Jasmin

D

Deltabravo

Gast
Hoch über dem Feuer spitzt sich im mächtigen Trieb eine neue, fliegende Flamme hervor. Die jungen Herzen jubeln, werden bedürftig. Gehen über sich selbst hinaus. So ist ihr Weg und Ziel, ihr innerster Wille, den sie in sich tragen, ohne es zu wissen.

Jasmin

Kapitel 1

“Herr Grünlaub, es ist schon dunkel!” brummte eine Alte Stimme und brachte eine brennende Lampe ins Zimmer. “Das hätten Sie nicht machen sollen... nun müssen sie fort... ein Dach über den Kopf ist gut zu haben, und für einen Verwitweten mit Kind sowieso!” Sie trocknete ihr Augen mit der Schürze.
Der Mann zu dem sie sprach war vom Lampenlicht umhüllt, das Kind lag ihm schlafend im Arm. Er war Jung und hager. Straffes Haar stieg von seiner Stirn auf. Das Gesicht unregelmäßig, das Heftige, trat hervor, und etwas Hilfloses, wie er das schlafende Kind hielt.
“Herr Pfarrer, unser Gott schaut nicht drauf, ob ein Priester alles am Schnürchen hat, wie es geschrieben steht. Für Sterbende und Lebende ist das gut. Was würde Ihre Frau sagen, was Sie dem Landesbischof und unseren Herrgott alles vor die Füße geworfen haben? Und in die Fremde mit dem Kind, ihrem ein und alles!”
“Das verstehst du nicht.” Sagte der Mann.
Das Kind erwacht und haspelte sich aus den Armen des Mannes, machte große, unbewußte Augen. “Mutti! ... Mutti!” sagte es langsam wie im Traum.
“Ach sowas? Du hast das Kind aufgeweckt.” Er erhob sich und gab es der Alten. “Bringst du sie ins Bett?”
Er nahm sein Hut, und stürzte fast zur Tür hinaus.
“Ja... ja... so ist es.” Die alte Frau nahm das müde Kind sanft an sich.

