Jake against the machine

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Vorwort:
Die Idee verlangt eigentlich noch eine wesentlich tiefer gehende, wahrscheinlich längere Ausarbeitung.
Dieser erste Ansatz diene als Überlegung, um erste Stärken und Schwächen der Idee aufzuzeigen.
Der philosophische Gedanke, der die Geschichte "trieb", ist noch nicht enthalten, träte aber bei einer Bearbeitung hinzu und würde wahrscheinlich fast die gesamte erste Hälfte überflüssig machen.

In der Geschichte geht es um Zeitverschiebungen. Also aufgepasst, was eben noch wahr war, kann bald schon unwahr sein.






JAKE AGAINST THE MACHINE


Tief unter der Erde drehte sich ein Uhrwerk, das die Zukunft bestimmte. Ein Zahnrad, eingebunden in eine gewaltige Maschine, gab jede Sekunde ein leises Klickgeräusch von sich,
wenn es sich langsam vorwärts drehte.
Jedes Klicken – ein Griff in die Eingeweide der Zeit:
Für die Leber, einen Apfel,
für die Nieren, Zwiebeln und Karotten –
„Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft.“


Auf der Oberfläche schneite es. Jake klappte den kleinen Fellkragen seiner zerschlissenen Jeansjacke in die Höhe und steckte seinen Kopf mit den ungewaschenen, zerzausten Haaren für einen kurzen, ungemütlichen Augenblick aus der Öffnung seines Wohnungskartons.
Viel weiter oben, auf die Wolkenkratzer, die die dichte, schmutziggraue Wolkendecke durchbrachen, schien die Sonne mit ihren warmen, lebendigen Strahlen. Jake sah in die Höhe und verzog das Gesicht, als das Schneetreiben dichter wurde.
Sein Kopf verschwand wieder im Inneren den Wohnungskartons.
„Wie ist das Wetter?“ Ein Mädchen mit blonden, abstehenden Haaren kuschelte sich gegen Jakes Rücken und klappte ihm den Fellkragen herunter.
„Fantastisch!“ Jake drehte sich grinsend um. „Gehen wir in den Park?“
„Sonnenbaden?“
„Nee.“ Jake kramte seinen antiken, mit Panzertape umwickelten Walkman hervor. „Ich dachte da eher an ein bisschen Musik.“
Das Mädchen verdrehte gelangweilt die Augen.
„Musik ist doch out.“
Jakes Mund klappte auf, und wie als wollte er etwas beweisen, drückte er den Playknopf. Sofort erklang Musik aus den kleinen Ohrenstöpseln, die er sich um den Hals gehängt hatte. Als das Mädchen sich halb von ihm wegdrehte, stand Jake wortlos auf und hob mühelos den etwa zwei Kubikmeter großen Pappkarton in die Höhe.
„Ich dachte, wir verstehen uns“, sagte er eisig. Ein kalter, Schneedurchsetzter Wind fegte mit einem Mal die gesamte Wärme aus dem Wohnkarton. Das Mädchen umklammerte ihre Arme.
„Du Wichser kannst mich nicht einfach so rausschmeißen!“, protestierte sie. „Ich hab im Voraus gezahlt!“
„Zieh Leine“, antwortete Jake trocken und zog sich einen verknitterten, schmutzigen Geldschein aus der Unterhose. Er ließ ihn fallen. Der Wind erfasste ihn und riss ihn mit sich fort.
„Wichser!“, schrie das Mädchen auf und stürzte plötzlich dem Geldschein hinterher.
Jake schnappte sich ihre Sachen und warf sie zur Seite. Dann setzte er sich mit dem Wohnkarton auf seinem Kopf wieder auf den, mit seiner Wolldecke abgedämmten Boden.
Ohne sich weiter mit der Sache zu beschäftigen, steckte er sich die Ohrstöpsel in die Ohren und drehte am Lautstärkerädchen.
Als das Mädchen verzweifelt an das Äußere des Wohnungskartons klopfte, hörte das Jake schon nicht mehr.
Jake nickte.
Jake hörte jetzt Musik.

Wie Jake von der Maschine erfuhr?

Soweit Jake wusste, waren es jetzt genau fünfzig Jahre her, seit sie den letzten Radiosender dicht gemacht hatten. Jake dachte manchmal eher mit einem zwiespältigen Gefühl darüber nach. Sie hatten damals ohnehin nur noch Mist gespielt. Elektronischer Kram, den kein Mensch mehr aushielt, weil er wie Cornflakes und Kartoffelchips als Suchtmittel konzipiert worden war. Die meisten hatten damals die Phase der großen Enthaltsamkeit mitgemacht und sich von allem losgesagt, was sie von irgendwas abhängig machen konnte.
Na klar war es Blödsinn gewesen! Die alte Welt hörte praktisch wie mit einen Schlag auf zu existieren. Keine Cornflakes mehr, keine Kartoffelchips – keine Musik. Die alten Firmen, die alten Strukturen, die alten Medienimperien, alle wurden sie nach und nach eingestampft.

