Ja. Witzig.

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Nelinett

Mitglied
Du schlägst die Augen nieder. Wir haben uns schon so lange nichts mehr gesagt. Du fühlst dich unbehaglich und rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her. Nervös schaust du aus dem Augenwinkel zum Fenster, hinter dem du doch nichts siehst, weil es schon dunkel draußen ist. Deine Cola hast du nicht angerührt. Ich habe sie extra für dich aus dem Kühlschrank genommen, obwohl mein Vater vermutlich sauer wird, wenn er merkt, dass sie ausgetrunken ist. Ich habe ihn nicht gefragt aus Angst, er könnte Nein sagen.
Ich weiß nicht richtig, wie ich beginnen soll und greife nach meinem Glas und trinke. Die Cola prickelt auf meiner Zunge ohne, dass ich sie schmecke. Während ich das Glas zurückstelle, überlege ich, was ich sagen soll. Ich muss anfangen, bevor ich aufgebe.
Das Schweigen dröhnt in meinen Ohren und die ungesagten Worte schwingen darin mit. Mir wird ein bisschen übel.
„Wie geht es dir denn so?“, frage ich und komme mir völlig bescheuert vor. Aber ich bringe es nicht fertig, einfach so direkt zu fragen: „Was war los das ganze Jahr? Was?“ Mal davon abgesehen, dass meine Freundin nicht gewusst hätte, was sie darauf antworten sollte.
„Ja, geht so. Wie immer. Und dir?“ Justine hebt den Blick und lächelt mich verlegen an. Sie weiß, worum es geht. Wir wissen es beide. Eigentlich Schwachsinn, dass wir drumherum reden.
„Ja. Auch.“
Ich spüre mein Zögern. Meine Worte hängen in meinen Stimmenbändern fest und spulen sich vor und zurück. Nur auf die Zunge, dahin gelangen sie nicht. Dort, wo sie hin müssen. Auf meine Zunge.
Ich weiß ganz genau, dass ich keinen Rückzieher machen werde. Ich würde es bitter bereuen, ganz bestimmt. Ich würde im Bett liegen und ein schales, schmerzendes Gefühl würde in mir zurückbleiben, als hätte Justine meine gesamten Organe mitgenommen.
„Ja.“, sage ich und lache, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, obwohl ich mir darüber im Klaren bin, dass es ein Versuch ist, bei dem ich von Anfang an weiß, dass er natürlich nicht klappt. Darum geht es ja auch gar nicht. Es geht darum, dass ich nicht so verlegen sein will. „Was ist letztes Jahr passiert, dass es dir so schlecht ging?“
Justine grinst gequält. „Das ist eine lange Geschichte. Nicht so wichtig eigentlich.“ Nicht so wichtig.... Meine Freundin macht mich ganz verrückt mit diesem: Nicht so wichtig. „Also ich würde es an der Stelle von jemand anderem nicht wissen wollen. Mich würde das nicht interessieren!“, sagt sie immer. Und manchmal würde ich sie am liebsten anschreien: „Du weißt ganz genau, dass es mich interessiert! Ich will es wissen! Weil du meine beste Freundin bist! Weil ich dir helfen möchte!“ So und so ähnlich habe ich es auch schon oft erwidert. Doch mein Ton war immer nett und freundlich.
Wie zwei Fremde gehen Justine und ich miteinander um, wie wir so reden und still sind. Als würden wir uns nicht viel zu sagen haben und nur darauf warten, dass unsere Männer, die sich sehr gut verstehen, vom gemeinsamen Rauchen draußen vor der Tür wiederkommen.
Ich will gerade dazu ansetzen, zu sagen, was ich immer sage, wenn Justine meint, es sei nicht so wichtig, da springe ich um. Wie von einem fahrenden Zug auf den nächsten. „Was?“, sage ich nachdrücklich. Und mit einem Lächeln. Ich will sie nicht in die Ecke drängen. Natürlich ist es längst zu spät. Sie hat sich von Anfang an in die Ecke gedrängt gefühlt, wie ein Raubtier, dass man zu fangen versucht, und vor dem nun zehn schwarze Buschmännern mit Pfeil und Bogen, Speeren und einem Käfig sitzen. Justine spielt mit den Kordeln herum, die zum Sofa gehören.
Sie sieht mich nicht an, als sie entgegnet: „Ich kann darüber nicht reden. Ich kann es einfach nicht.“
