Joshuas Traum

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mr.aurum

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Joshuas Traum

Joshua ist ein Onkel wie er im Buche steht, nämlich im Märchenbuch. Aus dem liest er am liebsten vor. Einem richtigen Onkel ist es egal, ob die Kinder mit ihm verwandt sind oder nicht. Er hat alle Kinder gern. Joshua ist bei den Kindern besonders beliebt, weil er wunderbar und spannend Geschichten erzählen kann. Nicht einfach vorlesen, nein, seine Stimme ist es, welche die Zeilen und Buchstaben zum Leben erweckt. Kommt der Wolf im Märchen vor, so spricht Joshua wie der Wolf, rauh und tief und böse, so daß den Kleinsten unter seinen Zuhörern die Haare zu Berge stehen. Die Posaunen im Königsschloß ahmt er nach, so laut und schrill, daß das Porzellan im Schrank klirrt. Von den beliebtesten Märchen ersinnt er Fortsetzungen. Rotkäppchen Teil Sieben hat er vor Kurzem mit großem Erfolg zum besten gegeben.

Diesen Joshua, den seine Freunde auch Onkel Josh nennen, hat eine geheimnisvolle Krankheit befallen. Eine rätselhafte Leere verscheucht die Geschichten in seinem Kopf. Ihm fällt nichts mehr ein. Er meint, er habe alles schon erzählt. Auch Rotkäppchen Teil Acht will ihm nicht gelingen.

So sitzt Joshua bedrückt und niedergeschlagen an seinem Schreibtisch, um sich herum die schönsten Bleistifte, Buntstifte und Federhalter. Nur der Schlaf tröstet ihn, und Joshuas Kopf sinkt auf das leere Stück Papier. Im Traum sieht er die Fee Phantasie. Diese hat mit einem Blick sein Elend erfaßt. „Hilf mir, gute Fee!“ bittet Joshua mit der kläglichen Stimme des Königs Drosselbart, als dieser von der hochmütigen Prinzessin abgewiesen wird. „Du kannst Dich doch nicht über mich beklagen“, sagt Phantasie verschnupft, denn sie ist erkältet. „Du bist ein gelehriger Schüler, und ich werde Dir helfen. Versprich jedoch, daß Micky Maus und König Artus in der achten Fortsetzung von Rotkäppchen nicht vorkommen.“

Phantasie hüstelt und zwei kleine Geschichten springen aus ihrem Mund. Wie zwei Seifenblasen schweben sie ins Zimmer. Joshua will aufspringen, aber er starrt nur wie gebannt auf den Mund seiner Lieblingsfee. Diese hat nur den Wunsch, sich so schnell wie möglich auf ihr Schlaflager aus zartester Poesie zu begeben und von dort aus einem von ihr bestellten Feuerwerk von Geistesblitzen zuzuschauen.
Fast entschwebt aus Joshuas Zimmer, wird die gute Fee von einem gewaltigen Niesen erschüttert. Wie ein Schneegestöber entfahren ihr aus Nase und Mund eine Menge Märchen, Erzählungen, Fabeln, kleine und größere Geschichten. Joshua schreit auf und jagt im Zimmer umher. Mit leeren Blättern fängt er Geschichten ein. Einige verschluckt er einfach, nur daß sie nicht in seinem Magen, sondern in seinem Kopf landen. Joshua lacht und weint gleichzeitig. Wie werden sich die Kinder freuen!

Als Joshua erwacht, beginnt ein lustiges Drängen und Schubsen: Die Worte springen wie von selbst auf die nackten Blätter. Joshuas Stift glüht und reißt seine Hände von Zeile zu Zeile.

Die Fee Phantasie sieht dies alles im hintersten Spiegel ihres Palastes und gönnt sich ein befreiendes Niesen.
 



 
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