Es war an einem verschneiten Junimorgen gewesen, als Jake wieder mal durch die fast menschenleeren, von Sicherheitskameras überwachten Hochhauslabyrinthe gestapft war. Ein paar einsame Sonnenstrahlen hatten sich irgendwie durch die schmalen Hochhausschluchten in die Tiefe verirrt und tauchten die Fußgängerzone in ein milchiges, melangenes Licht – ein Mischmasch aus Polizeirundumleuchten und brennenden Mülltonnen.
Jake war an einer Mülltonne stehen geblieben und hatte sich mit einem alten, langhaarigen Kerl auf das Thema Musik eingelassen. Er war überrascht gewesen, was der Kerl alles über die Neunzehnhundertachziger wusste. War sozusagen ein richtiger Hardrockexperte gewesen.
Sie spielten gerade Henry Rollins´ Disconnect auf ihren Hochfrisierten Elektroluftgitarren, als eine Polizeistreife neben ihnen auf den Fußgängerweg donnerte und ihnen die Luftgitarren mit ihren hochdruck-metan-Antrieben aus den Händen riss.
Natürlich zeigten sie sofort ihre Aufenthaltsgenehmigungen vor! Auch die Arbeitserlaubnis. Nur dass die ungefähr genau so wirklich waren wie ihre Luftgitarren.
Der langhaarige Kerl, mit dem sich Jake über Musik unterhalten hatte, sah das nicht ganz so eineindeutig. Seine bildgewaltigen Ausführungen über die Vor und Nachteile des Sozial(Luftguitarren)systems führten bald dazu, dass sich die beiden Polizisten auf eine recht persönliche Diskussion mit ihm einließen.
Jake hasste Diskussionen, bei denen es, wie bei der Frage nach der Unendlichkeit des Universums, am Ende immer zu einem Streitgespräch führte.
Kurzerhand nutzte er die Situation, hechtete nach vorn und saß plötzlich im Inneren des Polizeifahrzeugs. Die Türen verriegelten sich automatisch, als er den Knopf für den Notalarm drückte. Gelassen steckte sich Jake die Ohrenstöpsel seines Walkmans in die Ohren und schloss die Augen. Die beiden Polizisten gaben mehrere Schüsse auf die Panzerverglasten Scheiben ab, bis einer von ihnen plötzlich, vom eigenen Schuss getroffen, zusammenbrach.
Wie schon gesagt, Jake hasste es, wenn es zum Schluss immer auf ein Streitgespräch hinauslief. Ein paar unsichere Versuche genügten, um den Anlasserknopf zu finden. Ruckend hob das Fahrzeug einen halben Meter in die Höhe und schleuderte den zweiten Polizisten zu Boden, als Jake versuchte, eine Kehrtwendung hinzulegen. Jake kratzte sich am Kopf.
„Hoppla!“
Der Polizist kam wieder auf die Beine und riss sich wankend ein Funkgerät aus dem Gürtel. Jake sah ihn an und steckte konzentriert die Zunge heraus.
„Mal sehen, wo man hier Gas gibt.“
Ein einziger Fußdruck genügte, um Jake wie eine ausgepresste Orange in den Fahrersitz zu quetschen. Der Polizeiwagen schoss schlingernd in die Höhe.

Nur ein paar Sekunden später nahm Jake atemlos den Fuß vom Pedal und sah zum ersten Mal: die Sonne!
Und als Jake auf seinem Walkman auf Radio schaltete, Radio hieß, dass der Walkman auf Standby war, da hörte er plötzlich
dieses seltsame Klicken und diese Stimmen, die seltsam unmenschlich und teilnahmslos aus den Ohrstöpseln seines Walkmans klangen.

Als Jake lange genug zugehört hatte, wusste er genug, um Geschichtsbücher für zwanzig oder mehr Paralleluniversen zu schreiben.
„Verdammte Scheiße!“, sinnierte er, als er in den Rückspiegel schaute und sah, wie eine ganze Horde von Polizeifahrzeugen durch die Wolkendecke brach.
Jake schaltete per Knopfdruck auf Schub.
„Neuer Versuch.“, sagte er und steckte wieder sehr konzentriert die Zunge aus dem Mund.
Auf seinem Walkman schaltete er auf Play, volle Lautstärke:

„I am so civilized!“


Das war jetzt irgendwie schon eine ganze Weile her. Jake hatte sich mit ein paar Nutten herumgetrieben, um an das große Geld zu kommen. Sie hatten ihn alle ganz nett gefunden, bis er es nicht mehr ausgehalten hatte und sie den ganzen Tag, von früh bis spät, mit Musik zugequatscht hatte. Die letzte hatte sich heute Morgen aus dem Staub gemacht.
Oder halt. Jake hatte sie rausgeschmissen, richtig. Aber das lief auf dasselbe hinaus.
Hatte er sie eigentlich rausgeschmissen, weil sie seine Musik nicht mochte? Jake sah sich verstohlen um und betrachtete lange die eingeschneite Straße. Es war niemand zu sehen.
Jake bog in eine kleine Nebenstraße ein. Der Schnee, der vom Himmel in die Hochhäuserschluchten eindrang, wurde dichter.
Hatte er vielleicht schon in der Nacht zuvor geplant, sie los zu werden? Jake überlegte, wie lange er jetzt eigentlich schon daran dachte, unter die Erde zu gehen.
Er hatte seine Zeit nicht nur im Strichermilieu verplempert. Er war herumgekommen, hatte einiges gesehen: geheime, stählerne Türen, seltsame Absperrungen an Straßen, an denen offensichtlich gar nicht gebaut wurde, verschweißte Gullydeckel auf bis zum Rand mit Beton ausgegossenen Kanalisationsschächten. Ihm war aufgefallen, dass fast alle Kanalisationsschächte mit Beton aufgefüllt waren.
„Sackgasse“, las Jake auf einem verrosteten Straßenschild, das auf einem fast rechtwinklig geknickten Metallrohr steckte.
Am Ende der Straße angekommen, man hatte einen Wolkenkratzer einfach mitten auf die Straße gebaut, ging er zu einer der Häuserfronten und kniete sich auf den Boden. Er zog ein langes, massives Eisenrohr aus der Innenseite seiner zerschlissenen Jeansjacke und schob sie in eine der Öffnungen, eines im Boden verankerten Gullydeckels. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen das Rohr, bis es ein lautes Knacken gab.
Jake zuckte zusammen. Er blickte über seine Schulter. Der Schnee war jetzt so dicht, dass er kaum zwanzig Meter weit sehen konnte. Als er sich beruhigt wieder zurückwandte, sah er, dass sich der Gullydeckel zur Hälfte aus dem Kanalisationsschacht gedreht hatte.
Jake sah in ein tiefes, schwarzes Loch.
„Fast alle.“, flüsterte er und wickelte sich ein Seil von den schmalen Hüften. Langsam ließ er es in die Tiefe hinab. Er befestigte das Ende an einem der oberen Löcher des Gullydeckels und stieg so weit in den Schacht, bis er fast ganz darin verschwunden war. Er packte das Seil und als er sein Gewicht darauf verlagerte klappte der Gullydeckel krachend in die Öffnung zurück.
Jake fummelte die Ohrstöpsel aus seiner Jackentasche und nestelte sie sich mit der rechten Hand ins Ohr.
Play.
Jake glitt in die Tiefe.

Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts hatte ein Physiker in einem schwedischen Wissenschaftsmagazin die Vermutung geäußert, dass es in unregelmäßigen Abständen zu Veränderungen in der Zeitharmonie käme. Da er davon ausging, dass nur wenige etwas mit dem Begriff Zeitharmonie würden anfangen können, versprach er eine eingehende Abhandlung für die nächsten drei Ausgaben.
Leider wurden diese Abhandlungen nie veröffentlicht. Wie von Zauberhand war auch die Kagimuoro-Vermutung, wie sie zuerst genannt wurde, plötzlich aus der Originalausgabe verschwunden.

Kleine Anekdote aus der Vergangenheit:

„Man, Billy“, sagte Jake und nahm die Kopfhörer runter. „Diese CD wird einschlagen wie eine Bombe.“
„Wir werden Millionen damit verdienen.“ Billy grinste an Jake vorbei durch das schalldichte Glas in den Aufnahmeraum. Ein langhaariger Kerl mit einer selbst gebastelten Elektrogitarre spielte sich die Finger blutig und schrie dabei in das Mikro seine langweiligen, sozialkritischen Songtexte.
Jake legte sich die Hand auf den Mund und ließ sich ein müdes Gähnen entfleuchen.
„Idiot!“, sagte er und überlegte, was er mit dem ganzen Geld anfangen würde, das er mit diesem Kerl verdienen würde.
Billy schlug eine Zeitung auf und zeigte mit dem Finger auf einen Artikel.
„Wenn ich das richtig verstehe, sagen die hier, dass es so was wie Zeitreisen schon längst gibt.“ Billy schüttelte mit dem Kopf.
„Sie nennen es die Kagimuoro-Vermutung.“
Billy kniff die Augen zusammen, als plötzlich ein sehr helles, weißes Licht durch den Raum flutete.

Jake drehte sich fragend um.
„Was?“ Hatte nicht eben gerade jemand etwas von Zeitreisen erzählt?
Der Aufnahmeleiter klopfte gegen die schalldichte Glasscheibe und zeigte mit dem Finger auf seine Uhr.
„Hey Jake, das war schon sehr gut. Wir nehmen jetzt noch mal das erste Stück. Dann machen wir eine Pause.“
Jake nickte und versuchte sich an den Namen des Kerls zu erinnern. Richtig, der Kerl hieß Billy. War einer von diesen eingebildeten Kerlen, die immer in Wissenschaftsmagazinen herumblätterten, als würden sie davon auch nur ein Wort verstehen.
Jake drehte sich um und strich sich die langen, dunklen Haare zurück.
„Ok, im nächsten Song geht es um das Leid der Menschen aus der dritten Welt. Ich nenne es: Willkommen zu Hause“
Das Gitarrenplättchen in Jakes Hand blitzte im hellen Licht des Aufnahmestudios wie ein Diamant auf.
Jake liebte seine selbst gebaute Gitarre.

Unter der Erde sah es aus, wie in einer riesigen, wahr gewordenen Zukunftsvision von H.R. Giger. Es war nicht wirklich dunkel, obwohl Jake in dem Durcheinander von in und übereinanderlaufenden Stahlrohren fast keinen klaren Weg ausmachen konnte. Die Stahlrohre führten einfach überall hin!
Jake hatte eine unheimliche Lust auf LICHT. Auch wenn es nur das schummrige, irgendwie schmutzige Tageslicht an der Oberfläche gewesen wäre.
Jake erinnerte sich an die Sonne, die er in dem Polizeifahrzeug über den Wolken gesehen hatte. Die obersten Etagen, der sich bis zum Horizont erstreckenden Wolkenkratzerspitzen, waren von grünen, einladenden Gärten bedeckt gewesen. Jake erinnerte sich an das flackernde Blau der Polizeirundumleuchten, die in dem unter ihm liegenden Nebel aus Wolken und Abgasen immer deutlicher geworden waren.
Jake kratzte sich an der Stirn und machte sich auf den Weg. Er krabbelte über mehrere dicke Stahlrohre in denen es seltsam blubberte. Ein paar Mal stieß er mit seinem Kopf gegen dünne Metallrohre, die wie aus dem Nichts auftauchten. Jedes Mal hatte er das Gefühl, als hätte er sie vorher gesehen. Seltsamerweise war er ihnen aber nicht ausgewichen. Einmal stellte er sogar fest, dass er das Bein gehoben hatte, um über etwas hinweg zu steigen. Komischerweise war da aber nichts gewesen.
`Das waren die Zeitveränderungen´, schoss es Jake unvermittelt durch den Kopf. Als er damals über den Wolken den Walkman auf Radio geschaltet hatte, da hatte er es gehört. Die seltsamen Stimmen hatten davon gesprochen, was sie in der Zeit verändert hatten. Meistens sprachen sie über Leute, die Jake nicht kannte. Namen wie Margret Thatcher tauchten auf, Helmut Kohl, Jack Nicholson, the stuges. Was zum Teufel waren das für Leute? Von manchem wusste Jake dagegen. Zum Beispiel, dass Kennedy damals 74 mit Hitler den Kontinentalvertrag abgeschlossen hatte. Oder dass man 98 die Energieversorgung durch Öl weltweit auf Methan umgestellt hatte. Auch dass Anfang der Achtziger der Versuch eines durchgeknallten Amerikaners misslungen war, einen Computer herzustellen, den praktisch jeder benutzen konnte. Die Entwicklung der Großrechner war kurz danach zu seinem bis dato absoluten Höhepunkt gekommen.
Das Klicken, das Jake gehört hatte, stammte von einem dieser Großrechner. Es war möglich, dass von diesem Rechner auch die Stimmen kamen. Sie hatten sich nicht wirklich menschlich angehört.
Jake wollte gerade weitergehen, als er plötzlich stehen blieb. Vor ihm war der ganze Raum von Metallrohren verstopft. Er sah nach links und sah eine schmale Öffnung zwischen den Rohren. Als er sich durch die Öffnung hindurchgezwängt hatte, war die Öffnung wie von Geisterhand verschwunden.
Jake kratzte sich an der Stirn.
Wie zum Teufel war er hierher gekommen? Ach ja, jetzt erinnerte er sich. Er hatte sich an dem Seil herab gelassen und hatte sofort einen langen, hell erleuchteten Flur gefunden, dem er bis hierher gefolgt war.
Er betrachtete die Wand, die fast vollständig von großen und kleinen Metallrohrer durchzogen war.
„Sieht fast aus wie eine riesige, wahr gewordene Zukunftsvision von H.R.Giger.“, sagte Jake und grinste. Kurz danach hätte Jake nur noch dumm gekuckt, wenn man ihm diesen Namen genannt hätte.


