Jerusalem

5,00 Stern(e) 1 Stimme

mickmagick

Mitglied
Jerusalem

Die Parteibuchkarrieren sind in Deutschland mittlerweile wieder Legion. Der öffentliche Dienst wird schwer; es wird - zunehmend öffentlicher - immer schwerer. Jaja, mein Sohn! Indes - der Minesterialdirektor Otto Gräf aus Bottrop hat bewiesen, daß man es anders und trotz allem schaffen kann.
Er hat in schwerer, schicksalsvoller Zeit den Weg zur Herrlichkeit gefunden, den schmalen Weg, den untrüglichen, unverweslichen, den Weg ins himmlische Jerusalem. Friede seiner Asche! Minesterialrat war Gräf übrigens im Kultusministerium. Mein Sohn, der du zu den schönsten Hoffnungen mir Anlaß gibst, wandle diesen Weg! Und zwar so!

Nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze trittst Du frisch und gut gekämmt als Lehrer vor die Klasse 3 der Hohenzollern-Schule (Bottrop).

"Guten Morgen, meine lieben Jungen und Mädchen!"

Und - gewandt zu einem Jungen, sprichst du - deine Stimme hat dabei den leicht singenden Tonfall eines Rheinländers:

"Komm, mein Junge! Komm ein bißchen zu mir! Hier hast du ein neues Stück Kreide! Und nun mein Junge, geh an die Tafel! Zeichne an, wie du dir in Gedanken Jerusalem vorstellst!"

Nun - der Junge steht zunächst verdutzt. Er steht! Nimmt dann die Kreide, geht zur Tafel, setzt die Kreide an und zeichnet - so und so und so. Und du, mein Sohn, du stehst hinten im Klassenraum und beobachtest. Der Schüler zeichnet so und so und so! Und so - und so! So! Er blickt fragend. Und du siehst in die Seele aller Kinder dieser Welt und sagst:

"Mein Junge! Es ist gut! Leg' die Kreide in den Kreidekasten! Geh an deinen Platz!"

Weiter sagst du nichts. Danach wirst du zum Stadtschulrat geladen.

"Kollege! Ihre Art der Pädagogik ist schon sonderbar! Sie sind wohl ein Psychologe. Ein Tiefenpsychologe. Man hat sich beschwert. Jaja! Man versteht seit kurzem keinen Spaß mehr. Ha ha! Ich versetze Sie am besten in die Vinzenz-Schule. Unterrichten Sie die Frommen Gottes! Dort sind SIe zunächst außerhalb der Schußlinie! Ha ha ha!"

Nach der Reichskristallnacht trittst du frisch und gut gekämmt als Lehrer vor die dritte Klasse 3 der Hermann-Göring (vormals Vinzenz-) Schule.

"Heil Hitler, Kameraden! Heute ist die Losung: Jerusalem! Sprecht mir nach: Jerusalem!"
Jerusalem! Jerusalem!
Jerusalem! Jerusalem!

Und du, mein Sohn, du stehst ganz vorne in der Klasse. Du stehst und intonierst und stehst und dirigierst.

Jerusalem! Jerusalem!
Jerusalem! Jerusalem!

Die Klasse ist sehr aufmerksam. Sie ist - man darf schon sagen - voll bei der Sache.

Jerusalem! Jerusalem!
Jerusalem! Jerusalem!

Und du, mein Sohn, machst so und so und so. Und so - und so! Da singen alle Päpste, Heiligen und Väter. Es tönt der einen Kirche unermeßlich Heer.

Jerusalem! Jerusalem!
Jerusalem! Jerusalem!

Und du, mein Sohn, machst so und so und so. Und so - und so! So! Weiter machst du nichts. Danach wirst du ins Kultusministerium geladen.

"Otto von vorne, Otto von hinten! Aber wer kann den Sinn da finden? Gräf! Sie haben entweder nicht begriffen oder viel zu gut begriffen. Man hat sich beschwert. Jaja! Jede Form des Gottesdienstes wird im öffentlichen Leben abgeschafft. Ha ha! Sollten Sie wissen! Wissen Sie auch. Ich versetze Sie am besten nach Bethel. Unterrichten Sie die Armen in Geiste! Leiten Sie den Kinderchor! Dort sind Sie für immer außerhalb der Schußlinie! Heil Hitler!"

Nach der deutschen Kriegsniederlage hast du dann drei Angebote: Bürgermeister von Bethel, Stadtschulrat in Bottrop und - Professor der Universität Bonn. Du wirst Stadtschulrat in Bottrop, bringst die kleinen Nazis wieder ins Brot und sitzt bald im Kultusministerium.
Lieber Sohn, der du zu den schönsten Hoffnungen Anlaß gibst, geh in keine Partei! Schau die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen! Gegen Ende deines Lebens reise nach Jerusalem! Stell' dich an die Klagemauer und gedenk der vielen Toten!
 

bosbach46

Mitglied
Nachdenklich

hallo mickmagick,
nochmal gut gegangen, vielleicht so gerade eben. Widerstand muß nicht spektakulär sein. Jeder so wie er kann. Und dein "Held" ,der unbelehrbare Lehrer, war der in Jerusalem? Eine tiefgründige Geschichte, die ich soeben gerne zu Ende gelesen habe. Gruß J.B.
 



 
Oben Unten