Stefan Grünlaub lief, in die tiefe Dämmerung hinaus. Um dunkeln Himmelsgewölbe begannen die Sterne zu funkeln. Die geheimnisvolle, königliche Herrlichkeit der Nacht drang ungeheuer hervor. Erste Herbstluft ließ ihn krankhaft frösteln. Er ging den Wiesen Weg, der zum Dorf führte. Lichter aus niederen Fenstern scheinen fast lichtlos rot.
Tränen drangen in seine Augen, er gehörte nicht mehr her.
Die alte Frau hatte recht... die meisten Amtsbrüder ging es so, und sie fanden sich damit ab. Sie verrichteten ihr Amt wie andere Beamte, so gut wie es ging, und die Zeiten der Zweifel milderten sich. Man fand sich ab, wurde von eigener Redenkraft überzeugt. Man hörte sich gern reden, wurde von sich selbst fortgerissen und gerührt.
Aber er hatte das nicht abwarten können. Als ihm sein Liebstes auf Erden starb, gab es für ihn keinen Halt mehr.
Wie sollte ein Verzweifelter trösten und helfen, der sich selbst nicht helfen kann.
Stefan Grünlaub stieg kleine Erhöhung, auf der seine uralte Kirche stand. Um den schweren Turm, funkelten die ewigen Sterne, als wäre der ganze leuchtende Himmelsmantel nur da, um diese geheimnisreiche, nächtliche Schatten königlich zu umgehen.
Nächtlicher Schauer ergriffen ihn, er neigte den Kopf und ging langsam weiter. Vor einem Häufchen Erde machte er halt, und auf dem armen kleinen Hügel brach er zusammen. Er umschlang die Erde, auf der ein feuchter Kranz und kühle Blätter lagen, und legte seinen Kopf wie an der Liebsten Brust.
“Es ist geschehen”, sagte er, “ich bin jetzt frei, und ich gehe mit unserem Kind in die Welt hinaus... wir machen es schon, ängstige dich nicht, meine Liebe.” Und nach eine Weile, leise, kaum hörbar, “Elisabeth, wo bist du?”
Stefan blieb unter den Sternen stehen, im festen Glauben schaute tief in die Erde hinein, verjagte mit wilder Kraft Tod und Verwesung und sah die Geliebte Frau ruhen. Jung, zart, als läge sie auf dem Bett neben ihm, ganz in Liebe gebettet. Und jetzt beobachtete er wie sein Kind geboren wurde. Angst spannte sein Herz. Nun schwand das bange Bild mit all seinen Geheimnissen, und er lag wieder tief in der Erde am geliebten Herzen.
“Elisabeth, ich bin ohne Heim, und unser Kind auch, aber ich schwöre dir bei allem, was dir heilig ist, es soll eines haben.”
Über ihm wogte der nächtliche Sternenmantel, hüllte den Hügel, die Schattenmauern der Kirche und ihn selbst.
Dann steht er auf, und ging die Stufen, die zur Dorfstraße führten, hinab.
Im ersten Haus, an dem der Kirchen Weg vorüber führte, war das Licht noch nicht gelöscht. Dort liegt alter Bauer Prudnik, nicht leben und nicht sterben können!
“Herr Pfarrer! Ich denke es geht dem Ende zu, treten Sie ein, und Reden Sie mit meinem Mann.”
“Ich bin kein Pfarrer mehr!”
“Ach, ich weiß! Das hätten Sie nicht tun brauchen! Wir waren mit Sie ganz zufrieden!”
In dumpfer Stube fand er hageren Bauer, Stefan hatte für den Alten etwas übrig gehabt. Der Bauer war eine echte Sorgsamkeit, und mit Leib und Seele dem Hof gehörte. Jetzt lag er und rang sich vom Hof los. Von seinen Adern und dem Dunst der Ställe. Der Pfarrer nahm die schwielige, feuchte Hand, wie ein guter Sohn seines sterbenden Vaters. Er streichelte sie und hielt sie fest. Nach einer Weile sagte der Bauer: “Schweigen, ich... ja... ja...” die Stimme war gebrochen, die Augen sahen nicht mehr.
Stefan fühlte eine wunderliche Freiheit, fast wie der Sterbende. Das Amt fiel von ihm in dieser wertlosen Stunde ganz ab, wie vom Bauer der Hof. So ging er mutig in sein Heim zu, das er aus freiem Willen verlassen wollte.


Überwunden hatte der junge Stefan, Hemmungen und Schwierigkeiten. Schwere Wege und Entschlüsse, Niederlagen aller Art. Wenig Aufmunterung, wenig Anschluß, seit er die Kirche und das Elisabethgrab verlassen hat.
Dies und jenes war versucht, und wieder aufgegeben. Die Alte Magd hatte recht, “Witwer mit Kind hat schwer, wenn das Dach über seinem Kopf in weiter Ferne ist.”
Als Lehrer in einem Heim war er, nach endlosem hin und her, endlich angestellt worden.
Als er das Kind zum ersten Mal wieder zu sich emporhob, schaute es ihn mit fremden Augen an. Er hatte viel versäumt. Eine kleine Seele war wacher geworden. Stefan vermißte die süße Hilflosigkeit, das Händchen, das in die Luft langte, wenn das Kind sich nicht gut forthelfen konnte, als wären überall hilfreiche Hände um es her. Es war etwas Aufrechtes in sein trautes Kind gekommen. Es hatte schon allein gestanden unter Fremden, hatte seine Erlebnisse gehabt, die er nicht kannte. Haben ihn die Fremden getröstet, wenn es weinte? Forschend und wehmütig blickte er in das kleine Gesicht, suchte nach den Zügen, die ihm hier wieder aufblühen sollten. Jasmin schlang die Ärmchen um seinen Hals und rief fast heftig: “Lach!”
Stefan lächelte es an und spürte die nähe seiner gestorbenen Frau. Aber der seltsame Ernst, der wie Dämmerung über das Kindergesicht gezogen war, hatte er noch nie auf dem lebendig heiteren Gesicht der Mutter gesehen.
Da war etwas in seinem Kind gewachsen, was er noch nicht gekannt, das ihm selbst wohl zugehörte und das er mit Sorge empfand.