Alles unter der Erde veränderte sich ständig. Nicht einmal Jake hätte genau sagen können, was sich veränderte. Es waren Kleinigkeiten, Dinge die man aus dem Augenwinkel sah. Meistens hatte Jake nur das unbestimmte Gefühl, dass es so war.
Wie oft war es ihm an der Oberfläche passiert, dass er sich den Kopf an einem Laternenpfeiler gestoßen hatte? Es war nicht wirklich oft gewesen. Aber hatte er den Laternenpfeiler wirklich nicht gesehen oder war er einfach vorher nicht da gewesen? Die Frage beunruhigte ihn. Was hatte sich tatsächlich verändert?
Jake stieg über schmale Leitern und Belüftungsschächte immer tiefer in die Erde hinab. Alle Gänge und Schächte schienen auf dieselbe schummrige Art beleuchtet. Jake konnte nirgendwo eine Lampe sehen. Das Licht schien aus den Wänden zu kommen.
In einem der unzähligen Schächte blieb Jake unvermittelt stehen. Er hatte eben gerade noch mit seiner Hand nach einem Geländer gegriffen. Jake hatte sein Gewicht darauf verlagert. Im nächsten Moment war das Geländer verschwunden und Jake kippte zur Seite und stieß mit dem Kopf gegen eine ganze Reihe von dünnen Metallrohren.
Jake hatte wieder das unbestimmte Gefühl, dass sich etwas verändert hatte. Er stand auf.
Er wusste, er hatte einfach nur das Gleichgewicht verloren.
Jake hatte plötzlich Angst.
Als ein heller, gleißender Lichtblitz den Raum durchzog, hielt er sich die Hand vor die Augen.

Könnten wir uns hinstellen und mit ansehen, wie sich die Welt unseres jungen Antihelden veränderte, so würden wir sehen, wie sich die Metallrohre in den Wänden wie Schlangen winden, wie sie sich organisch aneinander reiben. Wir würden sehen, wie Jake langsam verblasst und verschwindet und wie im selben Augenblick der schmale Gang, in dem er sich eben noch befunden hat, aufreißt, sich ausdehnt. Eine unsichtbare Kraft öffnet den Raum, wie zwei Hände eine riesige Flügeltür öffnen.
Plötzlich stehen wir mitten in einem riesigen, dreißig Meter hohen Saal. Säulen schießen wie Dolche aus Boden und Decke, wabern umher und treffen sich irgendwo zwischen oben und unten. Die Säulen fließen ineinander, bewegen sich nicht mehr.
Erste Schreie sind zu hören. Ein Geräusch, das erst klingt wie der lang gezogene Glockenschlag einer gewaltigen, klassizistischen Kathedrale, wird verformt, ändert sich, wird kürzer – wir hören, hörten wir?, einen Schuss, dann einen einzelnen Peitschenhieb, der kurz danach erklingt. Aus dem nichts tauchen hunderte von Menschen auf, aneinandergekettet, in den Händen Bottiche. Sie gehen geduckt.
„Scheller da vorn!“, schreit ein Mann in dunklem Overall und gibt einen zweiten Schuss in die Luft ab. An der Decke löst sich ein gewaltiger Brocken Gestein und stürzt in die Tiefe.
Die aneinander Geketteten versuchen dem Gesteinsbrocken auszuweichen. Duzende werden zu Boden gerissen, als der Brocken drei Unglückliche unter seinem Gewicht zerschmettert.
„Losschmieden!“, schreit der Mann in Uniform und dirigiert sofort zwei seiner Gehilfen in Richtung der schreienden Menge.

Jake keuchte. Er hatte sich über den Boden kriechend bis zu einem Felsvorsprung vorgearbeitet und war dahinter in Deckung gegangen.
`Diese verdammten Punks!´ Mit einer Hand umklammerte er einen am Boden liegenden Felsbrocken und machte Anstalten, ihn nach einem der Aufseher zu schleudern. Jakes Hand begann zu zittern.
„Ihr verdammten Punks“, flüsterte er und ließ die Hand sinken.
Jake zog sich wieder hinter den Felsvorsprung zurück. Im selben Augenblick drehte sich einer der Aufseher um und sah in seine Richtung.
„Lasst sie liegen“, schrie er den Männern zu, die bereits begonnen hatten, die Erschlagenen von den Eisenketten zu lösen. Jakes Kopf zuckte hinter dem Fels vor.
Der Aufseher sah ihm direkt in die Augen.
Und plötzlich war alles wie in Zeitlupe. Der Aufseher riss den Mund auf. Jake hob die Hand mit dem Stein. Der Aufseher zog die Pistole aus dem Halfter an seinem Gürtel und -
Jake warf!
Der Aufseher sah den Stein, wie er auf ihn zuraste. Er gab ein glucksendes Geräusch von sich, bevor der Stein seine Stirn traf. Plong! Der Aufseher wankte, die Pistole in seiner Hand polterte zu Boden, dann der Aufseher.
Für einen Augenblick herrschte Stille. Niemand schien etwas bemerkt zu haben. Die Angeketteten hielten ihre Blicke gesenkt und warteten auf den Befehl, dass sie ihre Arbeit fortsetzten. Die Männer, die die Erschlagenen losschmieden sollten, packten ihre Werkzeuge ein und wischten sich die blutigen Hände an ihren Overalls ab. Jake lugte hinter dem Felsvorsprung hervor und zog eine Augenbraue hoch.

