Jeder Mensch ein Abgrund
Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.
Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.
Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, will ich nicht erwähnen.
Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.
Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung. Sind verkümmert vom Moment zur Idee.
Ich kann diesen Text nicht schreiben.
Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht? Nichts als dessen Wunsch, Kind sein zu dürfen.
Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.
Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.
Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, ein bisschen zu aufdringlich. Meine Ex, stets ein etwas zu lautes Lachen. Mein bester Freund, durchweg eine Nuance zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.
Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.
Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.
Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.
Dies Symbol ist wandelbar. Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Substitut für Leben.
Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.
Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.
Bin ich genervt?
Unsereins ist doch einmal unseelig in der und der anderen Welt, ich glaub' wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
Woyzeck, Georg Büchner
Woyzeck, Georg Büchner
Mit der Tagesschau wird dein Morgen abgeschaltet. Und der Restabend von nicht einer Uhr vermessen.
Du trinkst jetzt weniger, sagst du nicht ohne Stolz. Sowieso, ernährst dich gesünder. Cappuccino statt Kaffee, Pute statt Schwein. Das ist toll, das freut mich, erwidere ich. Dann ersetzen unsre Zigaretten das Gespräch, und wir hängen dem Rauch hinterher.
Die Vorhänge hab ich neu drangemacht, nickst du in Richtung Küchenfenster. Die hattest du noch, im Keller. Musstest nur neue Löcher bohren – die alten, von den Vorhängen des Vormieters, hatten nicht die richtigen Abstände. Schön, will ich bestätigen. Sehen richtig gut aus. Dass sie zu kurz sind, will ich nicht erwähnen.
Und sonst? Was gibt es neues bei dir? Niemand meint diese Fragen so ernst wie du. Ach, nichts eigentlich. Meine Antworten, als würde ich dir Schmerz zufügen.
Du liebst. An der grauen Tapete im Wohnzimmer hängen die Fotos deiner Kinder. Zwei von mir, zwei von meinem Bruder.
Als du im Krankenhaus warst, und ich deine neue Wohnung zum ersten Mal betrat, war ich gerührt von diesen einsamen Fotos an der Wand. Heute erinnern sie nur an die Rührung. Sind verkümmert vom Moment zur Idee.
Ich kann diesen Text nicht schreiben.
Ich muss: sehen, was dran ist an jenem Geheimnis, das ich noch immer in dir vermute. Obwohl du längst entblößt bist. Was verbirgt der Vater, wenn er mit gezeichnetem Gesicht und geschlagener Haut vor seinem Sohn steht? Nichts als dessen Wunsch, Kind sein zu dürfen.
Den Keller wirst du demnächst aufräumen. Paar Sachen zum Sperrmüll. Wenn ich mal Werkzeug brauche, muss ich's einfach sagen. Davon hast du reichlich, aus arbeitsreicheren Tagen. Schraubendreher, Akkubohrer, Stichsägen, Äxte, Nägel, Bleistifte, Pinsel, Hämmer, Wagenheber.
Aber immer langsam, nach und nach. Deine Rückenschmerzen sind noch schlimmer geworden seit dem Unfall. Und deine Brust, mit der du auf die Armaturen schlugst, schmerzt dann und wann.
Während du erzählst, versuche ich, ein Bild von dir zu malen. Was sehe ich, was stelle ich mir vor, wenn ich an dich denke?
Meine Mutter, ein bisschen zu aufdringlich. Meine Ex, stets ein etwas zu lautes Lachen. Mein bester Freund, durchweg eine Nuance zu aufgekratzt. Bei dir finde ich kein Zuviel. Im Gegenteil – es ist, als hättest du von allem immer ein bisschen zu wenig.
Willst deinen Tag befestigen. Spachtelmasse in die gebrochene Schlafzimmerwand. Spaziergänge zum Kiosk, mit der Bahn in die Stadt. Ein Küchenregal, das du dir scheinbar zwischen Zigaretten und Cappuccino noch leisten konntest. Die DVD-Beilage der günstigsten PC-Zeitschrift. Essen.
Vor zwei Tagen gab's Spinat mit Spiegelei. War richtig lecker. Auch schön mit Kartoffeln und so. Kohlrouladen irgendwann letzte Woche. Ob ich die eigentlich auch esse. Ja, doch, ab und zu. Leber gibt’s morgen. Die hatten wir uns doch auch gewünscht, im Krankenhaus.
Der geteilte Wunsch der Brüder, das Verlangen nach Bratkartoffeln, Frikadellen und Leber, ans taube Ohr des komatösen Vaters, war sentimental, war ein Symbol fürs Betteln nach Leben. Nach Überleben.
Dies Symbol ist wandelbar. Essen kann, wie alle andern halben Beschäftigungsversuche, verbluten ins Unzeitliche. Essen kann sein: ein Substitut für Leben.
Als wir, mein Bruder zur linken, ich zur rechten, an deiner Seite standen im Zweibettzimmer der Intensivstation, und du den ersten Tag die Augen aufschlugst, wirr in den Raum brabbeltest, wandelte sich das Weinen der Kinder ins Weinen Erwachsener.
Wenn ich heute bei dir sitze, in deiner Küche, die Füße auf PVC, will ich mit Kinderaugen sehen, mit Kinderohren hören, mit Kindermund sprechen. Aber die Fragen stellst du. Ich schäme mich für ein Gefühl, das ich in den Zigarettenqualm zu veräußerlichen suche.
Bin ich genervt?