Jakos Welt

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Mira

Mitglied
Jakos Welt

Die Glocke schrillte wie jeden Morgen um diese Zeit. Das grelle Licht, das nun durchgehend bis zur Schlafenszeit brannte, blendete. Im Frauenschlafsaal quietschten die Betten, stumm erhob sich eine graue Masse, um sich synchron anzuziehen.
Heute fühlte ich mich nicht wohl. Meine Knochen waren bleischwer, so dass ich eine der letzten Frauen war, die aus dem Schlafsaal schlich.
Ich versuchte mich zu beeilen, ich hasste es, den Tag so energielos anzugehen, denn es wartete wie immer viel Arbeit auf mich. Im Waschraum hielt ich mein Gesicht unter den eiskalten Wasserstrahl. Die Haut zog sich schmerzhaft zusammen und färbte sich rot.
Das monotone Stimmengewirr im Speisesaal, in dem seit Neusten Frauen und Männer gemeinsam essen durften, verstärkte meine Müdigkeit. Ich rührte den undefinierbaren Brei in meiner Schüssel nicht an, stocherte mit dem Löffel darin herum, formte Straßen und Löcher und beobachtete, wie sich die entstandenen Lücken träge schlossen.
Als die Stimmen leiser wurden und das Rücken von Stühlen in dem Saal widerhallte, erhob auch ich mich und reihte mich in die satte Masse ein, die in die Gänge strömte. Um meine müden Beine zu entlasten, zog ich mich an den unterschiedlich dicken Rohren entlang, die ein verwirrendes Geflecht an Decken und Wänden bildeten. Manche waren blutwarm, andere waren so eiskalt, dass die Haut daran kleben blieb, fasste man sie an. Ich hatte keine Angst, die falschen anzufassen, kannte ich doch die Rohre von Kindesbeinen an. In jedem Raum, in jedem Saal gab es sie, die meisten davon rot oder violett gefärbt. Was in ihnen transportiert wurde und wozu, hatte noch nie jemand erfahren. Keiner aus der Masse wusste, wo sie anfingen und wo sie aufhörten. Es war ein zusammenhängendes System, das einfach da war. Mir schien, die Rohre kommunizierten miteinander. Überall war in nicht periodischen Abständen ein Gurgeln und Glucksen zu hören. In den Rohren, die so dick waren, dass man sie mit beiden Armen umfassen konnte, zischte und brummte es. Manche Rohre hatten einen so großen Durchmesser, dass ein breitschultriger Mann ohne Mühe darin hätte kriechen können. Manchmal war in ihnen tatsächlich ein Scharren und Schleifen zu hören, vor allem nachts im Schlafsaal. Dann träumte ich, selbst in einem Rohr entlang zu kriechen, mich beim Aufwachen nicht in meinem Bett, sondern in einem dunklen Rohr wieder zu finden, aus dem ich verzweifelt den Ausgang suchte. Wenn ich aufwachte, biss ich in mein Kissen, um nicht los zu schreien.
Ich redete mir ein, dass niemand in den Rohren herumkroch. In den Hallen kannte ich jedes Gesicht und von keinem wusste ich, dass er in den Rohren zu arbeiten hätte. Ich hatte noch nie eine Einstiegsluke gefunden; das System ist so gleichmäßig, so unendlich, ein pulsierendes Geflecht aus Blut: stach man es an, zerstörte man es. Unmöglich, es konnten keine Menschen sein, die das Geräusch in den Rohren verursachten.
In der Arbeitshalle gingen die Lichter an. Männer und Frauen nahmen ihre Plätze ein. Gesprochen wurde wenig, man hatte sich nichts zu sagen. Meine Arbeit bestand darin, aus einem Kupferblech Ringe auszustanzen. Ich hatte keine Ahnung, wozu sie gebraucht wurden, ob es einen Sinn für sie gab. Es gab niemanden, der darüber Bescheid wusste.
