaretten duften und so verrucht aus ihren Fenstern winken und den vorbeihastenden Männern nachrufen. Nach Parfüm und Schnaps und Zigaretten riechen sie. Und nach Sünde und nach Lust. Nach Abenteuer riechen sie und nach Milch riechen sie manchmal, wenn sie wert auf Hygiene legen. Aber meistens riechen sie nur nach Parfüm und Schnaps und Zigaretten und manchmal nach Milch.


Diese Abende sind am schlimmsten, wenn sich alles amüsiert und ausgelassen ist und in die Kneipen und Tanzlokale strömt. Wenn der Duft von Zigaretten, Bier, Schnaps, Liebe, Lust und Blut in der Luft liegt, dann bin ich allein. Dann bin ich wirklich allein und finde keine Tür, die mir offen steht, kein Mädchen, das mich mit offenen Armen empfängt, kein Bett, das mich freundlich anlacht. Dann bin ich allein. Dann haste ich durch die Stadt und suche einen Platz, wo ich bleiben kann, wo ich Ruhe finden kann, doch ich finde nichts. Und wenn ich die ganze Nacht lang gesucht habe und nichts gefunden habe, dann setze ich mich meistens auf irgendeinen Platz oder in den Park und beobachte die letzten Liebespaare, die sich endlich doch voneinander losreißen, weil es schon fast Morgen ist und die Sonne schon aufgeht und weil sie Zuhause sein muss, bevor ihre Mutter von der Nachtschicht kommt und weil er dann auch bald auf Arbeit muss in der Fabrik. Meistens glaube ich dann endlich etwas Ruhe zu finden, doch dann kommen meistens die Polizisten und vertreiben die Obdachlosen von den Bänken und aus den Büschen und würden am liebsten den ganzen Park desinfizieren. Und wenn keine Polizisten kommen höre ich wieder die Schreie der Alleingelassenen, die sich dann mit meinen eigenen Schreien vermischen und einen grauenhaften Kanon der Desillusion und der Hoffnungslosigkeit und der Angst vor dem Leben bilden, der bis nach oben dringt, bis ganz nach oben, wo die neuen Götter sitzen. Sie sitzen nicht auf Wolken, sondern in dicken Ledersesseln in Wolkenkratzern, welche die Stadt und ihre Bewohner und alle Ruhe – und – Ziellosen überragen und von denen aus sie auf uns hinabschauen und zufrieden grinsen, wenn einer von ihnen sagt, dass wir alle wie Ameisen aussehen. Dann grinsen sie zufrieden, weil sie so groß sind und weil ihnen einfällt, wie leicht man Ameisen zerquetschen kann. Das sind die neuen Götter, die auf uns herabgrinsen. Das sind nicht die Götter des Friedens oder der Liebe. Das sind die Götter des Stahls, des Betons, der Bomben, der Spendengelder. Die Götter der schwarzen Konten und des Krieges. Das sind die neuen Götter, die wir anbeten, weil wir ohne sie gar nichts hätten. Das sind die Götter, die diese Welt verpesten mit giftigen Abgasen aus ihren Fabriken, die diese Welt zerstören mit ihren Bomben, die den Ton angeben mit ihren Spendengeldern und schwarzen Konten. Die uns vernichten mit ihren Kriegen für eine bessere Welt, eine bessere Zukunft.


Und wenn der Kanon der Alleingelassenen, der Geächteten, der Hoffnungslosen, der Ziellosen, der Desillusionierten an ihre Ohren dringt, schütteln sie sich vor Lachen und ihre dicken Bäuche wackeln in ihren großen Ledersesseln, denn sie sind satt und zufrieden und haben ein Ziel, ein Zuhause, ein Mädchen, ein Bett und Schnaps, Schnaps haben sie auch in rauen Mengen. Und je lauter unser Kanon wird, desto lauter wird auch ihr Lachen, bis ihre Gesichter zu vom Wahnsinn gezeichneten Fratzen werden, in denen man ihr wahres Ich erkennen könnte, wenn sie nicht so weit oben wären. Und erst, wenn unsere Verzweiflung zu groß ist, um den Kanon weiter hinauszuschmettern, wenn wir merken, dass uns niemand zuhört, dass man über unser Elend lacht, erst wenn wir verstummen, weil wir zu verzweifelt sind und uns in die Elbe oder den Neckar oder den Rhein oder den Mississippi stürzen, erst dann verstummen auch sie und kichern noch etwas verhalten und reiben sich die Hände und sagen: Wieder ein gutes Werk vollbracht.


Ich bin Irgendwer von Nirgendwo, denn ich habe ein Gesicht unter Millionen von Gesichtslosen und habe kein Ziel unter Millionen von Zielgerichteten, die über Leichen gehen, um ihr Ziel zu erreichen und dabei nicht einmal mit der Wimper zucken. Nur ihr Lächeln verformt sich ein bisschen zu einem Grinsen.
Ich bin Irgendwer von Nirgendwo, denn ich komme von Nirgendwo und gehe nach Nirgendwo, weil ich nicht weiß, wohin ich gehen soll. Weil mir kein Ziel gegeben wurde, das ich erreichen wollte. Weil ich keine Hoffnung und keine Illusionen mehr habe, weil mir meine Zukunft geraubt wurde und weil man mir verbat ich selbst zu sein.
Ich bin Irgendwer von Nirgendwo, denn ich kann niemals da bleiben, wo ich bin, weil es mich weiterzieht auf der Suche nach einem Platz, wo ich Ruhe finden kann.
Ich bin Irgendwer von Nirgendwo, denn ich bin einer der Alleingelassenen dieser Welt, die sich nichts mehr wünschen, als ein Ziel, ein Zuhause, ein Mädchen, ein Bett und manchmal ein bisschen Schnaps, um den Schmerz des Lebens und der Desillusion zu vergessen.
Ich bin Irgendwer von Nirgendwo, denn ich legte meinen Namen und meine Herkunft ab und vergaß beides, weil ich tot oder lebendig gesucht werde, wegen freiem Denken und dem Streben meiner Seele nach Freiheit. Deshalb legte ich meinen Namen ab, damit sie mich nicht finden, denn ein Namenloser kann nicht gefasst werden. Deshalb legte ich meine Herkunft ab, damit sie mich nicht finden, denn sie können nicht wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, wenn ich es selbst nicht weiß.
Ich bin Irgendwer von Nirgendwo und wäre so gerne jemand von Hamburg oder Berlin oder New York oder Stuttgart-Stammheim, doch dies ist mir nicht vergönnt, denn ich habe ein Gesicht und eine Seele und kein Ziel und keine Illusionen und kann keine Ruhe finden an den Abenden, an denen das Leben brodelt.


Ich traf einen Mann im Industriegebiet. Die Maschinen in den Fabriken stöhnten, ächzten und hämmerten ihren unendlichen Rhythmus: ohne Rast --- ohne Rast --- ohne Rast --- ohne Rast und wir standen uns gegenüber und sahen uns in die Augen. Er reichte mir seine Hand und lächelte mich nur an und ging weiter. Ich blieb lange stehen und blickte ihm nach und die Maschinen hämmerten weiter ihren unendlichen Rhythmus: ohne Rast --- ohne Rast --- ohne Rast--- und ich lächelte ebenfalls, als er verschwunden war, denn er kannte mich und ich kannte ihn. Wir kannten uns so gut, ohne uns davor jemals begegnet zu sein, dass nichts gesagt werden musste, dass alles so klar war, dass keine Erklärung nötig gewesen war. Ich war wie er und er war wie ich. Wir beide waren Irgendwer von Nirgendwo.
 



 
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