Und plötzlich waren alle Augen auf ihn gerichtet. Jakes Augenbraue sackte runter, bis in seine Hose. Er sah zu dem am Boden liegenden Aufseher, zu den Männern in den Overalls, zu den Angeketteten. Die Männer in den Overalls sahen erst zu ihm, dann zu dem am Boden liegenden Aufseher und dann zu der Pistole. Jake sah die Pistole zuerst.
Und dann rannte er los. Die Männer in den Overalls zuckten ängstlich zusammen. Sie sahen sich gegenseitig an. Dann rannten auch sie. Der Aufseher war mitten in einer ganzen Hundertschaft von Aneinandergeschmiedeten zu Boden gegangen. Die Reihen der Gefangenen waren wie eine Hindernisbahn.
Jake dachte nicht darüber nach. Zwei alte, gebrechliche Frauen, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten, sahen ihn im letzten Augenblick aus den Augenwinkeln. Stöhnend gingen sie auseinander. Die Kette, die sie verband straffte sich und Jake sauste wie ein Hindernisläufer darüber hinweg. Zwei Männer mit Haaren, die ihnen bis auf die Schultern herabhingen, sahen ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen an, bevor Jake seine Hände auf ihre schmalen Schultern klatschen ließ und einen ansehnlichen Bocksprung über die sie verbindenden Ketten vollführte. Weiter – Jake sprang, hechtete, er packte eine straff gespannte Kette und ließ sich darunter wie unter einer Reckstange hindurchgleiten.
Noch drei Reihen!
Die Männer in den Overalls durchbrachen die Reihen der Gefangenen mit unerbittlicher Gewalt.
Noch zwei Reihen!
Die Gefangenen gingen vor den Männern in den Overalls wie Dominosteine zu Boden.
Eine!
Jake rutschte bis zu der Waffe und riss sie in die Höhe. Die Männer in den Overalls kamen kaum zwei Meter vor ihm zum Stehen. Keuchend grinste Jake sie an.
„Ich bin schnell, was?“, Jake zog eine Augenbraue hoch und nickte. „Sollte verboten werden.“
Die Männer in den Overalls sahen ihn ausdruckslos an. Einer von ihnen drehte den Kopf und öffnete den Mund. Jake konnte ein leises Klickgeräusch hören. Indem er die Augenbraue senkte, machte er vorsichtig einen Schritt zurück.
„Mach jetzt keinen Scheiß“, drohte Jake und entsicherte die Waffe.
„Zeitausgleich“, sagte der Mann im Overall, ohne ihn zu beachten.
Jake musste sich die Hand vor die Augen halten, als ein gleißendes Licht den gesamten Raum durchflutete.

Ein Hustenanfall ließ Jake erzittern. Blut. Jake spuckte angewidert auf den Boden.
„Verdammte Punks!“ Mit der Hand umklammerte er den Kragen seiner zerrissenen Jeansjacke und schleppte sich weiter durch die unterirdische Einöde.
Jake hatte diesen Husten, solange er denken konnte. Manchmal war es nicht so schlimm gewesen, da hatte er ihn fast vergessen und nur ab und zu geröchelt.
Doch dann war er wieder zurückgekehrt, mit all seiner Macht, mit seinen Krämpfen und seinem blutigen Vermächtnis. Jake hätte jedes Mal schreien können vor Wut und Schmerz. Und vor Wut und Schmerz hatte er damals geschrieen, als ihn die Polizisten gegen die Wand eines der Hochhäuser geschleudert hatten. Ein Hustenanfall jagte den nächsten.
„Arbeitserlaubnis her“, hatten sie geschrieen und ihm den Schlagstock in die Seite gerammt.
Jake hatte sich umgedreht und seine Lippen gespitzt.
„Verdammte Punks!“ Und er hatte ihnen sein Blut ins Gesicht gespuckt.
Wie er zu der Waffe des einen Polizisten gekommen war, wusste er nicht mehr. Er hatte sie ergriffen und sie hatte plötzlich so machtvoll in seiner Hand gelegen.
Noch einen Augenblick sah er in die schrecklich weit aufgerissenen Augen des Polizisten. Dann drückte er ab.
Wortlos war er in das Fahrzeug der Polizisten eingestiegen und hatte die Tür verriegelt. Ein kurzes Tippen auf das Gaspedal und der Wagen raste direkt auf den zweiten Polizisten zu. BAM! Der Wagen knallte gegen die Mauer.
Jake schaute auf und zog sich wortlos den Sicherheitsgurt über die Schultern. Der Polizist lag vor Schmerzen zitternd über die Motorhaube gebeugt. Seine Hände bewegten sich. Er schaute Jake an.
„Verdammte Punks“, hatte Jake geschrieen und gegen die Innenseite der Windschutzscheibe gespuckt. Dann hatte er den Polizeiwagen in die Höhe gezogen. Höher,
bis über die Wolken.
Dort ließ er die Nase des Fahrzeugs so weit absinken, bis der Polizist schreiend in die Tiefe stürzte.