Die Frau neben mir, sie sagte mir einmal, sie hieße Mona, stanzte silberne Scheiben aus, die jedoch nicht in meine Ringe passten, wie ich gehofft hatte. Der Mann neben Mona nahm ihre Scheiben und bohrte genau in der Mitte ein Loch definierter Größe. Wenn Mona ihm zu langsam arbeitete, wurden seine Hände fahrig und er meckerte.
Diese Arbeit verrichtete ich schon seit ich denken konnte. Sie ging mir so leicht von der Hand, dass ich gar nicht bemerkte, was meine Hände taten. Sie arbeiteten ohne meinen Willen und auf dem Stuhl saß nur mein Körper.
An der Decke der Arbeitshalle verlief das mächtigste Rohr. Es kam aus dem Boden, stieg schnurgerade auf und verschwand nach einem Bogen in der Wand. Staub sammelte sich darauf, der manchmal in grauen Flocken herab rieselte. Es war das einzige Rohr, aus dem ich nie Geräusche gehört hatte. Es war hohl, tot, leer, vom System ausgeschlossen. Über uns hing eine abgestorbene Ader. Das wusste ich, weil ich einmal, als alle beim Mittagessen waren, eine von Monas silbernen Scheiben dagegen geschmissen hatte. Sie prallte auf hohles Metall, verursachte ein leises Klirren und blieb auf dem Boden liegen. Als ich mich nach ihr bückte, sagte eine spöttische Stimme hinter mir: „Was machst du da?“
Ich fuhr herum und blickte in Jakos Gesicht. „Ich will wissen, ob das Rohr über mir leer ist“, erwiderte ich trotzig.
Jakos gesundes Auge musterte das Rohr lebhaft, als suchte er etwas. Erleichtert senkte er den Blick. „Mach dir nicht zu viele Gedanken über die Rohre“, sagte er nachdenklich. „Es kommen Dinge, die viel wichtiger sind.“
Ohne weiter darauf einzugehen, drehte er sich um und ließ mich in der Halle stehen. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war, unfähig, ihn zu fragen, was er damit meinte.
Seitdem dachte ich oft an Jako. Ich war nicht die einzige, die über die Rohre nachdachte, die sie nicht als gegeben hingab und einen Sinn für ihre Existenz suchte.
Ich wusste, dass Jako die Rohre hasste. Sie hatten ihm das linke Auge genommen. Jako gehörte zu denen, die man die ‚Auserwählten’ nannte. Davon existierten in der ganzen Welt nur wenig mehr als ein Mensch Finger und Zehen hat. Sie schliefen nicht mit der Masse im Schlafsaal, strömten nicht mit der Masse durch die Gänge. Sie waren unsichtbar. Suchte man sie, fand man sie bei den Rohren. Jakos Aufgabe war, die Uhren zu kontrollieren, die an manchen Rohren hafteten. Was es da genau zu kontrollieren gab, sagte er mir nicht. Er erzählte lediglich, seine Aufgabe bestünde darin, darauf zu achten, dass die Zeiger der Uhr den Grenzwert nicht überschritten. Aber warum, das wusste Jako nur vage zu sagen. Ich glaube, das wusste niemand. Auf den Uhren war außer ein paar Strichen nichts aufgedruckt. Jako starrte stundenlang auf eine Uhr, er konnte nur in die Pause, wenn ihn ein anderer Auserwählter ablöste. Er könne nicht weg, antwortete er auf meine Fragen. Die Zeiger seien so unruhig, sie seien kurz davor, den Grenzwert zu überschreiten.
Er tat mir leid. Ich fragte ihn nach seinem Arbeitsplatz, damit ich ihm hin und wieder etwas zu Essen vorbeibringen konnte. Vor allem, seit das mit seinem Auge passiert war. Weil ihn niemand abgelöst hatte, war er bei der Arbeit eingenickt. Der Zeiger überschritt den Grenzwert, und die Schweißnaht wurde an einer Stelle undicht. Ein Zischen weckte ihn abrupt. In dem Moment spritzte ihm eine stinkende, heiße Flüssigkeit ins Auge. Da keiner wusste, was für ein Zeug das war, konnte Jakos Auge nicht behandelt werden. Es wurde matt und erblindete. Seitdem trug er eine Augenbinde und mir lief es kalt den Rücken hinab, wenn ich ihn in seiner gewohnten Erstarrtheit von den Uhren sitzen sah. Verdrängte er alles? Über was dachte er nach und was hatte er gemeint, als er sagte, es würden wichtigere Dinge kommen?
