Jederzeit

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Vera-Lena

Mitglied
Jederzeit

Windhauch hat sich müd gestreichelt,
wird wohl heim nun ziehen müssen,
hat dem Bach sich eingeschmeichelt
mit den weißen Schaumesküssen.
Rotes schwimmt ins Violett.
Mond schiebt sich ins Wolkenbett.

Nachtigall schluchzt aus der Ferne,
süßer duftet der Jasmin.
Kind ruht unter seinem Sterne.
Engel sanft vorüber ziehn.
Leid steigt aus der Weltenwunde,
ankert sich in diese Stunde.
 

Svalin

Mitglied
Hallo Vera-Lena,

Ich bin mir ziemlich sicher, dass du die Titel deiner Texte mit Bedacht wählst. Hier aber gelingt es dir, mich einigermaßen zu verwirren ;) So sehr ich auch suche, ich finde im Text nicht einmal andeutungsweise Aussagen zu irgendeiner universellen Zeitqualität. Ganz im Gegenteil: insbesondere in seinem Ausklang scheint er die Existenz eines besonderen Zeitabschnitts ("diese Stunde") hervorheben zu wollen. Was daran ist "jederzeit"? Vielleicht, dass Jeder einmal zu irgendeiner Zeit ähnliche Empfindungen haben kann oder wird? Das wäre in meinen Augen eine etwas gewöhnungsbedürftige (kontraintuitive) Lesart.

Viele Grüße
Martin
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Martin,

danke, dass Du Dich mit diesem Text beschäftigt hast. Ich dachte, es sei wieder ganz eindeutug, aber das denke ich ja oft.:( Ich wollte eigentlich aussagen, dass das Leid jederzeit in ein Leben hineinbrechen kann. diese Stunde ist so honigsüß, friedvoll und und beglückend, dass der, der sie erlebt, vergisst, dass sich jederzeit plötzlich alles verändern kann, natürlich nicht wirklich, die Nachtigallen werden auch weiterhin schlagen, sondern in seiner Wahrnehmung, die sich durch das Leid, das aus der Weltenwunde heraus auch ihn ganz persönlich erreicht hat, trübt. So hatte ich das gemeint.

Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende.:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Svalin

Mitglied
Hallo Vera-Lena,

Ich finde, dass eindeutige Texte ziemlich langweilig wären ;) Lyrik lebt von Assoziationen, die eben bei jedem Menschen "eigen-willig" sind. Da wäre es fast ein Wunder, wenn bei allen Lesern die gleichen Wahrnehmungen hervorgerufen werden könnten. Dass ich z.B. in deinem Text kein (dramatisches) Hereinbrechen des Leidens gesehen habe, liegt nach meinem Empfinden ein wenig an der Bildersprache:

> Leid steigt aus der Weltenwunde,

Hierzu assoziiere ich (sanftes) Emporsteigen und in der Weiterführung ein Über-die-Welt-Erheben und Wegfliegen ... eben nichts wirklich Bedrohliches. Beklemmender wären da eher Bilder des In-die-Welt-Herabfließens, etwas Infiltrierendes wie vielleicht "Leid sickert aus der Weltenwunde".

> ankert sich in diese Stunde.

Mit dem Ankern verhält es sich da recht ähnlich: ein vorübergehender Aufenthalt, dem sich ein Weiterziehen (In-See-Stechen) anschließen wird. Dadurch drücken diese Bilder für mich eher etwas Optimistisches, wenn nicht sogar Tröstliches aus. Die zuvor gezeichneten romantischen Impressionen können sie auf diese Weise jedenfalls nicht ernstlich gefährden. Zumal sie auch gar nicht (Bestand)Teil dieser geschilderten Welt zu sein scheinen: im Gegensatz zu den gegenständlichen Motiven (Natur, Mensch, Engel) handelt es sich bei Leid und Weltenwunde um nichts Greifbares mehr, es sind Abstraktionen, die jenseits der Ebene des Real-Existierenden liegen. Und in Abwandlung eines Sprichworts scheint mir: Abstrahiertes Leid ist halbes Leid. Wie du siehst, man kann beim Schreiben gar nicht so dumm denken ... wie der Leser ;)

Viele Grüße
Martin
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Martin,

ja, ich sehe, mit Assoziationen hat es wirklich so seine Bewandtnis. Beim ankern hatte ich an eine Verankerung, also etwas Längerfristiges vielleicht sogar Dauerhaftes gedacht.

Ich hatte auch "hakt sich fest" in Erwägung gezogen, mich aber wegen des Klanges für "ankert sich" entschieden.

Leid steigt aus der Weltenwunde, dabei hatte ich etwa an einen Pesthauch gedacht, der aufsteigt und sich einen festen Ort sucht, wo er Verheerendes anrichtet. Auf jeden Fall hatte ich die Weltenwunde mehr im Inneren der Erde gesehen und dass sie von dort unten nach oben ihre giftigen Keime aussendet.

Das Leid wird zwar nicht in seiner Spezialität benannt zB Krankheit, Tod usw, aber für mich hat das Wort Leid immer etwas Konkretes an sich und auch die Weltenwunde ist für mich dermassen farbig, dass ich sie lieber so pauschal heibei zitiere.

Ja, das finde ich jetzt hochinteressant, und ich danke Dir, dass Du mir Deine Vorstellungen aufgedröselt hast.

Ganz liebe Grüße!:)
Vera-Lena
 
M

megan

Gast
... und schon wieder, wunderbare bilder, die du mit leichtem federstrich malst ... macht freude zu lesen
lg meg
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo megan,

Deine Antwort ist mir auch eine Freude!:)

So puste ich Dir einen von den weißen Schaumesküssen durch die LL zu einem erfreulichen Sonntag.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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