Jemand ist besser als niemand

Jemand ist besser als niemand

Niemand schlich nachts um sein Haus und niemand sah von draußen zum Fenster herein. Niemand saß neben ihm, niemand aß mit ihm am Tisch – niemand.

Und trotzdem war irgendjemand bei ihm, morgens, mittags und abends. Wenn er morgens aufwachte am Bettrand, wenn er frühstückte oder zur Arbeit ging.
Jemand folgte ihm, wohin er auch ging. Irgendjemand.

Er spürte ihn irgendwie immer. Egal zu welcher Uhrzeit und an welchem Ort – immer und überall.
Irgendwo war irgendetwas oder irgendjemand da.
Aber warum? Niemand sah er, niemanden.
Und niemand konnte ihm helfen, kein Freund, kein Arzt, niemand.
Aber wer war niemand? Wenn niemand da war, musste doch irgendwann jemand niemals vorher bei ihm gewesen sein, er hätte sonst nicht wissen können, dass jemand nicht mehr da war. Irgendwie, irgendjemand, irgendwann.
Wie oft hatte er sich gefragt, wer er war? Wer?
Seitdem er aufgetaucht war. Seit den letzten 2 Wochen. Niemand! Jemand! Irgendjemand!

Fünf Freunde kannten keine Antwort auf niemand. Fünf Ärzte wussten keinen Rat auf jemand. Sie sagten, „er“ wäre das Problem. Nicht jemand und nicht niemand. Aber keiner verstand, dass wirklich jemand da war. Jemand, der niemand war. Sie sagten, niemand könnte ständig bei ihm sein, das würde nicht gehen, aber jemand schaffte das. Jemand war besser als niemand.

Eigentlich wollt er nach der Arbeit nicht nach Hause gehen, sich auf das Sofa legen und die Tagesschau bei einem Bier und bei einer Packung Chips ansehen, aber da war etwas, was er sich nicht erklären konnte, eine Ahnung, vielleicht ein Gefühl, die Akten liegen zu lassen und endlich Heim zu gehen.
Und wieder war jemand da. Hinter ihm, neben ihm, manchmal auch vor ihm. Und heute näher denn je. Er spürte, die Luft war anders, dicker, dichter, gefährlicher. Er ging schneller, in der Hoffnung seinen Verfolger abzuschütteln, vergebens.

Er überquerte die Strasse, den Kopf gesenkt und in Gedanken verloren, mit den Gedanken bei jemand. Und dann hörte er nur noch das Geräusch des Autos. WAM. Und dann passierte es. Für einen kurzen Augenblick hatte er seinen Verfolger gesehen. Und dann fiel ihm alles ein. Er wusste wer der Unbekannte war, warum er ihn verfolgt hatte, kannte die Antwort auf all die Fragen, die ihm keiner geben konnte. Für einen Moment war er sichtbar gewesen. „Niemand“ hatte ihn vor dem heutigen Tag gewarnt, niemand! Es wäre besser gewesen, nicht aus dem Büro zugehen, nicht die Strasse zu überqueren. Niemand war „Paul Lutz“, sein verstorbener Vater. Er hatte es gewusst, wollte ihn warnen. Niemand hatte ihn gewarnt. Aber Paul, Paul war bei ihm.

Um 20:00 Uhr wusste es bereits jeder in der Stadt.
Ein nichtsahnender Teenager, der an seinem Radio den Sender einzustellen versuchte, verlor in angetrunkenem Zustand die Kontrolle über das Auto und überrollte den 27 jährigen Steffen Lutz, der sich auf dem Heimweg befand.


Niemand wollte ihn warnen. Aber es war zu spät. Paul hatte ihn wochenlang angeschrieen, ihn angefleht, an diesem Tag zu Hause zu bleiben, aber Tote kann man nicht hören, kann man nicht sehen.
 



 
Oben Unten