Das Bedürfnis, ihn darauf anzusprechen wurde immer dringender. Ich passte ihn ab, als er wieder bewegungslos auf die Zeiger starrte und brachte ihm Suppe. Er freute sich und stöhnte erleichtert auf. Ich sah zu, wie er gierig löffelte, ohne den Blick von der Uhr zu lassen. Nudeln klebten ihm am Kinn, die er hin und wieder mit dem Löffel abkratzte.
„Bringt dir außer mir niemand das Essen?“, fragte ich.
„Nein“, erwiderte er knapp.
Ich hockte mich auf den Boden und sah zu ihm auf. Er hatte seine Beine eng aneinander gepresst, damit der Teller gerade stand. Mit der linken Hand hielt er den Tellerrand fest, die Suppe triefte ihm vom Kinn und tropfte in den Teller und auf seine Oberschenkel. Er erinnerte mich an ein Tier, von dem mir einer der Älteren erzählt hatte. Er nannte es Hund. Es hatte eine lange Zunge und ein Fell. Manche von diesen Tieren hatten so lange Ohren, dass sie, wenn sie nicht aufpassen, aus Versehen beim Fressen hinein bissen. Der Alte zeigte mir ein zerknittertes Papier, er nannte es Foto, auf dem ich mir das Tier ansehen konnte. Es schlabberte aus einem Napf Wasser.
„Was glaubst du, wie lange du diese Arbeit noch aushältst?“, fragte ich.
Jako hielt mit dem Essen inne. Für einen Moment vergaß er die Uhr und sah mich mit seinem Auge so durchdringend an, bis mir die Hitze in die Ohren stieg.
„Was meinst du… wie lange wirst du deine aushalten?“, flüsterte er.
„Es gibt nichts anderes“, wich ich aus.
„Du denkst wohl nicht oft darüber nach, was?“
Ich schüttelte den Kopf. „Die Arbeit ist immer gleich. Sie ist durchschaubar. Vielleicht werde ich irgendwann in eine andere Halle geschickt und muss etwas anderes machen. Aber auch das wird etwas sein, was ich mit meinen Händen bearbeiten kann. Ich kann es fühlen, schmecken. Ich weiß, ob es hart oder weich ist. Du aber weißt nichts. Die Rohre lassen dich dein Leben lang im Ungewissen. Du weißt nichts über sie.“
„Das will ich auch nicht. Sie sind unwichtig.“
Verwirrt schaute ich ihn an. „Sie haben dir das Augenlicht genommen. Natürlich sind sie für dich wichtig!“
„Wenn du zulässt, dass dich etwas beherrscht, dem du nicht gewachsen bist, verlierst du dich.“
„Aber es wird dir nichts anderes übrig bleiben. Eine andere Arbeit gibt es nicht für dich.“
„Ich hau ab!“, presste er hervor.
„Wie meinst du das? Willst du dich verstecken?“ Erschrocken hielt ich eine Hand vor den Mund.
Plötzlich sprang er auf, der Teller glitt ihm vom Schoß und zerbrach auf dem Boden. Er packte mich am Arm und riss mich hoch. „Es gibt etwas, eine Welt, die ganz anders ist. Die du und die anderen nicht kennen. Eine Welt, in der keine Rohre von der Decke hängen, weil es keine Decken gibt. Wenn du in dieser Welt lebst, kennst du keine Grenzen. Es gibt keine Wände und über dir ist ein Stern, der dir leuchtet. Abends verschwindet er, niemand stellt ihn ab. Es wird von alleine dunkel und jeden Morgen taucht der Stern wieder auf. Niemand stellt ihn an. Über dir ist es unendlich weit, aber unter deinen Füßen hast du festen Boden und du kannst gehen, soweit du willst.
