Irgendwo im Chaos

Fellfrosch

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Irgendwo im Chaos

Es gibt Tage, da willst du nicht aus dem Bett raus. Und du tust es doch. Eine Stimme tief in dir drin sagt „Lass es sein!“ Nichts da, denkst du dir und rappelst dich doch hoch.
Das war so ein Tag. Der Regen platschte auf mein Fensterbrett. Irgendwie herrschte draußen Weltuntergang. Und das im Mai. Nun, bisweilen gibt es auch Frühlingsgefühle zu Weihnachten.
Ich habe an so einem Morgen erst einen Stapel Hardcoverbücher umgehauen, der rumpelnd auf den Parkettboden fiel. Schliddernd rutschten die Bücher umher. Dann mähte ich noch einen Stoß neuer CDs um. Von unten hörte ich meine alte Nachbarin „Ruhe da oben!“ rufen. Gefolgt von ihrem Donnern mit dem Besenstil. Ich fluchte laut und zotig zur Antwort. Das beruhigt sie jedes Mal.
Mein kleiner Zeh war lädiert von der Buchattake. Also humpelte ich in die Küche, grüßte den Schimmel auf dem Teller freundlich und setzte Kaffeewasser auf. Ich mag Maschinenkaffe nicht. Also zelebriere ich feierlich jeden Morgen das Aufgießen des Pulvers. Zwischen Wasser heiß werden lassen und Aufgießen bedauerte ich ausgiebig meinen Zeh. Er sah ziemlich rot aus und schmerzte wenn ich ihn etwas bog. Aus reiner Neugierde bog ich solange an ihm herum, bis es knirschte. Scheiße, das tat weh! Irgendwie bin ich masoistisch veranlagt. Das hat auch meine Verflossene immer wieder behauptet. Ich sage, ich bin nur neugierig. Mehr nicht. Mit ihr habe ich auch jeden Morgen diskutiert, warum handaufgebrühter Kaffee besser schmeckt. Und das zwei Jahre lang. Das ist eine Leistung finde ich.
Dann schlurfte ich zur Wohnungstür und holte meine Zeitung rein. Die Titelseite sagte schon alles. „Wird es ein verregneter Sommer?“ Typische Samstagsschlagzeilen. Wenn nichts in der Weltgeschichte passiert, wird das Wetter niedergemacht.

Solche Morgen habe ich gern. Ich liebe sie. Zu allem Überfluss ging das Telefon. Ich starrte es an. Ich hätte aufstehen müssen und quer durch das Wohnzimmer mich bewegen. Aus reiner Faulheit zählte ich die Anzahl der Klingeleien. Achtzehn. Dann war Schluss. Ich wußte wer so lange Nerven hatte. Ich gab ihm eine halbe Stunde. Dann würde er es erneut versuchen.

