Jeder Mensch ein Abgrund

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R. Herder

Mitglied
Jeder Mensch ein Abgrund



Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner​



Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.

Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, will ich nicht erwähnen.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung. Sind verkümmert vom Moment zur Idee.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht? Nichts als dessen Wunsch, Kind sein zu dürfen.

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, ein bisschen zu aufdringlich. Meine Ex, stets ein etwas zu lautes Lachen. Mein bester Freund, durchweg eine Nuance zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Dies Symbol ist wandelbar. Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Substitut für Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

R. Herder

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Jeder Mensch ein Abgrund



Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner​



Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.

Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung. Sind verkümmert vom Moment zur Idee.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht? Nichts als dessen Wunsch, Kind sein zu dürfen.

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, ein bisschen zu aufdringlich. Meine Ex, stets ein etwas zu lautes Lachen. Mein bester Freund, durchweg eine Nuance zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Dies Symbol ist wandelbar. Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Substitut für Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 
H

Hakan Tezkan

Gast
toller text.
sehr schön aufgebaut, sehr schön zum ende geführt, was mich ab und an störte ist das fremdwörterlexikon das aus dir ab und an hervorsticht, und manche unnötigen erklärungen, die du nicht nötig hast.

Sind verkümmert vom Moment zur Idee.
warum schreibst du das? damit nimmst du jegliches gefühl heraus, das di bis dahin bei mir erzeugen konntest. schön, dass es zeigt, wie philosophisch und abstrakt du denken kannst, aber das interessiert mich als leser eher weniger...


ein Substitut für Leben.
warum schreibst du das nicht einfacher? ich mein, wenn ich mich richtig erinnere hat substitut irgendwas mit ersatz zu tun. warum schreibst du dann nicht: ein ersatz für leben...
so was versteh ich nicht. dadurch erzeugst du distanz zum leser, er fühlt den text dann nicht mehr, ja, ich werde sentimental;)

aber das sind meine einzigen zwei kritikpunkte, ansonsten ein wirklich sehr guter text, der mich angesprochen hat.

ich wünsche deinem vater, insofern dieser text, wie er den anschein macht, autobiografisch zu verstehen ist, alles gute und dir natürlich auch...

lg,
hakan

ps:
woyzeck ist toll....
 

R. Herder

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Woyzeck, Georg Büchner​



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Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht?

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, ein bisschen zu aufdringlich. Meine Ex, stets ein etwas zu lautes Lachen. Mein bester Freund, durchweg eine Nuance zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Dies Symbol ist wandelbar. Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Ersatz fürs Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

R. Herder

Mitglied
Danke, Hakan.
Die angemerkten und noch eine weitere Stelle hab ich ausgebessert.

Grüße,
René.


PS: Woyzeck ist tragisch.
 
H

Hakan Tezkan

Gast
schön, dass ich helfen konnte.
und woyzeck ist toll und tragisch, schließt sich ja nun nicht aus, jedenfalls für meinen geschmack. tragik ist doch etwas tolles, etwas so toll pathetisches, dass es richtig weh tut.
schönes we!

lg,
hakan
 

R. Herder

Mitglied
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Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
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Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht?

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, zu aufdringlich. Meine Ex, zu laut. Mein bester Freund, zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Aber Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Ersatz fürs Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

R. Herder

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Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner​



Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.

Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht?

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, zu aufdringlich. Meine Ex, zu laut. Mein bester Freund, zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Aber Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Ersatz fürs Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Doch die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

R. Herder

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Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner​



Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.

Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du.
Ach, nichts eigentlich.

Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand.
Heute erinnern sie nur an die Rührung.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht?

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Zu aufdringlich meine Mutter. Zu laut meine Ex. Zu aufgekratzt mein bester Freund. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Aber Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Ersatz fürs Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Doch die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

arle

Mitglied
Substitut

Ein ganz ganz wunderbarer, tief verstörender und anrührender Text. Kompliment.

Aber eins hätte ich doch zu kritteln: Ich würde keinesfalls das Wort Substitut gegen das Wort Ersatz eintauschen. Eben weil es keineswegs genau dasselbe bedeutet. Ein Substitut ist - so habe ich das gelernt - eine Art Statthalter, ein Stellvertreter. Wie z.B. Kaffee für Alkoholiker ein Substitut ist. Ein Ersatz ist... nun, ein Ersatz eben. Das Alte ist nicht mehr da und wird durch was Neues ersetzt.

Ich glaube nicht, dass die Aussage so gemeint war.

Falls doch, so ändert das nichts an der Qualität dieses Textes.

Liebe Grüße

Silvia
 

R. Herder

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Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner​



Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.

Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.

Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, bleibt unerwähnt.

Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du.
Ach, nichts eigentlich.

Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.

Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand.
Heute erinnern sie nur an die Rührung.

Ich kann diesen Text nicht schreiben.

Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht?

Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.

Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.

Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Zu aufdringlich meine Mutter. Zu laut meine Ex. Zu aufgekratzt mein bester Freund. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.

Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.

Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.

Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.

Aber Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Substitut fürs Leben.

Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.

Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Doch die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.

Bin ich genervt?
 

arle

Mitglied
PS

Ah... Zu spät, um meine Antwort noch mal zu bearbeiten. Ich wollte nur noch ein Wort zum "Substituten" sagen, weil ich mich vorhin ein bisschen sehr konfus ausgedrückt habe.

Bei einem Stellvertreter besteht die Hoffnung - oder die Befürchtung, je nachdem -, der Vertretene könnte wieder zurück kommen. Bei einem Ersatz nicht.

Aber das hast du sicher auch ohne diese Erklärung verstanden..
 

R. Herder

Mitglied
Mit dem Substitut hast du recht, arle.
Musste erstmal sacken lassen.

Vielen Dank auch für deine wohlmeinende Kritik bzw. das Lob.
Ich denke, ich werde den Text irgendwann nochmal gründlich überarbeiten. Momentan ist nicht die Zeit dazu.


Viele Grüße,
René.
 
P

Papyrus

Gast
das ist ein tiefgehender text,

diese stelle:


Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so.

das klingt irgendwie zynisch, das "schön" und "und so",
ist das beabsichtigt?
weil es ja nur essen ist,
und nicht über den schmerz hinwegtrösten kann,
und banal ist,
eine banale freude die einem jetzt nicht mehr vergönnt ist?
ob man sich für diese schöne freude schämen sollte?


nur meine frage,


lieben gruß
papyrus
 

R. Herder

Mitglied
Danke, Papyrus.

Die Stimmen von Vater und Sohn verschwimmen teilweise.
Zynismus, sicherlich, im ganzen Text: wenn der Sohn sich distanzieren will, ohne fort zu können.

Essen kann Ausdruck von Abstumpfung sein.
Daher der vom Sohn aufs Vaterzitat gelegte Tonfall.


Grüzli,
René.
 



 
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