Ich verstand nicht. Sein Gesicht machte mir Angst. Sein Auge wurde riesengroß, dass ich fürchtete, es würde es ihm aus dem Höhle fallen. „Jako, Jako, hör auf! Du bist ganz rot im Gesicht!“, rief ich.
Endlich ließ er meinen Arm los. „Du wirst sehen… eines Tages bin ich weg.“
„Wann wird das sein?“, fragte ich unsicher.
„Bald! Willst du mit?“
Ich schüttelte entsetzt den Kopf.
„Hast du Angst?“
Ich wich vor ihm zurück. „Ich will nicht in einer Welt leben, die ich mir nicht vorstellen kann!“, rief ich.
In dem Moment schrillte die Glocke, die Mittagspause war zu Ende. Ich rannte die Gänge entlang, als könnte ich vor dem, was er mir gesagt hatte, davon laufen.

Jakos Worte verfolgten mich wie Geister. Dass es angeblich eine Welt außerhalb meiner Vorstellungskraft gab, beunruhigte mich zutiefst. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich ihm weiterhin sein Essen brachte, wenn er wie versteinert vor den Uhren saß. Er war dankbar wie immer, doch niemals wieder sprach er über seine Gedanken.
Eines Tages jedoch rührte er sein Essen nicht an. Die Suppe, die er achtlos auf den Boden gestellt hatte, hörte auf zu dampfen und wurde lau. Ich stand schweigend daneben und wartete auf eine Reaktion, auf ein Zucken der Mundwinkel, auf ein Zeichen, dass er mich wahrgenommen hatte. Doch erst als die Glocke zur Arbeit rief, schaute er mit blassem Gesicht zu mir auf.
„Willst du mit?“, flüsterte er.
Ich starrte ihn verstört an und schüttelte den Kopf. Er senkte enttäuscht den Blick und nickte kaum merklich.

Damals wusste ich nicht, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte; denn am nächsten Tag war er verschwunden. Keinem war etwas aufgefallen, kein Mensch wusste etwas. Er erschien nicht bei der Arbeit, die Uhr an dem Rohr blieb unbewacht. Als es platzte, hallten überall die Alarmsirenen. Jakos Name tönte streng aus Lautsprechern, finster dreinschauende Wachmänner rissen jeden Schrank auf, stocherten im Warenlager mit Stäben zwischen den Blöcken aus Rohmaterial. Als sie nach einem halben Tag nicht fündig wurden, sperrten sie uns in den Arbeitshallen ein, befragten uns, bedrohten uns.
Ich beobachtet sie genau: keiner der Wachmänner legte den Kopf in den Nacken und beachtete die Rohre an der Decke. Niemand klopfte dagegen und legte sein Ohr darauf.
Jako hatte sich von den Rohren befreit und ich war die einzige, der er seine Gedanken erzählt hatte.
Was wäre gewesen, wenn ich mit ihm gegangen wäre? Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen ins Dunkel starrte, versuchte ich mir Jakos Welt vorzustellen: Meine Füße berühren festen Boden, über mir formlose Weite. Ich wage keinen Schritt, ich fürchte zu stürzen, weil keine da Wand ist, die mich umgibt. Ich rufe nach Jako, weil ich mich verliere, je länger ich stehe. Ich fange an zu weinen. Ist das tatsächlich Jakos Welt? Dieses furchtbare Gefühl des Formlosen, des Grenzenloses? In seiner neuen Welt stelle ich mir Jako schwebend vor. Wie könnte es auch anders sein ohne Wände, ohne Decken? Wie kann er so etwas wollen, wie kann er so glücklich sein?