Jake stellte seinen Walkman auf Radio. Aus den Ohrstöpseln klang ein leises Klickgeräusch. Wieder, wieder. Jake schloss die Augen und verzog schmerzlich das Gesicht.
Dann hörte er die Stimmen, die davon erzählten, wie sie die Welt veränderten.
Hinter ihm trat ein kleines rothaariges Mädchen aus dem Schatten eines Felsvorsprungs heraus und zupfte Jake vorsichtig am Ärmel.
„Hey, Jake.“
Jake fuhr herum und packte das Mädchen am Kragen.
„Scheiße, wer bist du?“
„Ich kenn dich“, sagte das Mädchen. Jake zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen und schubste das Mädchen zu Boden.
„Hey!“ Das Mädchen sah ihn trotzig an. „Früher warst du ganz anders.“
Jake begann wieder zu husten.
„So? Wie soll ich denn früher gewesen sein?“
„Lustig“, sagte das Mädchen und stand auf. Jake schüttelte mit dem Kopf. Als ob dem Mädchen gerade etwas sehr wichtiges eingefallen wäre, blitzten ihre Augen auf und sie lächelte.
„Hier!“, sagte sie und hielt Jake einen mit Panzertape umwickelten Gegenstand hin.
„Du hast ihn kaputt gemacht, weißt du noch?“
„Ein Walkman?“ Jake betrachtete das Gerät, das er selber bei sich trug. „Ja“, sagte er, „er funktioniert nicht mehr richtig.“
„Der hier funktioniert noch.“
Jake verschränkte die Arme vor der Brust.
„Musik ist out“, sagte er. Er hielt seinen Walkman wie ein Peilgerät hoch und hörte, wie das Klicken lauter wurde.
„Ich werde die Maschine auch so finden.“ Er drehte sich um und ließ das Mädchen stehen.
„Hey!“ Das Mädchen steckte ihren Walkman zurück in die kleine Brusttasche an ihrem Kleid und rannte Jake hinterher.
„Wie gefällt dir eigentlich mein Kleid?“
„Überhaupt nicht“, sagte Jake und bog an einer Gabelung nach rechts ab.
„Mhm.“ Das Mädchen blieb kurz stehen und sah an sich herunter.
„Ich glaube, es gefällt dir“, sagte sie.
„Es ist blau.“, sagte Jake.
„Blau wie der Himmel?“, fragte das Mädchen.
„Ja.“
Jake hasste den Himmel, seit er ihn gesehen hatte.

In der Tiefe der Erde wusste die Maschine von Jakes Anwesenheit. Jake war eine Episode. Er war ein Programm, das in ihrem Inneren ablief, ein Programm wie Milliarden andere.
Jakes Programm lief nicht fehlerhaft. Die Maschine betrachtete ihn eher als eine Komponente, so wie alles Komponente war.
Das große Ganze erklärte sich selbst.
Wenn das Klicken alle einhunderttausend Mal einmal aussetzte, dann dachte die Maschine nicht an Jake. Wie nervöse Ameisen wuselten dann plötzlich ihre Arbeiter, die selbst Teil von ihr waren, um sie herum. Sie suchten. Sie versuchten den Fehler zu finden. Das Klicken aus ihren Mündern überschlug sich, sie berührten sich, gaben Informationen weiter. Sinnlos veränderten sie die Zeit, um die Maschine zu ändern.
Sie versuchten den Fehler aus der Zeit zu löschen. Und sie gingen zurück in der Zeit, weiter, immer weiter zurück, um den Fehler dort zu bekämpfen, wo er entstanden war.
Nach einiger Zeit beruhigten sie sich wieder
und warteten EINHUNDERTTAUSEND KLICKS.

Ein Augenblick – STILLE.

Jake hatte die Ohrstöpsel aus dem Walkman entfernt und presste das Gerät gegen seine Schläfe. Es vibrierte von den Klickgeräuschen, die es über den kleinen Radiowellenverstärker empfing.
„Wir sind jetzt sehr nahe“, sagte er und musste sich die Hand vor den Mund halten, als ein schmerzvoller Hustenanfall seinen Oberkörper erzittern ließ. Als er seine Hand zurückzog, war sie über und über mit Blut besprenkelt.
Das kleine, rothaarige Mädchen hatte ihr Kinn liebevoll auf sein rechtes Knie gelegt und sah ihn traurig von unten an.
„Erzähl mir etwas über Musik, Jake“, bat sie ihn.
„Jetzt nicht.“ Jake wischte sich das Blut an seiner Hose ab.
„Dann erzähl mir etwas über den Himmel.“ Ihre Augen leuchteten neugierig auf.
Jake seufzte und legte den Walkman neben sich auf den Boden.
„Er ist blau.“, sagte er.
„Wer kontrolliert die Vergangenheit?“
„Lass mich in Ruhe“, sagte Jake missmutig und schloss die Augen.
„Und die Zukunft?“
„Du gehst mir auf die Nerven.“
„Wer kontrolliert die Gegenwart, Jake?“
Jake öffnete die Augen und nahm wieder den Walkman in die Hand. Er stöpselte die Kopfhörer ein und drückte das Mädchen von seinem Knie fort.
„Wir sind jetzt sehr nah.“ Jake stand langsam auf und stützte sich müde an ein paar Metallrohren ab.
„Die Maschine“, sagte er plötzlich und half dem Mädchen beim Aufstehen.
„Die Maschine kontrolliert die Gegenwart.“

Ein paar Hundert Meter weiter und Kilometer tief unter der Erdoberfläche ließ Jake den Walkman achtlos zu Boden fallen.
Das Klickgeräusch hallte durch die unterirdischen Gänge, wie der Sekundenschlag einer riesigen, alles kontrollierenden Sternzeituhr.
Das rothaarige Mädchen blieb traurig stehen und betrachtete das mit Panzertape umwickelte Gerät.
„Wer kontrolliert die Gegenwart, Jake?“, fragte sie leise und sah Jake nach, der sich gebeugt zum Ende des Ganges schleppte.
Es war so viel von ihm verloren gegangen.

Die Maschine war gewaltig. Ein riesiges Zahnrad drehte sich langsam und scheinbar unaufhaltsam auf einer Ölverschmierten, stählernen Achse, die sich durch den ganzen Raum zog.
Ihr Anblick war atemberaubend.
Überall um die Maschine standen Männer in Overalls, mit kleinen Kontrolleinheiten in ihren kräftigen Händen und studierten stumm das träge Aufblinken von lustlosen Lichtern und die träge, gefühlskalte Kreisbewegung des Zeitzahnrades, das sich Tag und Nacht um seine eigene Achse drehte.
Über eine im Fels verankerte Leiter stieg Jake keuchend in diese tote, unveränderliche Welt hinab. Auf halbem Weg hatte er das Gefühl, als würde ihn jegliche Kraft verlassen. Krampfhaft umklammerte er die eisernen Sprossen der Leiter. Sein Oberkörper zuckte, als seine Lungen revoltierten. Ein einziger Hustenstoß bespritzte die Felswand vor ihm mit seinem dunklen, kranken Blut. Jake schloss die Augen.
Und fiel.