Der Zeit ist gekommen, wie er sich, nach allen Erfahrungen, kaum hätte vorstellen können. Sorglos, tätig, unter froher Jugend. Der Verkehr mit den Lehrern der Anstalt war kameradschaftlich frei. Sie hatten das Gefühl, als wären sie einem Schritt vorwärts gekommen oder als wären sie einem bösen Zwang oder einer brückenden Feindschaft und Last entflohen. Es herrschte ein freimütiges Vertrauen zwischen Lehrern und Schülern. Ein Dual, die sonst die Schulträume erfüllte wie etwas Giftiges, war hier nicht zu spüren.
Es ließ sich hier leben. Sich herauskristallisieren, ohne Bosheit und Hast.
Elisabethskind Jasmin, lief unter Buben mit dahin, wurde von ihnen behandelt wie ein kleines hilfloses Wesen. Sie spielten mit ihr, bemutterten und neckten es. Und sie lachte, freute sich und war vergnüglich.
Stefan Grünlaub fühlte sich beruhigter, seine Gesundheit schien sich zu heben, und es verging ein paar gute Jahre friedlich und tätig in ländlicher Freiheit.
Da brach das Krankhafte deutlicher in ihm hervor. Ein Lungenleiden hatte ihn vor Jahren mit Bangigkeit erfüllt. Und jetzt plötzlich an Deutlichkeit zunahm und ihn zwang, seine Tätigkeiten wieder aufzugeben.