Tränen tropften mir von der Wange und versickerten in meinem Kopfkissen. Vielleicht schaffte ich es eines Tages, meine Füße loszulassen und in die Weite zu laufen. Vielleicht würde
 

Mira

Mitglied
Jakos Welt

Die Glocke schrillte wie jeden Morgen um diese Zeit. Das grelle Licht, das nun durchgehend bis zur Schlafenszeit brannte, blendete. Im Frauenschlafsaal quietschten die Betten, stumm erhob sich eine graue Masse, um sich synchron anzuziehen.
Heute fühlte ich mich nicht wohl. Meine Knochen waren bleischwer, so dass ich eine der letzten Frauen war, die aus dem Schlafsaal schlich.
Ich versuchte mich zu beeilen, ich hasste es, den Tag so energielos anzugehen, denn es wartete wie immer viel Arbeit auf mich. Im Waschraum hielt ich mein Gesicht unter den eiskalten Wasserstrahl. Die Haut zog sich schmerzhaft zusammen und färbte sich rot.
Das monotone Stimmengewirr im Speisesaal, in dem seit Neusten Frauen und Männer gemeinsam essen durften, verstärkte meine Müdigkeit. Ich rührte den undefinierbaren Brei in meiner Schüssel nicht an, stocherte mit dem Löffel darin herum, formte Straßen und Löcher und beobachtete, wie sich die entstandenen Lücken träge schlossen.
Als die Stimmen leiser wurden und das Rücken von Stühlen in dem Saal widerhallte, erhob auch ich mich und reihte mich in die satte Masse ein, die in die Gänge strömte. Um meine müden Beine zu entlasten, zog ich mich an den unterschiedlich dicken Rohren entlang, die ein verwirrendes Geflecht an Decken und Wänden bildeten. Manche waren blutwarm, andere waren so eiskalt, dass die Haut daran kleben blieb, fasste man sie an. Ich hatte keine Angst, die falschen anzufassen, kannte ich doch die Rohre von Kindesbeinen an. In jedem Raum, in jedem Saal gab es sie, die meisten davon rot oder violett gefärbt. Was in ihnen transportiert wurde und wozu, hatte noch nie jemand erfahren. Keiner aus der Masse wusste, wo sie anfingen und wo sie aufhörten. Es war ein zusammenhängendes System, das einfach da war. Mir schien, die Rohre kommunizierten miteinander. Überall war in nicht periodischen Abständen ein Gurgeln und Glucksen zu hören. In den Rohren, die so dick waren, dass man sie mit beiden Armen umfassen konnte, zischte und brummte es. Manche Rohre hatten einen so großen Durchmesser, dass ein breitschultriger Mann ohne Mühe darin hätte kriechen können. Manchmal war in ihnen tatsächlich ein Scharren und Schleifen zu hören, vor allem nachts im Schlafsaal. Dann träumte ich, selbst in einem Rohr entlang zu kriechen, mich beim Aufwachen nicht in meinem Bett, sondern in einem dunklen Rohr wieder zu finden, aus dem ich verzweifelt den Ausgang suchte. Wenn ich aufwachte, biss ich in mein Kissen, um nicht los zu schreien.
Ich redete mir ein, dass niemand in den Rohren herumkroch. In den Hallen kannte ich jedes Gesicht und von keinem wusste ich, dass er in den Rohren zu arbeiten hätte. Ich hatte noch nie eine Einstiegsluke gefunden; das System ist so gleichmäßig, so unendlich, ein pulsierendes Geflecht aus Blut: stach man es an, zerstörte man es. Unmöglich, es konnten keine Menschen sein, die das Geräusch in den Rohren verursachten.
In der Arbeitshalle gingen die Lichter an. Männer und Frauen nahmen ihre Plätze ein. Gesprochen wurde wenig, man hatte sich nichts zu sagen. Meine Arbeit bestand darin, aus einem Kupferblech Ringe auszustanzen. Ich hatte keine Ahnung, wozu sie gebraucht wurden, ob es einen Sinn für sie gab. Es gab niemanden, der darüber Bescheid wusste.