„Ich weiß, wie schwer das ist“, sage ich und ich weiß es wirklich. Es ist abgespeichert, irgendwo zwischen Herz und Lunge, vergraben in der riesigen Fundgrube der Gefühle, im Moment kann ich das Verständnis einfach nicht finden, und deshalb bin ich nicht verständnisvoll, sondern eher ungeduldig: „Irgendwann musst du drüber reden. Sonst macht dich das noch völlig kaputt. Ich hab das auch geschafft, du schaffst das auch!“
Was weiß ich schon von ihren Dingen und sie von meinen? Ich habe nicht das Recht, so hart über sie zu urteilen. Vielleicht würde ich genauso reagieren, wenn ich genau in diesem Moment in ihrem Körper sitzen würde, dort, auf der hellroten Couch. Ja, vermutlich würde ich das. Aber ich bemühe mich noch nicht einmal, besonders einfühlsam zu sein. Ich spule Standardphrasen ab, immer wieder und wieder. Ich will endlich die Wahrheit wissen.
„Ja, aber... Ich kann das nicht! Sorry, ist aber so!“, sagt Justine unwirsch und sieht mich fast böse an. Und in ihrem Gesicht sehe ich das in die Ecke gedrängte Raubtier und die Trauer und Wut, die sie in all den beschissenen Stunden herausgeheult hat. Was ist bloß passiert?
Wieder habe ich keinen Schimmer, was ich erwidern soll.
„Erzähl doch einfach.“, sage ich.
„Ja. Witzig.“
In meinen Eingeweiden beginnt es unangenehm zu kribbeln. Ich bin mit der Situation einfach hoffnungslos überfordert. Ich bin schließlich kein Psychologe! Wie peinlich, wenn das Gespräch heute nichts bringt. Ich habe es bei Nora groß angekündigt, könnte man so sagen. Ich habe angekündigt, ich würde herausfinden, was geschehen war, dass Justine ein Jahr lang nur traurig war. Und ich kam mir gut dabei vor. Jetzt komme ich mir überhaupt nicht mehr gut vor, sondern wünsche mir, dass ich das alles nie angeleiert hätte.
Ich beschließe, das, was ich weiß, auf den Tisch zu packen. Stück für Stück. Wie Pakete unter dem Weihnachtsbaum auspacken.
Ich räusper mich, weil die Worte hinter meinem Kehlkopf feststecken. „Das einzige, was ich gehört habe ist, dass eure Oma irgendwie gestorben ist. Und Janina... Selbst Janina wusste, dass bei euch in der Familie etwas nicht stimmt. Sie hat davon gehört, dass eure Mutter abgehauen ist oder so etwas, hat sie zu mir gesagt. Und.. ja. Also Nora und ich haben irgenwas in die Richtung vermutet. Also Probleme in der Familie. Weil du und deine Schwester ja auch so gute Freunde, sag ich jetzt mal, auf einmal geworden seid.“
Justine schweigt.
Ich warte und fühle mich stumpf.
„Jaaaa...“, sagt meine Freundin schließlich nur. „Mag ja alles sein. Aber inzwischen ist es zehn Uhr. Ich glaube, meine Mutter kommt gleich.“
Sie flieht.
Ich fühle mich vor den Kopf gestoßen. Und verletzt, weil ich ihre Freundin bin und sie mir auch nach zwei Jahren noch nicht sagt, was passiert ist und jetzt einfach geht. Ich spüre das Verlangen, um den Tisch herumzurennen, sie am Kragen zu packen und zu schütteln und ihr links und rechts was auf die Ohren zu geben.
Ich winke ihr nach, als sie die Treppe zur Einfahrt hinuntergeht. Dann gehe ich auf mein Zimmer. Von dort aus kann man auf die Straße sehen. Nach einer halben Stunde gehe ich auf die Toilette und putze mir die Zähne. Justine steht immer noch und wartet in der Kälte. Dreißig volle Minuten habe ich in der Dunkelheit gesessen, in meinem Zimmer, und habe geschaut, ob Justines Mutter tatsächlich kommt. Als ich bettfertig bin, steht meine Freundin immer noch da. Ich sehe sie von hier oben aus zittern. Es soll in der Nacht Frost geben, hat man im Radio gesagt. Ich öffne so leise ich kann, damit Justine es möglichst nicht mitbekommt, das Fenster. Dann lasse ich, ebenso leise, das Rollo hinunter. Als ich das Auto höre, schaue ich auf meinen Wecker. Dreiundzwanzig Uhr zehn. Ihre Mutter ist ein bisschen zu spät, wie immer. Alle in ihrer Familie sind so. Alle in ihrer Familie kommen ein bisschen zu spät. Das Auto fährt weg und in mir bleibt nur ein dumpfes Gefühl. Eine Mischung aus Versagen und Traurigkeit. In meinem Magen sind wieder einmal schwere Steine. Wenn ich nur an Morgen denke.
 



 
Oben Unten