Isolation der Wirklichkeit

Metatron

Mitglied
„Take care of yourself!“, hatte er mir zum Abschied ins Ohr geflüstert. Dabei berührten seine samtweichen, blutdurchflossenen Lippen mein linkes Ohrläppchen. Er sprach Leise, fast durch die Zähne redend und mit angsteinflössender Traurigkeit, die in mir Gänsehaut verursachte. “The same to you!” Ich blutete. Schmerzende Messerstiche überall in meinem Körper.
Ich umarmte ihn nochmals was weiß ich wie oft ich das nun schon getan hatte. Mein Gott, wie hasste ich Abschiede und besonders von ihm. Da war es, das erwartete und wie immer viel zu früh ertönende Pfeifen
des Zugführers. Er stieg in den Wagon und nahm an einem Fenster platz. Ich blickte ihm in seine traurig blauen Augen und dabei lächelte er. Der Zug setzte sich in Bewegung und er formte seine Lippen zu einem „Take care of yourself!“ Dabei zerfiel ich zu Staub. Der Wind blies jedes Einzelne Staubkorn fort und er fing sie auf. Alle, oder zumindest fast. Wir waren zwei Singvögel, die der Abenddämmerung entgegenflogen.
Ich stand wie angewurzelt. Mein, „The same to you!“, lag wohl außerhalb seines Blickfeldes. Ich sah dem Zug noch lange hinterher, obwohl er schon längst hinter dem Horizont verschwunden war. „Hinter’m Horizont geht’s weiter...“, hallte es in gleichbleibendem Rhythmus durch meine Gedanken.
Mag sein, aber meiner war leider da Zuende, wo die Strommaste das Feld berührten und der goldgelbe Raps in der Dämmerung verschwand. Und seiner begann wohl ziemlich wahrscheinlich genau dort.
Es war ziemlich Spät an einem Sommerabend. Die Sonne war gerade dabei von der Erde verschluckt zu werden und der klassische Geruch eines Spätsommerabend lag in der Luft. Doch heute war irgendwie alles anders. Der Bahnhof war leer. Nur eine einzige Person lehnte noch am, vom Rost und Zahn der Zeit zerfressenen, einmal blau gewesenen Geländer und schaute wehmütig der Dämmerung entgegen, die ihre Flügel über dem Land ausbreitet. Was hatte ich auch besseres zu tun?
Ich kreiste um das Geländer und stützte dann meine Ellenbogen auf die Eisenstange und ließ den Kopf in die Hände fallen. Das tat gut. Ich hatte Schmerzen, überall. Schmerzen, die nicht einmal von einer Überdosis Morphium gestillt werden konnten. Und die schwüle, zum Glück langsam abklingende, Wärme, tat ihr übriges.
Mückenschwärme tanzten ihren Fandango im Schutz der nahem Bäume. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust, spürte man doch, wenn man ganz still stand und in Richtung des Waldes sah, die frischen, wohltuenden Winde, die der Herbst als seine Vorläufer in unsere Richtung sendete. Das Bild, seiner ach so traurigen Augen und dem Lächeln kreiste durch meine Gedanken. Jedes Einzelne Bild brannte sich in mein Gehirn. Eine graue Taube ließ sich neben mir nieder und gurrte. Falls sie sich etwas zu Fressen erhoffte, musste ich sie leider enttäuschen, mir knurrte ja selbst der Magen. Wenige Augenblicke später verwandelte sie sich und fiel tot von der Stange. Ist für sie sicher das Beste. Ich wünschte, ich wäre eine Katze.
Ich lenkte meine Schritte der Bahnhofshalle zu. Doch, auch die, war an diesem Tag wie leer gefegt. Die Hände in den Hosentaschen versenkt und den Kopf zwischen die Schultern gezogen trat ich meinen Heimweg an.
Verdammt wie hasste ich Sonntage, ließen sie mich doch immer wieder in einen melancholischen Halbkoma fallen. Gedankenverloren lief ich die Allee hinab. Weder ein Auto, noch ein Fußgänger oder Radfahrer überholten mich. Geschweige denn wurde von mir überholt. Das war bei meinem stetigen Schlendertempo kein Wunder. Ich sehe es ja ein, normale Menschen liefen Sonntag Abend nicht auf der Strasse herum.
Inzwischen waren seit Abfahrt des Zuges schon wieder 2 Stunden vergangen. Und noch immer dachte ich an die tiefblauen und doch so traurigen Augen. Jeder Abschied ist ein Abschied für immer. Und so wird es wohl immer
bleiben. Ich bezweifelte, die Person, die ich heute wehmütig im Zug sitzen gesehen habe jemals wiederzutreffen. Gehen doch immer die schönsten unsere Gedanken verloren. Wenn ich meine Augen nur endlich öffnen würde, ich werde im Tränenfluss ertrinken.