Die Frau neben mir, sie sagte mir einmal, sie hieße Mona, stanzte silberne Scheiben aus, die jedoch nicht in meine Ringe passten, wie ich gehofft hatte. Der Mann neben Mona nahm ihre Scheiben und bohrte genau in der Mitte ein Loch definierter Größe. Wenn Mona ihm zu langsam arbeitete, wurden seine Hände fahrig und er meckerte.
Diese Arbeit verrichtete ich schon seit ich denken konnte. Sie ging mir so leicht von der Hand, dass ich gar nicht bemerkte, was meine Hände taten. Sie arbeiteten ohne meinen Willen und auf dem Stuhl saß nur mein Körper.
An der Decke der Arbeitshalle verlief das mächtigste Rohr. Es kam aus dem Boden, stieg schnurgerade auf und verschwand nach einem Bogen in der Wand. Staub sammelte sich darauf, der manchmal in grauen Flocken herab rieselte. Es war das einzige Rohr, aus dem ich nie Geräusche gehört hatte. Es war hohl, tot, leer, vom System ausgeschlossen. Über uns hing eine abgestorbene Ader. Das wusste ich, weil ich einmal, als alle beim Mittagessen waren, eine von Monas silbernen Scheiben dagegen geschmissen hatte. Sie prallte auf hohles Metall, verursachte ein leises Klirren und blieb auf dem Boden liegen. Als ich mich nach ihr bückte, sagte eine spöttische Stimme hinter mir: „Was machst du da?“
Ich fuhr herum und blickte in Jakos Gesicht. „Ich will wissen, ob das Rohr über mir leer ist“, erwiderte ich trotzig.
Jakos gesundes Auge musterte das Rohr lebhaft, als suchte er etwas. Erleichtert senkte er den Blick. „Mach dir nicht zu viele Gedanken über die Rohre“, sagte er nachdenklich. „Es kommen Dinge, die viel wichtiger sind.“
Ohne weiter darauf einzugehen, drehte er sich um und ließ mich in der Halle stehen. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war, unfähig, ihn zu fragen, was er damit meinte.
Seitdem dachte ich oft an Jako. Ich war nicht die einzige, die über die Rohre nachdachte, die sie nicht als gegeben hingab und einen Sinn für ihre Existenz suchte.
Ich wusste, dass Jako die Rohre hasste. Sie hatten ihm das linke Auge genommen. Jako gehörte zu denen, die man die ‚Auserwählten’ nannte. Davon existierten in der ganzen Welt nur wenig mehr als ein Mensch Finger und Zehen hat. Sie schliefen nicht mit der Masse im Schlafsaal, strömten nicht mit der Masse durch die Gänge. Sie waren unsichtbar. Suchte man sie, fand man sie bei den Rohren. Jakos Aufgabe war, die Uhren zu kontrollieren, die an manchen Rohren hafteten. Was es da genau zu kontrollieren gab, sagte er mir nicht. Er erzählte lediglich, seine Aufgabe bestünde darin, darauf zu achten, dass die Zeiger der Uhr den Grenzwert nicht überschritten. Aber warum, das wusste Jako nur vage zu sagen. Ich glaube, das wusste niemand. Auf den Uhren war außer ein paar Strichen nichts aufgedruckt. Jako starrte stundenlang auf eine Uhr, er konnte nur in die Pause, wenn ihn ein anderer Auserwählter ablöste. Er könne nicht weg, antwortete er auf meine Fragen. Die Zeiger seien so unruhig, sie seien kurz davor, den Grenzwert zu überschreiten.
Er tat mir leid. Ich fragte ihn nach seinem Arbeitsplatz, damit ich ihm hin und wieder etwas zu Essen vorbeibringen konnte. Vor allem, seit das mit seinem Auge passiert war. Weil ihn niemand abgelöst hatte, war er bei der Arbeit eingenickt. Der Zeiger überschritt den Grenzwert, und die Schweißnaht wurde an einer Stelle undicht. Ein Zischen weckte ihn abrupt. In dem Moment spritzte ihm eine stinkende, heiße Flüssigkeit ins Auge. Da keiner wusste, was für ein Zeug das war, konnte Jakos Auge nicht behandelt werden. Es wurde matt und erblindete. Seitdem trug er eine Augenbinde und mir lief es kalt den Rücken hinab, wenn ich ihn in seiner gewohnten Erstarrtheit von den Uhren sitzen sah. Verdrängte er alles? Über was dachte er nach und was hatte er gemeint, als er sagte, es würden wichtigere Dinge kommen?
