Gottschall
Mitglied
Jede Minute ein neuer Tag
Kleinen, unsicheren Schrittes quält sich Martina die Beethoven
Allee hinunter. Als sie noch ein lebendiges Kind war, ging sie
diesen Weg sehr gern. Den Heimweg. Zuhause warteten ein
gut ausgestattetes Zimmer, warme meist wohlschmeckende
Mittagskost, das offene Ohr des Vaters und der offene Mund
der Mutter.
Doch diese Art des Lebenswandels ist bekannt
kurzlebig. Martina hat sie abgestoßen, wie die Schlange ihre
Haut. Nun ist sie im Besitz einer schicken Stadtwohnung mit
einem noch schickeren Mann dazu. Ach ja, und einen Sohn
gibt es auch noch. Ein rechtes Scheusal. Auch in der
Beethoven Allee hat sich vieles geändert. Ihr Vater wohnt nicht
mehr dort. Er ist verschieden. Warmes Essen wartet ebenso
nicht. Wer wartet ist die Mutter, die an diesem Ort im eigenen
Safte brät. Jedenfalls wartet sie auf Martina, wenn sie sich mal
an sie erinnert. Das wird seltener. Da hilft alle Mutterliebe der
Welt nicht. Liebt sie jedoch gerade nicht ihre Tochter, dann
hält sie Martina zumindest für eine “nettes Mädchen, dass manchmal zu Besuch kommt“.
Welche dieser Varianten vorliegt, das ist Martina ganz gleich. Der vorrangige Wert der Mutter beschränkt sich auf die Summe
des ausgezahlten Pflegegeldes. So ist es moderne
Kindermanier. Martina bleibt auf diese Weise wenigstens in
Kontakt mit der Mutter. Die Beauftragung eines Pflegedienstes
oder gar ein teures Heim braucht sie nicht. Die Karrierefrau
wirtschaftet selbst. Der gierige Sohn und die Wohnung
verschlingen ohnehin das ganze Geld. Der Mutter reicht das
Nötigste. So ist es Martina genehm. Zeitweise fragt sich
Martina, wie sie ohne das Alzheimer der Mutter auskommen
konnte. Wellen kalter Schauer plagen sie, wenn sie von neuen
besseren Behandlungsmethoden hört. Und dann erinnert sie
sich doch wieder. Die verdammte Plackerei, das alte Muttertier
am Leben zu erhalten. Jeden Tag kommt sie einmal vorbei.
Auch Pflegegeld hat Auflagen. Es ist wie mit dem Lohn. Streng
kalkuliert ist es ein geringer Sold. Seit langer Zeit kostet die
alte Frau noch mehr. Auf Rat eines Vogeldoktors führt sie
Tagebuch. Welch eine Schnapsidee, bedenkt man, dass sie
vier bis fünf Einträge pro Tag verfasst. Eine Ursache des
kurzen Gedächtnisses. Mittlerweile lebt die Frau schon im Jahr
2044. Aber vergessen hat sie das Tagebuch noch nie. Da
verbraucht sie Tinte und Papier. Voller Zorn über all diese
großen Sorgen betritt Martina das Haus am Ende der
Beethovenallee. Auf einen Schlag wird sie zur Altenpflegerin
auf Zeit und durchstreift die Wohnung. In irgendeiner Ecke
muss die Mutter ja sitzen. Neben dem Kühlschrank wird sie
fündig. „Da kauerst du, Alte!“, krächzt Martinas
Raucherstimme. Die Mutter, lächelnden Gesichtes, antwortet
überbetont: „Guten Tag, dass ist aber schön, dass Sie mich
besuchen kommen, junge Frau.“ Martina reißt die alte Dame
vom Boden und schleudert sie auf einen Küchenstuhl. Voll
Aggression befreit Martina einige Stellen des Tisches von
insgesamt einem Quadratzentimeter staubbedeckter Fläche
und holt die Post. Gute Nachrichten gibt es nicht. Demnächst
steht eine Pflegeprüfung an. Das fehlte Martina noch. Ein
ganzer Nachmittag wird vertan sein.
Darauf, zwei Wochen später, kommt die Amtsdame auch
schon. Martina und ihre Mutter mutieren zu besten
Freundinnen. Ein rührseliges Bild bietet sich. Und fast schon
ist die Dame, Frau Beust heißt sie, von der Qualität Martinas
Arbeit überzeugt. Da entdeckt sie auf dem kleinen Tischchen
in der Stube den Höhepunkt der Inspektion. Ein Stapel
hübschgebundener Tagebücher. „Das müssten Sie mal
veröffentlichen.“, witzelt die Dame beim Aufschlagen eines
Buches. Martina heuchelt: „Da habe ich auch schon dran
gedacht.“ Da verdunkelt sich die Mine der Amtsdame. Zornig,
ohne Abschied geht sie von dannen. Im Auto liegt ihr Handy.
Ein Anruf ist zu tätigen. Zwei Wochen später waren die Mutter
im Heim und das Pflegegeld verloren. Und warum? Nun im
Tagebuch hatte die Mutter vermerkt, drei Tage keinen Besuch
bekommen und damit nichts gegessen zu haben. Eine Unerhörtheit.