Eine halbe Stunde später, mein Kaffee war fertig, die Zeitung verteilte sich quer auf dem Fußboden im Wohnzimmer und ich mitten drin, klingelte es wieder. Jetzt konnte ich nach dem Hörer angeln. Wer mochte es wohl sein? Richtig. Eine lieb gewonnene Nervensäge plapperte munter drauf los. Ich hätte den Hörer weg legen können und nach zehn Minuten fragen, ob er zwischenzeitlich ein paar Punkt eingefügt hätte. Er hätte es nicht bemerkt. „Was willst du?“ herrschte ich ihn an. Verschüttete Kaffee über meine Beine. Fluchte laut. Von unten hörte ich wieder „Ruhe da oben!“ Ich fluchte noch lauter. Warf das Telefon von mir, was sich scheppernd über die nächste Wand zerlegte und biss mir auf die Lippe. Scheiße, war der Kaffee heiß!
Nach einer Welle der unmöglichsten Flüche Richtung eine Etage tiefer, kehrte Ruhe ein. Mein Telefon hatte sich in unwesendlich viele Teile zerlegt. Es würde mich nicht mehr nerven. Allerdings hieß es auch, ich durfte mich an einem Samstag in die Vorstadt quälen. Kreischende Kinder im Elektromarkt ertragen und entnervt nach einem Telefon suchen. Ich hasste solche Samstage.
Es kam alles ganz anders.
In meinem Kühlschrank herrschte seit Mitte der Woche gähnende Leere. Das restliche Schnittbrot hatte sich in einen Sammlung Brettchen verwandelt. Immer auswärts Essen wollte ich auch nicht. Was blieb mir anderes übrig, als doch noch mich in den samstäglichen Wahnsinn zu stürzen?
Nun, ich habe insofern Glück, dass ein türkischer Händler fast quer über die Straße zu erreichen ist. Daneben ein Discounter. Einkaufen in Lichtgeschwindigkeit, sagte ich mir. Hier kommt Supershopper! Bis zum Türken ging es auch in Lichtgeschwindigkeit. Dann warf mir eine Frau ihr gesamtes Gemüse und Obst vor die Füße.
„Eigentlich werfen sich mir nur Frauen zu Füßen“, grinste ich. Sie sah sich hektisch nach zwei geflüchteten Äpfeln und widerspenstigen Zwiebeln um.
„Und zu was macht Sie das?“, antwortete sie. Die Antwort kam spontan. Das hörte ich sofort raus.
Ich half ihr beim Einfange ihrer Beute. Wir mussten etwas im Laden warten, bis der letzte Regenguss sich abgeregt hatte. Sie murmelte vor sich hin. Ich hörte so was wie „Scheiß Wetter“ und „Fatschnass!“. Dann sah sie mich an und grinste. Ich mußte lachen. „Kann ich dich zu einem Kaffe einladen?“ Warum ich das fragte weiß ich bis heute nicht. Es kam mir so vor, als würde jemand mit meinem Mund etwas anderes machen, als ich wollte.
Sie starrte mich an. „Bei dem Wetter?“ Sie zeigte raus. Ein Wasserfall ergoss sich von der Markise des Obsthändlers. Ich zuckte mit den Schultern. „Warum eigentlich nicht“, seufzte sie. Einige Minuten später saßen wir in meinem Stammcafé. Es liegt an der nächsten Straßenecke. Von hieraus kann ich ausgiebig verrückte bis nervende Fans beoabachten, die meinen meine Haustür zu belagern. Hier in meiner Ecke saßen wir dann. Sie bestellte sich einen großen Milchkaffee und wir unterhielten uns. Ich weiß nicht mehr über was. Aber das war mir zu diesem Zeitpunkt auch so was egal. Zum ersten Mal in meinem Leben!
Irgendwann sah sie auf ihre Uhr und wurde schlagartig hektisch. Sie raffte ihre Einkäufe und verabschiedete sich. Ich lachte. Erwachte aus meinem Traum und sah sie aus dem Café laufen. Was war das gewesen?
An diesem Tag fluchte ich mich noch durch den erwähnten Elektromarkt und kaum war das Telefon eingestöpselt schellte es. Ziemlich schrill. Was für einen Scheiße hatte ich gekauft? Meine Mutter. Sie abzuwehren dauerte eine gute dreiviertel Stunde. Danach war ich genervt und entschloss mich in meine Badewanne zu legen und die Welt zu vergessen. Ich liebe solche Tage.
Er endete damit, dass meine Burg belagert wurde. Fast die gesamte Nacht hindurch hockten ein paar Freunde bei mir. Ich machte drei Kreuze als sie raus waren.

Meine Burg. Eine chaotische Burg, regiert von meiner chaotischen Person, Herr über Trümmer eines verschissenen Lebens. Meister der Scherben zerbrochener Beziehungen, die nackte Wände und Lücken in der Bemöbelung hinterlassen hat. Ha, ich bin mein eigener Herr! Immerhin etwas. Meine Burg. Mein Kaffeewasser und meine Badewanne!
Zwar alles etwas unaufgeräumt, aber MEINS. Und wieder einmal fragte ich mich, warum ich mir keine Spülmaschine zugelegt hatte. Donnerte die Tassen auf die Spüle. Durfte einige Scherben einsammeln und sah finster in den wolkenverhangenen Tag hinaus. Wenn das so weiterging, würde ich mich noch nackt von der nächsten Teppichkante stürzen.
Den Sonntag verbrachte ich damit, das Geschirr zu spülen. Eine Schneise durch das Chaos zu pflügen. Ich schob nur zur Seite. Dann suchte ich was und wieder fluchte ich. Zu laut für meine Nachbarin von unten. Säuerlich sprang ich donnernd auf dem Boden umher. Brüllte und dann war Ruhe im Haus.
So was nervt. Der ganze Tag nervte. Die ganze folgende Woche nervte. Unser Projekt nervte. Meine Freunde nervten. Ich nervte mich schon selbst, mit dem Genervtsein. Ein herrlicher Zustand aus Verwirrung, ätzender Laune und zotiger Flüche. Das hält einem die Leute vom Hals.
Bis zu einem weiteren Samstag. Das Wetter hatte sich spontan umentschieden zu fröhlichen Sonnenschein. Es war freundlich und sogar dieser gelbe Ball am Himmel taucht unvermutet auf.