Im Vorort von München, hatte Stefan eigene vier Wände gefunden. Und arbeitet jetzt bei einem Rechtsanwalt, nebenbei fertigt auch allerhand Schreibarbeiten zu Hause.
In einem großem stillen Park, an einem Sommerdämmerabend, geht Stefan mit Jasmin spazieren. Wer ihnen begegnete, schaut empfindsam nach. Die schwer bewegliche Gestalt des Kranken Mannes, und daneben ein schlankes, blühendes Kind, von zehn Jahren, wie eine Rosenblüte leuchtend und lachend, berührt die Menschliche Augen.
Ein Paar geht an ihnen vorüber.“Leben und Tod,” sagte die Frau leise. “Als ginge das Leben unbeschwert mit dem Tod zusammen.” Und sie hängt sich an ihren Begleiter fester ein.
“Erzähl mir von Mutti.” Sagte Jasmin.
“Von Mutti? Ja...aber was?,” fragte seine heiser, matte Stimme. “Was soll ich hier erzählen? Das sie sich aus meinem alten Mantel ein Regenmantel machen ließ, das habe ich dir schon so oft erzählt. Von meine schwarze Priesterkappe hatte sie sich ein Kleid zurechtgestutzt. Und wie sie auf ihrem Fahrrad dahinfährt...”
“Sie hatte ein Rad?” sagte fragend Jasmin.
“Und wie sie fuhr! Im Pastorenregenmantel, in der Pastorenkappe, das ging doch nicht! Habe ich immer gerufen. Sie lachte: “aber Schatz! Du weißt doch, das sie mich so nannte.”
“Ja, ja!” flüsterte Jasmin und schmiegte seinen Kopf an den Arm des Vaters. “So süß! Schatz! Ach, ich möchte dich auch Schatz nennen”
Stefan mußte husten, Jasmin hielt ihn schirmend und teilnehmend. Sie ließen sich auf einer Bank nieder.
“Hier bleiben wir, bis du dich erholt hast. Rasch wird dir gut.”
“Ja freilich.” Sagte er.
“Und wenn dir wieder gut geht, dann erzählst du mir was Neues, was ich noch nicht von Mutti gehört habe, und von dir natürlich. Aber weißt du, Mutti ist mehr für Kinder, da fühlt sich jedes Kind geborgen, als liege er in eigenem Bettchen. So hübsch müde und zu Hause.”
Stefan schaute auf sein Kind. Diese Worte haben ihn ins Herz getroffen.
Wohin gehst du? Wo ist dein Lebensrecht? Wo ist deine Zugehörigkeit, du einsamer Mensch?
“Nun,” sagte Jasmin, “ist dir wieder besser?”
“O ja!”
“Dann?”
“Ja! Etwas, was ich noch nie erzählt habe, sagst du? Ja?” Stefan schweigt. “Du wirst es schon verstehen,” sagte er nach einer Weile. “Als Mutti und ich vom Pfarrer in der Kirche getraut waren, da fuhren wir in einem Wagen mit zwei alten Pferden, zur Mutti von Mutti. Da erwartete uns eine Hochzeitsgesellschaft und eine schöne Hochzeitstafel.”
“Was ist das?” fragte Jasmin.
“Na, ein schön gedeckter Tisch mit Blumen und Wein und zwei Torten standen darauf. An dem sollte dann feierlich gegessen werden. Braten und Eingemachtes, Fisch und lauter gute, Schmeckhafte Sachen.”
“Schön,” sagte das Kind und rückte ganz nahe. ”Das gefällt mir.”
“Wir fuhren in dem Wagen durch die Straßen, und mir war gar nicht feierlich zumute. Denn von jetzt an, gehörten die Mutti und ich für immer zusammen. Was man so für immer nennt, da war es mir, als mußte Mutti irgend etwas Liebes, Ernstes sagen, etwas von Freude sagen wie lieb sie mich hätte. Aber sie sagte nur “ Schau, jetzt nickt die alte Magda zu uns und lacht.” Oder “Schau, das ist unsere Bäckerin, der Metzger, die lauern alle schon.” Immer, wenn die, ́schau` sagte, da stieß sie mich an. Und endlich fragte ich sie, willst du mir nichts sagen, mein Liebling, was denkst du? Da schaute sie mich an, und ich konnte in ihren Augen, alle Vögel, frohe unschuldige junge Tiere und junge Menschen, sehen. So das ich erschrocken war, und sie rief: Trari, trara! Hura! Halli! Hallo!
Das war aber auch alles was sie mir zu sagen hatte. Und ich dummer Mann wollte etwas von ihr hören, wie ich es mir zurechtgelegt hatte. So etwas Spießiges, Althergebrachtes, jawohl! Ich schämte mich vor ihr.”
Stefan versengte in Erinnerungen.
“Trari! Trara!” hörte er an seiner Seite aufjauchzend. “Halli! Hallo!” Und ihr kleiner Kopf legte sich an seine Brust, und er fühlte ein Schluchzen, eine Wehklage seines Kindes.