Da lag er nun, unser Held, der lange schon kein Held mehr war.
War er je ein Held gewesen? In einer anderen Zeit vielleicht. Aber diese Zeit war ausgelöscht. War die Zeit vielleicht selbst Vergangenheit? War sie wie der Teil einer Geschichte, in der sich Zeiten wie Perlen an einer Silberkette aufreihten?
Jake versuchte, sich aufzurichten. Seine Knie zitterten vor Anstrengung, seine Blutbespritzten Lippen bebten und seine Augen – „Jake“ – waren voller Tränen.
Ein paar Männer in Overalls, die mechanisch ihrer Arbeit nachgingen, drehten sich zu dem am Boden kauernden Mann um und betrachteten ihn AUSDRUCKSLOS.
Und in Jake explodierte der Hass. Langsam gewann er Kontrolle über seine zitternden Hände und presste sie neben seinen zitternden Knien auf den Boden.
„Punks!“, keuchte er.
„PUNKS!“ Mit aller Kraft stemmte er seinen kraftlosen Körper
EMPOR!
Und GING! Jake stolperte, hustete und ballte seine Hände zu Fäusten, als einer der mechanischen Menschen an ihn herantrat und ihm die Hand auf die Schulter legte,
wie einem Freund.
Jakes Versuch, sich von ihm los zu reißen endete in einer kläglichen Umarmung. Jake sackte auf die Knie.
„Punks.“, röchelte er.
„Punks.“

Von der Empore, von der die eiserne Leiter in den Raum der Maschine hinabführte, sah das kleine, rothaarige Mädchen, wie sie Jake bei den Beinen packten und bei seinen Armen. Sie konnte sehen, wie Jake sie beobachtete, fragend.
Leichtfüßig kletterte das Mädchen die Leiter hinunter. Die letzten drei Sprossen übersprang sie und der Rock ihres blauen Kleides flatterte lustig, als sie mit ihren kleinen Füssen auf dem Boden aufkam.
„HEY!“ Die Männer in den Overalls hielten inne und blickten sich zu ihr um.
„Wer kontrolliert die Vergangenheit?“, fragte sie alle Anwesenden und lächelte dabei, als wäre es die lustigste Frage der Welt.
Die Männer in den Overalls antworteten gleichzeitig.
„Die Maschine.“, antworteten sie.
„Und wer kontrolliert die Zukunft?“ Die Augen des rothaarigen Mädchens blitzten und funkelten.
Jake riss sich aus seiner Lethargie los.
„Nein.“, flüsterte er.
„Die Maschine.“, antworteten die Männer in den Overalls.
Das Mädchen ging einige Schritte auf Jake zu.
„Wer kontrolliert die Gegenwart, Jake.“
Jake schloss die Augen.
„Die Maschine.“, antworteten die Männer in den Overalls.

Das kleine, rothaarige Mädchen berührte Jake an der Stirn.
„Wer kontrolliert die Gegenwart?“ Liebevoll streichelte sie sein Gesicht. Jakes Augen zuckten wie im Fieber unter seinen Augenlidern hin und her.
„Ich weiß es nicht!“, keuchte er.
„Wer?“
„Ich …“
„Du!“, antwortete das Mädchen plötzlich.
„Ich …“
„Du kontrollierst die Gegenwart.“

Jake riss die Augen auf. Mit Entsetzen sah er mit an, wie das Mädchen ihren Mund öffnete und ihren Kopf wie eine Maschine zur Seite drehte.
„Zeitverschiebung!“
Die Männer in den Overalls kreischten, als sie das monotone Klicken aus ihrem Mund hörten.

„NICHT!“, schrieen sie, bevor ein heller Lichtblitz den Raum in das Innere der Sonne verwandelte.

Jake benutzte die Leiter wie eine Rutsche. SCHSCHSCHT – ging es in die Tiefe. Mit seinen zerrissenen Lederstiefeln knallte er auf dem Boden auf und wirbelte herum.
„Bin ich schnell, oder was?“
Die Männer in den Overalls glotzten ihn fragend an.
Jake zog eine Augenbraue hoch und grinste.
„Schneller als die Zeit.“ Sein Blick sauste in die Höhe.
„Hey!“, schallte es von der Empore herunter. Das kleine, rothaarige Mädchen nahm den Walkman aus der Brusttasche ihres blauen Kleides, hielt sich an der Leiter fest und streckte ihre Hand nach vorn.
„Fang!“, schrie sie Jake zu. Die Männer in den Overalls hasteten auf Jake zu. Er machte einen Ausfallschritt, zwei Männer knallten neben ihm gegen die Leiter und blieben orientierungslos stehen.
Der Walkman glitt wie ein Federball in Jakes Hände. Fast im selben Augenblick duckte er sich unter dem Angriff von gleich zwei Maschinenmenschen hindurch und rollte sich auf dem Boden ab. Schlingernd wickelten sich die Kopfhörer vom Gehäuse des Walkmans. Mit einem Peitschenhieb ließ Jake die Ohrstöpsel empor sausen und fing sie lässig mit der linken Hand auf.
„Ohne Musik ist es einfach nicht das Gleiche.“, sagte er zu sich selbst und grinste, als er sich die kleinen Lautsprecher in die Ohren drückte.
„Play!“

Die Maschinenmenschen kamen jetzt von überall. Sie kamen aus den Gängen geströmt, sie kamen aus Falltüren, aus Schächten aus der Tiefe, aus den Wänden. Sie schrieen. Das Klicken aus ihren Mündern glich einem Pfeifen, das so hoch war, dass es Gläser zerspringen ließ.
Aber Jake hörte es nicht.
Jake hörte jetzt Musik.
Und stürmte los.
Von überall griffen sie nach ihm. Jake duckte sich, sprang. Jake schlitterte zwischen ihren Beinen hindurch, wie durch den endlosen Tunnel einer Wasserrutschbahn. Mehrere Maschinenmenschen knallten gegeneinander, wenn sie versuchten, sich gleichzeitig auf ihn zu stürzen. Über ihre am Boden liegenden, orientierungslosen Körper stapfte Jake wie über eine Treppe in die Höhe, balancierte auf ihren Schultern, auf ihren Köpfen.
Über seine Kopfhörer brandete die Musik, wie die wahrste aller Wahrheiten in seinen Kopf. Sein Daumen glitt über das Lautstärkerädchen:
`Volle Lautstärke!´
Jake hüpfte und trat ihre Hände wie Fußbälle beiseite. Die kleinen Lämpchen der Maschine leuchteten angstvoll. Das Zahnrad drehte sich,
drehte sich.

