Jesus Tattoo

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weghenkel

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Jesus Tattoo

1
Harry McCartan ist 23 Jahre alt. Wie geißelt man einen Menschen, bevor man ihn kreuzigt? Seine Beine werden gepeitscht. Ein Morgenstern ist nicht verfügbar. Also? Also wird ein durch die Ermittler später nicht genau zu identifizierendes stumpfes Instrument verwendet, irgendwie gespickt mit Nägeln. Ein Baseballschläger könnte das doch gewesen sein. Seine Beine sind dann übersät mit Wundmalen. Barabbas, sie haben dich freigelassen.
[ 7]Die da ein Urteil sprechen, gehören zu einer Bürgerwehr. Zu einer gut funktionierenden paramilitärischen Bürgerwehr. Vigilanten.
[ 7]Wir sind in Dunmurry. In den südwestlichen Vorstadtvierteln von Belfast. Oder doch mehr im Süden. Dunmurry ist fast ausschließlich protestantisch. Es ist noch früh am Sonnabend. Am Sabbat. Noch sehr früh. Es ist der Allerseelentag. Gestern war Allerheiligen. Davor der Reformationstag. Wir sind im protestantisch dominierten Ulster. In der letzten Kolonie Englands.
[ 7]Es geht um angebliche Autokriminalität. Kriminelle Diebe und Hehler, die mit geklauten Autos ihr Einkommen bestreiten. Genau in dieser Gegend. Da ist Brutalität Normalität. Punishment Attacks heißt das hier. Aber die Polizei wird zu diesem Vorfall erklären, selbst unter Berücksichtigung der brutalen Standards sei das ein absolut schrecklicher Anschlag gewesen.
[ 7]Mister McCartan wird zu Protokoll geben, sein Sohn habe am Freitagabend das Haus verlassen, um sich bei der Sozialhilfe zu melden. In Andersonstown.

2
Wer sind diese Schläger? Die nach Handbüchern foltern. Mitglieder der Ulster Defence Association. Protestanten. Terroristen. Barbarische Schufte. Ein Ausbund des Bösen. Rückgratlose, kranke Tiere. Neighbourhood Watch. Niemand hat das Recht, das Gesetz in die eigene Hände zu nehmen, auf diese Art, ganz gleich, was jemand anderes in der Vergangenheit gemacht hat.
[ 7]Wer verbietet den einen, die anderen zu verleumden, zu verurteilen, abzuschreiben, auszugrenzen.
[ 7]Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese Attacke gedacht als anschauliche Warnung an alle Joyrider aus katholischen Vierteln, nicht in protestantische Gebiete zu kommen, als Scouts für die kriminellen Vergnügungstouren.
[ 7]Aber die Polizei wird nach einer kriminellen Bande fahnden.
[ 7]Im März 1996 hatte die katholische IRA ein Gleiches getan. Das Opfer damals im Westen von Belfast hieß Martin Doherty. War 18 Jahre alt. In einem Hintergarten. In Handschellen gelegt. Geknebelt und gekreuzigt. Mit Metalldornen, durch Kniee und Ellbogen.
[ 7]Sind diese Schläger Dissidenten? So heißt es in den offiziellen Quellen. Abtrünnige, die den friedliebenden einfachen Gläubigen in den Rücken fallen, in ihrem Bemühen, das Land zu befrieden?
[ 7]Wo sind die Menschen in Seymour Hill, die den marodierenden Schlägern Einhalt gebieten? Ihrer entarteten Brut. Hört niemand Schreie, vernimmt niemand den Tumult?
[ 7]So nimm dein Kreuz und gehe hinaus nach Golgatha.