Das Bedürfnis, ihn darauf anzusprechen wurde immer dringender. Ich passte ihn ab, als er wieder bewegungslos auf die Zeiger starrte und brachte ihm Suppe. Er freute sich und stöhnte erleichtert auf. Ich sah zu, wie er gierig löffelte, ohne den Blick von der Uhr zu lassen. Nudeln klebten ihm am Kinn, die er hin und wieder mit dem Löffel abkratzte.
„Bringt dir außer mir niemand das Essen?“, fragte ich.
„Nein“, erwiderte er knapp.
Ich hockte mich auf den Boden und sah zu ihm auf. Er hatte seine Beine eng aneinander gepresst, damit der Teller gerade stand. Mit der linken Hand hielt er den Tellerrand fest, die Suppe triefte ihm vom Kinn und tropfte in den Teller und auf seine Oberschenkel. Er erinnerte mich an ein Tier, von dem mir einer der Älteren erzählt hatte. Er nannte es Hund. Es hatte eine lange Zunge und ein Fell. Manche von diesen Tieren hatten so lange Ohren, dass sie, wenn sie nicht aufpassen, aus Versehen beim Fressen hinein bissen. Der Alte zeigte mir ein zerknittertes Papier, er nannte es Foto, auf dem ich mir das Tier ansehen konnte. Es schlabberte aus einem Napf Wasser.
„Was glaubst du, wie lange du diese Arbeit noch aushältst?“, fragte ich.
Jako hielt mit dem Essen inne. Für einen Moment vergaß er die Uhr und sah mich mit seinem Auge so durchdringend an, bis mir die Hitze in die Ohren stieg.
„Was meinst du… wie lange wirst du deine aushalten?“, flüsterte er.
„Es gibt nichts anderes“, wich ich aus.
„Du denkst wohl nicht oft darüber nach, was?“
Ich schüttelte den Kopf. „Die Arbeit ist immer gleich. Sie ist durchschaubar. Vielleicht werde ich irgendwann in eine andere Halle geschickt und muss etwas anderes machen. Aber auch das wird etwas sein, was ich mit meinen Händen bearbeiten kann. Ich kann es fühlen, schmecken. Ich weiß, ob es hart oder weich ist. Du aber weißt nichts. Die Rohre lassen dich dein Leben lang im Ungewissen. Du weißt nichts über sie.“
„Das will ich auch nicht. Sie sind unwichtig.“
Verwirrt schaute ich ihn an. „Sie haben dir das Augenlicht genommen. Natürlich sind sie für dich wichtig!“
„Wenn du zulässt, dass dich etwas beherrscht, dem du nicht gewachsen bist, verlierst du dich.“
„Aber es wird dir nichts anderes übrig bleiben. Eine andere Arbeit gibt es nicht für dich.“
„Ich hau ab!“, presste er hervor.
„Wie meinst du das? Willst du dich verstecken?“ Erschrocken hielt ich eine Hand vor den Mund.
Plötzlich sprang er auf, der Teller glitt ihm vom Schoß und zerbrach auf dem Boden. Er packte mich am Arm und riss mich hoch. „Es gibt etwas, eine Welt, die ganz anders ist. Die du und die anderen nicht kennen. Eine Welt, in der keine Rohre von der Decke hängen, weil es keine Decken gibt. Wenn du in dieser Welt lebst, kennst du keine Grenzen. Es gibt keine Wände und über dir ist ein Stern, der dir leuchtet. Abends verschwindet er, niemand stellt ihn ab. Es wird von alleine dunkel und jeden Morgen taucht der Stern wieder auf. Niemand stellt ihn an. Über dir ist es unendlich weit, aber unter deinen Füßen hast du festen Boden und du kannst gehen, soweit du willst.