Jake sprang, knallte mit seinen Schnürstiefeln auf den Boden. Wie ein Footballspieler hielt er den Walkman umklammerte.
Ausfallschritt links!
Ausfallschritt rechts!
Durchbruch: Jake fiel, rutschte, schlitterte über den glatten Boden vorwärts.

`DAS ZEITZAHNRAD!´
Jake streckte die Hand aus und
ließ den mit Panzertape umwickelten Walkman wie einen Stahlbolzen zwischen die Öffnungen des Zahnrades gleiten.


Dann:
Ein letztes Klick.
Die Ohrstöpsel wurden Jake aus den Ohren gerissen und hüpften wie kleine Gummibälle vor seinen Augen über den Boden.

Jake drehte sich um.
Hatte er die Zeit angehalten? Die Männer standen und lagen in den unmöglichsten Situationen beieinander, verschlungen, ineinander gekeilt. Die Münder aufgerissen, ihre Augen:
AUSDRUCKSLOS starrten sie ihn an.

Langsam stand Jake auf. Auf der oberen Empore sah er das kleine, rothaarige Mädchen stehen. Sie hatte die Hand nach ihm ausgestreckt.
Jake winkte ihr zu.
„Hey!“
Das Mädchen betrachtete ihn ausdruckslos und antwortete nicht.
Jake schossen plötzlich alle die schönen Erinnerungen durch den Kopf, seit er sie kennengelernt hatte.
„Wie gefällt dir mein Kleid?“, hatte sie ihn gefragt.
„So schön wie der Himmel.“
„Was ist eigentlich Musik?“
„Musik ist das Leben.“
„Ich kenne keine Musik.“
„Wenn du sie hörst und liebst, weißt du zumindest, dass du keine Maschine bist.“
Jake lächelte und betrachtete ihr kleines, blaues Kleid, das für ihn schön, wie der Himmel war.

„Wenn du Musik hörst und liebst, weißt du zumindest, dass du keine Maschine bist.“, flüsterte er leise vor sich hin.
Dann lächelte er.

Hinter ihm steckte das mit Panzertape umwickelte Gehäuse in den Ecken des Zeitzahnrades und hinderte es daran, die Zeit zu verändern. Kurz davor lagen zwei kleine Ohrstöpsel aus denen leise ein Lied erklang.
Als Jakes Schritte nicht mehr zu hören waren, war der Refrain das einzige, was man in der unterirdischen Stille noch hörte:

"Who controls the past now controls the future
Who controls the present now controls the past
Who controls the past now controls the future
WHO CONTROLS THE PRESENT NOW?"*


„Wer kontrolliert die Gegenwart, Jake?“



"NOW TESTIFY!"*



*) Zitat: rage against the machine: testify
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Bevor du noch länger schmorst…
Es liest sich recht flüssig und die beiden etwas störenden Perspektivwechsel (nicht mehr Jakes Sicht) sind sicher dem Entwurf-Charakter geschuldet und würden im "fertigen Werk" nicht mehr so auftreten. Aber: Ich würde das Ganze eher kürzen, ich habe keine Idee, wie das "erweiterbar" sein soll. Und die eigentliche Idee fehlt mir auch ein bisschen – oder bin ich einfach nur SF-betriebsblind und halte "Eingriff in die Vergangenheit" deshalb für ein (legitimnen, will ich hier betonen) Griff in die Klischee-Kiste?

Wenn es als Exposé zu irgendwas dienen soll (einen Action-Film könnte ich mir gut vorstellen), dann würde ich zumindest die Zeitmaschinen-Erbauer (und ihre Ziele) erwähnt wissen wollen…

So viel zu dem, was ich damit anfangen kann. Hilft das?
 
Hi jon,
glaube das nicht! Die Geschichte soll eigentlich heißen:
Jake against the machine - über einen Mann, der erst ganz unten sein mußte, um die Welt zu retten.
Ich denke da an einen erfolgreichen Jungunternehmer, der durch ´Zeiteingriffe immer mehr in der Erfolgsleiter nach unten sinkt, bis er schließlich irgendwo in der Gosse vor sich hinvegetiert. Je weiter er nach unten sackt, desto weniger haben die Veränderungen einfluss auf seine Meinung, etc..
Das riecht für mich verdammt nach Freiheit, nach Freiheit der Gedanken, wenn man sich erstmal ganz der gesellschaft entzogen hat - oder, der Gesellschaft entzogen wurde?
Kann mir das gut vorstellen, wie diese ganzen Lichtblitze ihn immer weiter von "seinem Leben" entfernen und wie er dadurch die Existenz der Maschine immer mehr begreift.

Lass das erst mal hier noch liegen. Hab gerade nicht die Zeit, es auszuformuliéren.

Hoffe, es war nicht langweilig.
Gruss,
Marcus
 

Mazirian

Mitglied
Ups,

da war ich wohl ein paar Minuten zu spät dran...
Keine Sorge, es war NICHT langweilig. Hoffe du hast bald wieder mehr Zeit.
 
Hi Mazirian,
schön, daß dir mein Schreibstil gefällt. Er ist mir manchmal selbst unheimlich, denn es geschieht, daß ich zum Zuschauer werde - und oh Gott, die Kontrolle verliere:
ergo Handlungseinbußen.
Aber das ist ja auch das interessante daran. Es zwingt dazu, Geschichten wieder und wieder zu bearbeiten und was dann dabei herauskommt: ja, wer weiß?

Schönen Tag noch,
Marcus
 



 
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