3
Vor kurzem erst ist Harry aus dem Knast gekommen. Vor zwei Wochen eigentlich erst. 15 Monate hat er gesessen. Joyriding. Ist ihm teuer zu stehn gekommen, so gesehn. Autos knacken, nur so zum Spaß, eine Runde damit drehn, eine schöne große Runde. Sie dann irgendwo abstellen. Nur so zum Spaß. Die Bürgerwehren, wie sie sich nennen, hatten ihn deswegen auf dem Kicker. Asoziales Verhalten war das für sie. So hieß auch die Urteilsbegründung. So oder so ähnlich. Antisocial Behaviour.
[ 7]Jetzt fällt er. Stolpert. Die Jungs von der Gang lachen.
[ 7]Wo wollt ihr hin mit mir? Was habt ihr vor? Ihr Schweine! Baseballschläger, mit Nägeln gespickt. Nichts kriegt ihr aus mir heraus! Nichts! Ich klaue keine Autos! Schon gar nicht hier, in diesem verfluchten Drecksviertel.
[ 7]Wie? Du hast noch einen langen Weg vor dir, du Katholikenarsch! Hast doch bestimmt mal was vom Kreuzweg gehört.

4
Harry denkt an seine Mutter. Immer diese lästigen, dummen Ermahnungen. Mach das nicht, Junge. Hör auf damit. Was hast du denn davon. Als ob sie vielleicht ihr erbärmliches Leben ihm vorhalten dürfte. Man mußte so leben, wenn man ein bißchen Spaß haben wollte. Und er wollte, verdammtnochmal, ein bißchen Spaß haben. Nicht so armselig dahinvegetieren wie sie. Alice McCartan. Jetzt denkt er an seine Mutter. Nicht an den Vater. Henry. Oder eben auch Harry. McCartan. Der Alte und der Junge. Die Mutter war ein ruhender Pol, auch wenn sie minderbemittelt war. Das war sie.
[ 7]Es sind höllische Schmerzen, die er erträgt. Er beginnt zu halluzinieren. Für ein paar Sekunden sieht er die Mutter dort stehn.

5
Im letzten Monat hatte London die Tätigkeit der nordirischen Exekutive beendet. Schluß, aus mit einer Regierung, an der alle teilhatten. Diese reformierten Spione, die waren dran schuld.
[ 7]Also war der Karfreitag des Jahres 1998 ein sinnloser Tag. Dieser britische Good Friday.
[ 7]Seine Kumpels und er waren sich da einig. Er saß noch im Knast, als die Meldungen im Radio kamen. Nie, nie würde es hier Frieden geben. Frieden in Ulster. Ulster gehörte zu Irland. Und so lange sich die Protestanten hier breit machten, mit ihrem Luther, diese englischen Heuchler, so lange gab es keine echte Chance. Für niemanden.
[ 7]Er hatte sich mit Simon verabredet, gestern abend. Warum war der nicht da, der alte Sack. Dann wäre alles anders gelaufen.
[ 7]Jetzt machen die mich alle.

6
Die Erinnerung überkommt ihn. Fiona. Das war ein Jahr, bevor er seine Frau kennengelernt hatte. Da war er noch sechzehn. Fiona, die Tochter des Bankers. Die hatten eine deutsche Lutherbibel in ihrem Appartement stehn. Trotzdem war da irgendwas, das ihm sagte, das ginge. Damals.
[ 7]Einmal, als er vom Fußball kam, als sie ihn auch verprügelt hatten, da hatte sie ihm kühle Binden auf die Stirn gelegt. Kühle weiße Binden.
[ 7]Ach, wenn jetzt jemand käme, wenigstens für ein paar Minuten, mit solch einer kühlen weißen Binde. Sein Körper ist blutüberströmt.
[ 7]Unbarmherzig schlagen sie auf mich ein. Unbarmherzig. Unbarmherzig. Bis ich die Schläge nicht mehr spüre. Darauf läuft es hinaus.

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Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Wurm. Ich krieche im Staub. Ich winde mich auf der Erde. Ich hab es so gewollt. Ich hab es so gewollt. Dieses dreckige Belfast. Ich bin ein Belfast Child. Daß ich nicht lache, Mister Kerr. Die Street Fighting Years gehn immer weiter.
[ 7]When the Belfast Child sings again.
[ 7]Es hört nicht auf. Sie bringen mich um. Und keiner da. Keiner da, der mich versteht. Ich versteh mich ja selbst nicht.