“Schön,” sagte Jasmin. “Aber kühl ist geworden, rede nicht mehr, wir müssen jetzt heim.”
Sie gingen schweigend miteinander, jedes von ihnen seinen Gedanken nachhängend.
Daheim machte Jasmin, ohne das es ihr gewiesen wurde, ein kleines Sommerfeuer im Ofen. Kranke Stefan war müde geworden. Er saß auf seinem gewöhnlichen Platz vor der Schreibmaschine auf einem Lehnstuhl, der ihm ein ruhendes Zurücklegen erlaubte, wenn er von der Arbeit ermüdet war.
Jasmin hantierte im Zimmer still und traulich, ging leise ein und aus. Hin und wieder traf ein Blick den schweigenden, ermatteten Vater, ein Blick über die Jahre des Kindes hinaus, kameradschaftlich und voll Mitleid.
“Jasmin,” sagte der kranke, “komm her und setzt dich. Schau, ich habe einen Brief bekommen.” Er kramte auf dem Tisch zwischen seinen Papieren. “Und der Brief geht dich an. Weißt du, wir sind nur zwei. Darum habe ich mich umgesehen bei Verwandten von Mama. Ich wollte etwas erfahren, was vielleicht gut für dich ist. Ein Onkel in Muttis Familie, ein Kaufmann in Bautzen, der hatte viel Geschwister. Alle haben in einem Haus gelebt, in dem ein Heilige gestorben war. Sie waren gewohnt, das alle, die an ihrem Haus vorübergehen, sich bekreuzigten und verbeugten, weil es ein heiliges Haus war. Sie waren stolz, aber arm und kärglich. Mußten sich in der Welt durchschlagen, was es Beschwerliches gab, das mußten sie ergreifen, denn zu etwas Gewinn bringen langte es nicht. Keiner konnte studieren. Hoheiten konnten sie nicht werden, so anstellig und voll Witz und Humor sie auch waren. Denn alle hatten etwas Besonderes an sich. Das kam, sagte man, weil man sich vor ihnen verbeugt und bekreuzigt hat. Aber nur eine von den Brüdern machte das große Glück. Er wurde ein, Handelskaufmann in Bautzen, steinreich und blieb Jungeselle. Und konnte in Ruhe zusehen, wie seine Geschwister, eine ganze Sintflut von Kindern bekamen, sagte Mutti. Mit denen sie sich herumzerrten, von denen sie gewissermaßen bei lebendigem Leibe aufgefressen wurden. Und so machte der reiche Handelskaufmann eine Stiftung für seine Verwandten. Der alte Mann besaß einen weitläufigen Edelsitz in der Nähe eines Tiroler Städtchens und nannte ihn Sonnenland. Belohnte den Edelsitz reichlich, bis auf den heutigen Tag. Die Stiftung besteht über hundert Jahre, und ist immer noch eine gute und segensvolle Sache. Nachkommen finden sich noch immer, auch Mutti war eine, und von ihr habe ich die hübsche Geschichte. ́Armut ist dort kein Hindernis, im Gegenteil sagte sie immer.”
“Aber das sind allerhand sonderbare Dinge. Der alte Handelskaufmann hat Formen vorgeschrieben, wie sie sich untereinander zu begrüßen haben, sie müßten bestimmte Feste miteinander feiern. Solcherlei Dinge. Das ist zu weitläufig jetzt, wenn ich dir das alles erzählen wollte, vielleicht andermal. Aber in dem Briefe hier steht, das wir beide in dem Haus Sonnenland aufgenommen würden, wenn wir wollen. Denk dir, mitten zwischen herrlichen Bergen, Weinbergen, Obstanlagen, Feldern und Wiesen, unter blauen Himmel ohne Kälte. Arbeiten müssen wir alle und was wir können, um das Sonnenland zu erhalten. Ich würde Schreibearbeiten übernehmen.”
Der Kranke Stefan war außer Atem, ein heftiger Hustenanfall erschütterte ihn. Er hatte für sich behalten, das von ihm und seine Schreibarbeiten nicht die Rede war. Nach seinem Tod aber konnte sein Kind in der Stiftung aufgenommen werden.
Jasmin saß still, als wußte sie, was der Vater ihr schmerzvoll verschwieg.
Er nahm den Brief und sagte: “Siehst du, damit du weißt, wo er liegt. Hier in dieses Schubfach, lege ich ihn hinein, vor deinen Augen, vergiß das nicht.” Stefan reichte dem Kind die Hand, um der Angelegenheit Weihe zu geben. Jasmin fragt nicht, sie blieb still.