An diesem Morgen warf ich zwar keinen Bücherstapel um, dafür riss ich den Zeitungsstapel mit. Vier Wochen Tagenszeitung breiteten sich vor mir aus. Inklusive Werbebeilagen und zwei Pizzakartons. Die natürlich ihre Krümel auskotzten. Habe ich schon erwähnt, dass ich Samstage hasse? Seit diesem Tag ist es definitiv so.
Ich stieg mürrisch über sie hinweg. Rutschte aus und hätte mich fast hingelegt. Aber nur fast. Ich riss einen Vorhang halb ab, der mich eh die ganze Zeit genervt hatte Ausnahmsweise schluckte ich den Schrei des Hasses hinunter. Unter mir blieb es ruhig.
Ich ging an diesem Vormittag raus. Etwas Luft schnappen. Im Hausflur unten rannten mich die Nachbarskinder fast um. Egal, sagte ich mir. Sie müssen rennen. Es sind Kinder.
Die Luft kühlte mich ab. Ich spazierte eine Weile die Straße hinunter. Zog mir neue Zigaretten und sah sie auf der anderen Straßenseite. Sie stand da und unterhielt sich mit jemand. Ihr Lachen hörte ich bis auf meine Straßenseite. Ich ging hinüber. Sie lächelte mich an. Nein, sagte sie mir, heute hätte sie ihre Äpfel im Griff. Ich lachte. Man müsse mir ja auch nicht immer alles vor die Füße werfen, antwortete ich amüsiert. Verschwendete einen Gedanken an mein Durcheinander und fragte mich, ob sie allein leben würde.
Sie entschuldigte sich für ihr überstürztes Verschwinden einen Samstag zuvor. Sie hätte ein Date fast völlig vergessen und da sie eine Schlampe par excellence sei, mußte sie noch aufräume. Sie hasse es, wenn Besuch in ihr Chaos stolpern würde.
Ich mußte grinsen. Sie erinnerte mich an jemanden, der fast genauso kompliziert redete. Wir wiederholten das Kaffeetrinken. An diesem Samstag hatte sie Zeit.

Aus dem Kaffetrinken ist in der Zwischenzeit mehr geworden. Jetzt im Spätsommer, nach gut vier Monaten, haben wir uns ziemlich gut kennen gelernt. Ich habe sie noch nicht besucht. Sie mich auch nicht, aber es stört uns gar nicht. Wir sehen uns fast jeden Sonntag. Machen Fahrradtouren oder Picknick. Meine Freunde halten mich schon für spinnert. Ich lasse das Projekt sausen für eine Frau, die ich nur als gute Freundin ansehe. Sie ist nicht mehr für mich. Aber auch nicht weniger.
Gestern haben wir wegen Dauerregens das Treffen verlagert. In ihr Frühstückscafé. Sie meinte, es wäre auch recht nett. War es auch. Wir haben da gesessen und Touristen angegafft und hatten Spaß dabei.
Sicherlich, wenn ich mich jetzt nicht am Riemen reiße bekomme ich Ärger von meinen Freunden. Der Termindruck kommt langsam in Sicht. Ich lasse es einfach auf mich zukommen.

PS.
Heute ist wieder Samstag. Ich habe noch einmal diese Gedanken übergelesen. Natürlich habe ich mir Kaffee über den Ausdruck gekippt, als ich nach einem Kuli gesucht habe. Fluchend einen weiteren Stoß Papier durch mein kleines Zimmer verteilt und einige Augenblicke später den Benjamin (Baum) hinter mir umgehauen. Und natürlich quäkt meine Nachbarin von unten. Chaos!
Irgendwo in diesem Chaos habe ich die Telefonnummer meiner Bekannten vergraben. Irgendwo tief in meinem Chaos. Ich muss mal suchen. Wenn ich heute nicht raus komme, reiße ich noch die ganze Bude ab.
 



 
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