8
Er denkt an die, die vielleicht um ihn weinen werden.

9
Welcome to Loyalist Seymour Hill. Am Eingang zur Siedlung steht das. In unübersehbar großen Lettern. Ein schönes Wandbild. Hier sind die Bürgersteige rot gestrichen. Rot, weiß und blau. Die Farben, die überall in Ulster protestantisches Territorium markieren. Fahnen der UDA und der Ulster Freedom Fighters hängen aus den Häusern. Ein schöner Fußweg durch die hier beginnende Landschaft, gleich dort hinten.

10
Es ist ein Uhr und fünf Minuten. Vielleicht. Sie ziehen ihn auf ein Feld. Dort schlagen sie ihn. Dort foltern sie ihn. Dort martern sie ihn. Dann bringen sie ihn zurück auf die Straße und nageln ihn mit seinen Händen an einen Holzzaun. An dicke Holzpfosten. Sie spießen ihn auf. Mit rostigen Sechsinchnägeln. Sie biegen die Nägel um, mit einer Zange, in die Handflächen hinein. Damit es mögliche Retter schwerer haben, ihn zu befreien. Es ging nicht so gut. Die Jungs brauchten mehrere Versuche.

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Das Opfer wird gefunden. Zusammengesackt. An dieser Umzäunung. Auf dieser Landstraße in der Nähe vom Lilac Walk. Was für ein schöner Fliederweg, im Mai. Das Opfer. Nur noch halb bei Bewußtsein. Das Holzgatter führt auf ein Feld am Rande der Siedlung. Eine Blutspur führt von seinem Körper zu einem roten Auto ganz in der Nähe. Ein roter Metro. Ein roter Rover. Kennzeichen LIW 7500. Blutige Kleidung darin. Dokumente von Harry dicht daneben. Das verdammte Auto hatte man für 90 Pfund Sterling in einem Pub in Portrush verkauft. Oben in Antrim. Letzten Monat. Zwei Männer hatten es gekauft, die keine Steuern dafür bezahlen wollten. Jetzt sind die Sanitäter da. Jemand hat die Feuerwehr gerufen. Gegen drei Uhr fünfundvierzig. Das Opfer wird gefunden in der treu loyalen Siedlung von Seymour Hill. 22 Kilometer südlich vom Zentrum Belfasts, aber nur zwei Meilen entfernt von seinem Zuhause in der nationalistischen Siedlung von Poleglass. Mit römisch katholischen Bewohnern. Im Westen von Belfast.
[ 7]Die Sanitäter müssen die Pfosten absägen, um ihn zu befreien.
[ 7]Der Beamte, der die Jagd auf die Bande leitet, die das getan hat, sagt, er glaube nicht, daß dies eine Sektenattacke gewesen sei.
[ 7]Der Superintendent Garry Murray gibt ein Statement ab. Er leitet als Polizeioffizier die Ermittlungen. Ich habe, sagt er, noch nie so etwas Barbarisches erlebt. Es ist ein junger Mann, der angegriffen wurde von einer unbekannten Gruppe, Leuten, die ihn brutal geschlagen haben und dann an einen Pfosten genagelt.

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Man bringt ihn ins Hospital. Halb bewußtlos. Es ist kurz nach vier. Lange vor Sonnenaufgang. Aber die Sonne geht hier ohnehin nicht auf. Dieser Herbst ist ein endlos verregneter Herbst. Noch immer sind seine Hände an den Zaunspfahl genagelt. Die Feuerwehr hat ihn befreit. Aber sie konnten die Wundenmale nicht unsachgemäß behandeln. Nun soll ein Ventilator für sein blutverkrustetes Gesicht wenigstens etwas Kühlung bringen. Er dreht sich über ihm.
[ 7]Die Chirurgen im Royal Victoria Hospital kämpfen um seine Hände. Sie wollen sie retten.
[ 7]Die Detektive haben eine Spur. Ein BMW, mit zwei blutbefleckten Baseballschlägern. Gestohlen im Viertel von Dunmurry, sehr früh am Samstagmorgen. Man hat ihn später im Kennedy Centre in Andersonstown gefunden.