Kleinen, unsicheren Schrittes quält sich Martina die Beethoven
Allee hinunter. Als sie noch ein lebendiges Kind war, ging sie
diesen Weg sehr gern. Den Heimweg. Zuhause warteten ein
gut ausgestattetes Zimmer, warme meist wohlschmeckende
Mittagskost, das offene Ohr des Vaters und der offene Mund
der Mutter.
Doch diese Art des Lebenswandels ist bekannt
kurzlebig. Martina hat sie abgestoßen, wie die Schlange ihre
Haut. Nun ist sie im Besitz einer schicken Stadtwohnung mit
einem noch schickeren Mann dazu. Ach ja, und einen Sohn
gibt es auch noch. Ein rechtes Scheusal. Auch in der
Beethoven Allee hat sich vieles geändert. Ihr Vater wohnt nicht
mehr dort. Er ist verschieden. Warmes Essen wartet ebenso
nicht. Wer wartet ist die Mutter, die an diesem Ort im eigenen
Safte brät. Jedenfalls wartet sie auf Martina, wenn sie sich mal
an sie erinnert. Das wird seltener. Da hilft alle Mutterliebe der
Welt nicht. Liebt sie jedoch gerade nicht ihre Tochter, dann
hält sie Martina zumindest für eine “nettes Mädchen, dass manchmal zu Besuch kommt“.
Welche dieser Varianten vorliegt, das ist Martina ganz gleich. Der vorrangige Wert der Mutter beschränkt sich auf die Summe
des ausgezahlten Pflegegeldes. So ist es moderne
Kindermanier. Martina bleibt auf diese Weise wenigstens in
Kontakt mit der Mutter. Die Beauftragung eines Pflegedienstes
oder gar ein teures Heim braucht sie nicht. Die Karrierefrau
wirtschaftet selbst. Der gierige Sohn und die Wohnung
verschlingen ohnehin das ganze Geld. Der Mutter reicht das
Nötigste. So ist es Martina genehm. Zeitweise fragt sich
Martina, wie sie ohne das Alzheimer der Mutter auskommen
konnte. Wellen kalter Schauer plagen sie, wenn sie von neuen
besseren Behandlungsmethoden hört. Und dann erinnert sie
sich doch wieder. Die verdammte Plackerei, das alte Muttertier
am Leben zu erhalten. Jeden Tag kommt sie einmal vorbei.
Auch Pflegegeld hat Auflagen. Es ist wie mit dem Lohn. Streng
kalkuliert ist es ein geringer Sold. Seit langer Zeit kostet die
alte Frau noch mehr. Auf Rat eines Vogeldoktors führt sie
Tagebuch. Welch eine Schnapsidee, bedenkt man, dass sie
vier bis fünf Einträge pro Tag verfasst. Eine Ursache des
kurzen Gedächtnisses. Mittlerweile lebt die Frau schon im Jahr
2044. Aber vergessen hat sie das Tagebuch noch nie. Da
verbraucht sie Tinte und Papier. Voller Zorn über all diese
großen Sorgen betritt Martina das Haus am Ende der
Beethovenallee. Auf einen Schlag wird sie zur Altenpflegerin
auf Zeit und durchstreift die Wohnung. In irgendeiner Ecke
muss die Mutter ja sitzen. Neben dem Kühlschrank wird sie
fündig. „Da kauerst du, Alte!“, krächzt Martinas
Raucherstimme. Die Mutter, lächelnden Gesichtes, antwortet
überbetont: „Guten Tag, dass ist aber schön, dass Sie mich
besuchen kommen, junge Frau.“ Martina reißt die alte Dame
vom Boden und schleudert sie auf einen Küchenstuhl. Voll
Aggression befreit Martina einige Stellen des Tisches von
insgesamt einem Quadratzentimeter staubbedeckter Fläche
und holt die Post. Gute Nachrichten gibt es nicht. Demnächst
steht eine Pflegeprüfung an. Das fehlte Martina noch. Ein
ganzer Nachmittag wird vertan sein.
Darauf, zwei Wochen später, kommt die Amtsdame auch
schon. Martina und ihre Mutter mutieren zu besten
Freundinnen. Ein rührseliges Bild bietet sich. Und fast schon
ist die Dame, Frau Beust heißt sie, von der Qualität Martinas
Arbeit überzeugt. Da entdeckt sie auf dem kleinen Tischchen
in der Stube den Höhepunkt der Inspektion. Ein Stapel
hübschgebundener Tagebücher. „Das müssten Sie mal
veröffentlichen.“, witzelt die Dame beim Aufschlagen eines
Buches. Martina heuchelt: „Da habe ich auch schon dran
gedacht.“ Da verdunkelt sich die Mine der Amtsdame. Zornig,
ohne Abschied geht sie von dannen. Im Auto liegt ihr Handy.
Ein Anruf ist zu tätigen. Zwei Wochen später waren die Mutter
im Heim und das Pflegegeld verloren. Und warum? Nun im
Tagebuch hatte die Mutter vermerkt, drei Tage keinen Besuch
bekommen und damit nichts gegessen zu haben. Eine Unerhörtheit.