Ich verstand nicht. Sein Gesicht machte mir Angst. Sein Auge wurde riesengroß, dass ich fürchtete, es würde es ihm aus dem Höhle fallen. „Jako, Jako, hör auf! Du bist ganz rot im Gesicht!“, rief ich.
Endlich ließ er meinen Arm los. „Du wirst sehen… eines Tages bin ich weg.“
„Wann wird das sein?“, fragte ich unsicher.
„Bald! Willst du mit?“
Ich schüttelte entsetzt den Kopf.
„Hast du Angst?“
Ich wich vor ihm zurück. „Ich will nicht in einer Welt leben, die ich mir nicht vorstellen kann!“, rief ich.
In dem Moment schrillte die Glocke, die Mittagspause war zu Ende. Ich rannte die Gänge entlang, als könnte ich vor dem, was er mir gesagt hatte, davon laufen.

Jakos Worte verfolgten mich wie Geister. Dass es angeblich eine Welt außerhalb meiner Vorstellungskraft gab, beunruhigte mich zutiefst. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich ihm weiterhin sein Essen brachte, wenn er wie versteinert vor den Uhren saß. Er war dankbar wie immer, doch niemals wieder sprach er über seine Gedanken.
Eines Tages jedoch rührte er sein Essen nicht an. Die Suppe, die er achtlos auf den Boden gestellt hatte, hörte auf zu dampfen und wurde lau. Ich stand schweigend daneben und wartete auf eine Reaktion, auf ein Zucken der Mundwinkel, auf ein Zeichen, dass er mich wahrgenommen hatte. Doch erst als die Glocke zur Arbeit rief, schaute er mit blassem Gesicht zu mir auf.
„Willst du mit?“, flüsterte er.
Ich starrte ihn verstört an und schüttelte den Kopf. Er senkte enttäuscht den Blick und nickte kaum merklich.

Damals wusste ich nicht, dass ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte; denn am nächsten Tag war er verschwunden. Keinem war etwas aufgefallen, kein Mensch wusste etwas. Er erschien nicht bei der Arbeit, die Uhr an dem Rohr blieb unbewacht. Als es platzte, hallten überall die Alarmsirenen. Jakos Name tönte streng aus Lautsprechern, finster dreinschauende Wachmänner rissen jeden Schrank auf, stocherten im Warenlager mit Stäben zwischen den Blöcken aus Rohmaterial. Als sie nach einem halben Tag nicht fündig wurden, sperrten sie uns in den Arbeitshallen ein, befragten uns, bedrohten uns.
Ich beobachtet sie genau: keiner der Wachmänner legte den Kopf in den Nacken und beachtete die Rohre an der Decke. Niemand klopfte dagegen und legte sein Ohr darauf.
Jako hatte sich von den Rohren befreit und ich war die einzige, der er seine Gedanken erzählt hatte.
Was wäre gewesen, wenn ich mit ihm gegangen wäre? Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen ins Dunkel starrte, versuchte ich mir Jakos Welt vorzustellen: Meine Füße berühren festen Boden, über mir formlose Weite. Ich wage keinen Schritt, ich fürchte zu stürzen, weil keine da Wand ist, die mich umgibt. Ich rufe nach Jako, weil ich mich verliere, je länger ich stehe. Ich fange an zu weinen. Ist das tatsächlich Jakos Welt? Dieses furchtbare Gefühl des Formlosen, des Grenzenloses? In seiner neuen Welt stelle ich mir Jako schwebend vor. Wie könnte es auch anders sein ohne Wände, ohne Decken? Wie kann er so etwas wollen, wie kann er so glücklich sein?
Tränen tropften mir von der Wange und versickerten in meinem Kopfkissen. Vielleicht schaffte ich es eines Tages, meine Füße loszulassen und in die Weite zu laufen. Vielleicht würde ich Jako finden.
 



 
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