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Siehe, der da gebeugt ist über den Geschundenen, ist sein Vater. Kennt er ihn? Kann er ihn kennen? Er trägt ein Tattoo.
[ 7]Es ist ein Horror, ihn so sehen zu müssen, nach dieser grausigen Qual. Er ist förmlich bedeckt mit Dreck, mit Mist. Er blutet aus den Augen. Er blutet aus den Ohren. Sein Gesicht ist unkenntlich. Der Vater muß ihn anhand eines Tattoos identifizieren. Es befindet sich auf seinem Arm. Es zeigt Chloe, seine fünfjährige Tochter. Chloe.
[ 7]Ein Sprecher des Hospitals sagt doch, Mister McCartan sei in einer stabilen Verfassung.

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Am Sonntagmorgen erlangt Harry sein Bewußtsein wieder. Aber bis zum Abend sagt er nicht ein Wort, zu den Leuten aus seiner Familie. Seine Schwester heißt Cherie. Sein Gesicht ist so geschwollen, daß es dreimal so groß wirkt wie normal. Noch immer sickert Blut aus seinen Ohren und Augen. Ein Bein ist gebrochen. Sharon, die andere Schwester, ist gegangen. Sie hatte zuerst davon erfahren. Viertel sechs, gestern, hatte der Vater angerufen. Viertel sechs am Morgen. Das ist jetzt 40 Stunden her. Was wird aus Harrys Händen.
 

Renee Hawk

Mitglied
Hallo Harry,

und Willkommen in der Lupe.

wollte mich bedanken für das Werk.
Es ist ein Stück Literatur, welches mir den Atem raubte.
Ich weiß nicht warum - vielleicht durch die vielen kurzen, knallharten Sätze oder durch die lebhaften Bilder, das Wissen um Eirinn und seinem Konflikt oder weil dort auf der Insel das Grün grüner ist und die Schafe wie Schafe aussehen. Ich weiß es wirklich nicht, aber es hat mir gefallen.
Die englichen Wörter könntest du kursiv schreiben und dadurch noch mehr Ausdruck in den Text legen. Der Zeilenumbruch ist verschoben, dadurch wirkt der Text zerhackt und die Silbentrennung funktioniert in der Lupe nicht.

liebe Grüße
Reneè
 

weghenkel

Mitglied
Dank an Reneè

Hallo Reneè, hab Dank für die Kritik. Wie das technisch hier so funktioniert, mit Zeilenumbrüchen etc., muß ich erst noch herausfinden. Dann werd ich den Text nochmal richtig abschicken.
Das mit der kursiven Schrift für englischsprachige Ausdrücke ist eine Überlegung wert. Aber ich glaube, das bruchlose Ineinander von Faktischem und Fiktivem ist ein Merkmal dieses Texts, das dadurch abgeschwächt würde.
 
R

Rote Socke

Gast
Wow!

Dieser Text füllt eine Lücke in der Lupe. Er bringt mir das Irland-Thema von einer grausigen Seite näher.
Und ich sehe die Arbeit die in diesem Text steckt.
Hoffentlich kommt noch mehr davon.

Willkommensgruss
Socke
 

Zefira

Mitglied
Anscheinend hast Du den Text jetzt äußerlich "repariert", denn jetzt kann man ihn flüssig herunterlesen.

Und ja, ich kann mich den anderen nur anschließen. Eine Kunst, solche Gräuslichkeiten so atemberaubend nüchtern zu erzählen. Dann der Schlußsatz - großartig, wie ein Aufschrei.

Bitte mehr davon!
lG, Zefira
 



 
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