In dieser Nacht hörte sie ihm, als spräche der Vater nebenan. Jasmin schlief bei offenem Fenster, die milde Sommernacht drang herein. Sie stand leise auf und schlich auf bloßen Füßen, unhörbar wie ein Schatten, zur Tür, öffnete sie vorsichtig. Hier war kein Fenster offen, dunkel und gedrückte Dumpfheit war es in beiden Zimmern. Sie sieht den Vater im Bett sitzend, und sie hörte ihn halblaut, angstvoll, abgebrochen vor sich hinsprechen. Er suchte nach Worten, seine Stimme war fiebrig, klappernd, wie zerbrochener Glockenklang.
“Ich wälze mich so, und wälze! Grauenhafte leere! Ich finde dich nicht! Ich fühle dich nicht! Der Welt ist furchtbar! Mein Kind! Mein Kind!”
Der Schrei ist deprimiert, sorgsam, gedämpft.
War das ihres Vaters Stimme? Große Angst umgab das Kind. Die fremde trostlose Stimme packte Jasmin wie mit Fäusten. Sie kroch vor Grauen ganz in sich zusammen. Ihre Beine trugen sie nicht. Wie ein Hase kauerte Jasmin, und über sie hin ging ein trauriges Meer, das sich aus einer anderen Seele ergoß, aus der Seele dessen, der dem Kind alles auf Erden war.
Die Seele des Sterbenden war unmeßbar gottverlassen.
Und der Vater redet weiter: “Du hast mich im Finstern gelassen mein ganzes Leben lang... auch jetzt bleibe ich allein. Schwer ist es, dich zu finden, Herr Gott! Sehr schwer!”
Dann sank der Schatten matt in die Kissen zurück. Und nahe ihm lag das weiße Bündel am Boden, ganz aufgelöst in Liebe und Grauen, eine kleine Hasenseele, die zu dem Gottverlassenen wollte, und nicht konnte. Jasmin konnte nicht aufstehen, sie lag ohne Kräfte.
Mit letzter Stärke stand sie auf und ging als Opfer seiner Überwindung zum Vater.
“Vater,” sagte sie leise und vor Angst zittern. “Vati, du bist nicht allein, ich habe dich doch lieb! Halt dich nur fest an mir.”
Der Gott hatte ihm seinen stärksten Engel geschickt, den er hatte. Er umschlang sein Kind, und hielt sich fest am ihm, als wüßte er, welch ein Wunder ihm geschah und wurde ruhiger. In seinem müden Kopf, in dem es sich gewälzt hatte, tauchten die heiligsten Worte auf, die je ein Mensch für die tiefen göttlichen Geheimnisse gefunden. “Der nie Entsprossene, Unausgesprochene. Durch alle Himmel Gegossene.”
Es wurde still im dem sterbenden Menschen. Stefan fand noch Schlaf in dieser Nacht.
Aber Jasmin verläßt ihn nicht, sie holte eine Decke und hockt sich auf den Vater Lehnstuhl zurecht. Mut und Kraft der Liebe haben der Vater und die Tochter geschafft, müde schliefen sie ein.
Die beiden Schläfer fand bei Sonnenanfang eine Nachbarin, die, der kleine Hauswirtschaft von Stefan und Jasmin Grünlaub besorgte.
Stefan Grünlaub war nicht mehr am Leben. Die Frau nahm das Kind sachte auf ihren Arm und trug sie in sein Zimmer aufs Bett. Sie blieb bei ihr bis sie ganz wach wurde, dann sagte sie: “Kind, dein Vater ist zu Gott gegangen.” Jasmin schaute die Frau an und verstand nicht, was die Frau meinte.
“Gegangen?” fragte sie leise.
“Ja! Jasmin, er ist gegangen!”
Da kam die Verlassenheit, das Unbegreifliche. Jasmin verbarg sein Gesicht im Kopfkissen, preßte es fest hinein, klammerte sich mit beiden Händchen an das, was sie gerade griffen und lag wie erstarrt. Und wieder ging ein dunkles Meer über das Kind hin. Früh bekam es vom Leben zu kosten.
Die einfachen Leute im Haus nahmen sich des Toten und des stillen, guten Kindes an. Jasmin ging mit ihnen zum Begräbnis, tat alles, was sie wollten, saß bei ihnen im Wohnzimmer, weinte sehr wenig, und war wunderlich still.
Nach einigen Tagen schickten die Leute Jasmin wieder in die Schule.
Sie fühlte sich in Einsamkeit gefangen. Noch am selben Tag geht sie sehnsüchtig in dem stillen Park auf den Wegen, die sie vor dem Tod des Vaters mit ihm gegangen war. Sie setzt sich auf die Bank, auf er so müde und krank gesessen hatte, und fast sieht sie ihn körperlich. Ihre Augen und ihr Herz ist noch von unerhörter Sehnsucht erfüllt. Sie denkt mit Furcht an jene allerletzte Nacht. Hört wieder die fremde, schauerliche Stimme, das Bild des Vaters entschwindet. Dann aber fühlt sie sein zärtliches Streicheln und leises, zärtliches Sprechen. Da denkt sie an die letzte Geschichte von Mutti, trali! Trala! Trali!
Und jetzt singt sie ängstlich und anspannend... trali! Trala! Trali!...kaum hörbar. Im Hals schnürt sich etwas zusammen und in die Augen schießen die Tränen und bleiben darin stehen.
Und dann denkt sie zum erstenmal wieder an den Brief, den der Vater in die Schublade gelegt hat.
 



 
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