Ich schloss die Tür zu meiner Wohnung auf , ließ die Sachen in Flur fallen und schmiss mich auf die einsturzgefährdete Couch. Es tat gut, meinen Kopf auf ein Kissen legen zu könne. Das linderte sowohl die Gedanken, als auch die Schmerzen. Mein Blick glitt über die Wand und die unzähligen Bilder. Wohl aus glücklichen Tagen. Mein großes, blaues Lieblingsposter hing etwas schief. Wir hatten es damals, als ich in meine Wohnung gezogen bin selbst gemacht. Das wichtigste war drauf, die Fotos von uns. Reliquien einer längst vergangenen Epoche. Lächelnd.
Dann kam er endlich zurück und wir liebten und, kratzten dabei unsere Schatten zu Tode. Wir sprangen in einen See aus schwarzem nichts. Meine Blick fixierte seine Tiefblauen Ozeanaugen. Verträumt in Vermischung mit dem Schrei nach Liebe.
Ich kenne ihn eigentlich schon ziemlich lange, ja, ich liebe ihn. Eben auf meine ganz eigene Weise. Und er mich. Auch wenn mir jeder einreden wollte, dass er nicht gut für mich sei. Am meisten fesselten mich, wie schon gesagt, seine immerblauen Pazifikaugen. Trotzdem waren sie zu der Zeit noch etwas anders. Vielleicht fröhlicher, entspannter und unbeschwerter. Aber das brachte die Zeit mit sich, es gab keine Dinge, die sie nicht zerstörte. Ich hörte „Downtown“. Don’t hanging around. Meines war schon lange eingestürzt.
Und mein Magen knurrte und Geld hatte ich nicht. Aber ich musste noch bis Freitag über die Runden kommen. Dann kam er wieder zurück. Dann würden sicher bessere Zeiten bevorstehen. Schwor ich mir jeden Sonntag.
Ich bekam Besuch. Meine beste Freundin, die Angst legte sich um meinen Köper wie ein eiserner Panzer.
Aber ich war wenigstens nicht allein. Jetzt liebten wir uns heiß und innig die ganze Nacht, bis zum Morgengrauen, dann verließ sie mich und ich war wieder allein. Einsam, alles an was ich mich klammerte war das Poster mit dem Bilder der fröhlichen Augen. Ich weinte. Doch seine Augen wurden davon nicht glücklicher. Meine Freundin die Angst war gleich wieder zur Stelle. Klotz am Bein, nicht allein. Ich wollte sein Augen wieder lachen sehen. Ich wollte ihn hindern, immer zu fahren. Ich weinte und meine Freundin tröstete mich. Es war keine Lösung, was er tat. Doch es war das Beste. Für ihn, für mich und alle beteiligten. Ich wusste, dass ich ihn nicht wieder sehen würde. Es war zuviel-
Die nächsten fünf Tage stand ich an seinem Grab, von frischer, dunkler Erde bedeckt. Ich war der einzige Besucher. Ich wollte nicht, dass ihn jemand sah. Er war meine. Mein Schatz. Und seine Juwelen glänzten. Ich war allein. Er hatte meine Freundin mit sich genommen. Man Schaufelte den Sarg zu und ich erstickte dabei. Auf dem Heimweg sprang eine Katze vom Fensterbrett, begann zu fliegen und zerfiel in tausend Teile. Ich machte mir nicht die Mühe, sie wieder aufzusammeln.
Am Freitag stand ich wie gewöhnlich wieder am Bahnhof und wartete auf ihn. Seine traurigen Augen begrüßten mich. Ich wollte sie wieder glücklich sehen. Diesmal lies ich ihn nicht mehr gehen und Band ihn an mir fest. Je öfter er riss, umso stärker verbunden wir uns. Wir ernährten uns von Unerfahrenheit.
War sie immer dabei. Ließ und nicht aus den Augen. Ich wollte die Zeit anhalten, doch der Versuch misslang und wir begannen zu schweben. Ich träumte. Und er fing meine Träume auf um sich darin einzunisten. Wie ein Vogel in den Baumkronen. Ich suchte das Loch in der Wand, doch was ich fand, war der Blick in die Vergangenheit. Das nächste Durchschlupf, war so klein, dass wir nur mit Mühe hindurchkrischen konnten und dann fielen wir rückwärts in einen Fluss aus Selbstmitleid. Der Realität entschwonnen trieben wir in einem Ozean der Tränen. Und die Katze war mit von der Partie. Wenig später ertranken wir, weil wir vergessen hatten zu schwimmen. Und seine Augen waren fröhlich, in ihnen spiegelte ich mich, doch was ich sah, war eisige Leere und leblose Schatten.
Es ist Sonntag.
 



 
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