Kaffee

4,50 Stern(e) 28 Bewertungen

Ofterdingen

Mitglied
Kaffee


Nachdem der Ober den Kaffee auf seinen Tisch gestellt hat, hört die Flüssigkeit in der Tasse nicht auf, sich zu bewegen. Im Gegenteil, sie schwappt heftiger, und aus der schwarzen Brühe taucht ein Kopf auf. Der Kopf hat einen Schnabel. Es ist ein Küken. Seine Flaumfedern sind kaffeebraun durchgefärbt.

S. hilft dem Tier aus dem heißen Wasser, hält es behutsam in der Hand und streichelt es über seinen zitternden Flaum. Dann ruft er den Ober.

Das habe ich in meiner Kaffeetasse gefunden, sagt er vorwurfsvoll und zeigt dem Mann das Küken.

Ein Küken im Kaffee, sagt der silberhaarige Ober mit so etwas wie Aufleuchten und Verehrung in der Stimme, das ist schon seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen. Der letzte, der ein Küken in seinem Kaffee gefunden hat, war ein Student. Er wurde danach in allerkürzester Zeit Professor und eine überragende Kapazität auf seinem Gebiet. Heute ist er weltberühmt.

Warum passiert mir das nicht? fragt ein Herr am Nebentisch. Er hat ein hartes Gesicht und einen freudlosen Mund. Wie jeder hier kenne ich die Geschichte von dem Studenten. Tag für Tag besuche ich dieses Café, aber aus meiner Tasse ist noch nie ein Küken aufgestiegen.

Wir suchen das nicht aus, sagt der Ober. Allein das Küken entscheidet. Es erscheint, wenn der Richtige zu uns kommt, und das ist selten genug. Ich bin schon vierzig Jahre hier und erlebe es jetzt erst zum zweiten Mal. Vor jenem Studenten damals soll es noch einen ähnlich spektakulären Fall gegeben haben, aber das war lange vor meiner Zeit.

Sei mir willkommen, Küken, sagt S. und streichelt es sanft über sein Köpfchen. Wirst du bei mir wohnen?

Hast du einen Garten? fragt das Küken.

Ja, in den Hügeln hier in der Nähe. Von dort wirst du das Meer sehen können, zwar nur an besonders klaren Tagen, aber ich werde mit dir zum Strand hinabsteigen, so oft du es möchtest.

Wirst du mir in deinem Garten einen Tempel bauen?

Ja, ich habe noch ein paar Bretter vom Baumarkt. Wahrscheinlich wird er aussehen wie ein Hühnerstall, aber er bekommt ein geschwungenes Dach, und seine Wände streiche ich dunkelrot, innen und außen.

Beide schweigen. Nach einer Weile sagt S.: Jetzt fehlt dieser Geschichte nur noch ein Schluss.

Nein, sagt das Küken. Jetzt fehlt nichts mehr.
 

Tante Oma

Mitglied
Hallo Ofterdingen!

Dass das Küken im heißen Kaffee ist, gefällt mir nicht!
Aber trotzdem gut und spannend geschrieben!

Herzliche Grüße
Tante Oma
 

Ofterdingen

Mitglied
Herzlichen Dank, Tante Oma, für deine positive Kritik.

"Dass das Küken im heißen Kaffee ist, gefällt mir nicht!"
Ich kann dich verstehen, aber das Küken hat sich das ja selber ausgesucht und allem Anschein nach auch völlig unbeschadet überstanden.

Liebgrüß,
Ofterdingen
 
B

bluefin

Gast
hallo @ofterdingen,

ich finde die geschichte wirklich ganz außerordentlich. für mich ist's keine panne, sondern eine (kaffee)schaumgeburt, die nicht eine venus, sondern ein küken hervorgebracht hat.

nicht ganz erschließen will sich mir die rote farbe der künftigen behausung, außen und innen. blut oder liebe? guantanamo oder herzkammer?

und schön geschrieben auch noch. ganz großes kleines kino.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
O

Open Mike

Gast
Passables Gschichtl. Clean (um nicht zu sagen "sauber"), konzentriert auf das Wesentliche.

Warum nicht ein wenig glaubhafter?

Der eine oder andere Wirklichkeitseffekt würde hier nicht schaden. Lokalkolorit, scheinbar überflüssige Details ...

Pfiffig, auch in der Umsetzung: der Schluss.

om

PS
"hält es behutsam in der Hand und streichelt (es) über seinen zitternden Flaum."
 
B

bluefin

Gast
"es" wäre ein verschlimmbesserungsvorschlag, weil er die frage aufwirft, was denn über den kopf des vögelchens gestreichelt wird. sein lassen!

hoffentlich "erklärt" uns ofterdingen sein textlein nicht langatmig und ruinierte uns damit die eigene fantasie.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 
O

Open Mike

Gast
"es" wäre ein verschlimmbesserungsvorschlag, weil er die frage aufwirft, was denn über den kopf des vögelchens gestreichelt wird. sein lassen!
Damit haben Sie die besten Chancen "Leser des Monats" zu werden.

Vorgeschlagen wurde nicht "es", sondern in dessen Streichung.

om
 
G

Gelöschtes Mitglied 8846

Gast
Hallo,

ich schließe mich hier bluefin gerne an, der Text lässt meiner Fantasie die Freiheit. Rot sehe ich sowohl als Farbe der Liebe, aber auch als Signal für gut behüten.

LG Franka
 
B

bluefin

Gast
sorry, mike. da hast du recht. ich hab mich nur auf dein zitat bezogen und es so interpretiert, als ob das "es" einzufügen sei. ohne ist, wie gesagt, in der tat besser als mit.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Hannah Rieth

Mitglied
Hallo Ofterdingen,

ich schließe mich meinen Vorschreibern an: Ein wirklich schöner Text.

An einer Stelle bin ich jedoch gestolpert: Der Herr am Nebentisch sagt, dass jeder hier von der Geschichte mit dem Küken wüsste. Unser Prot hat jedoch keine Ahnung, obwohl er in den Hügeln in der Nähe wohnt. Ich würde vielleicht über folgende Möglichkeit nachdenken:

Warum passiert mir das nicht? fragt ein Herr am Nebentisch. Er hat ein hartes Gesicht und einen freudlosen Mund. [strike][red]Wie jeder hier kenne ich die Geschichte von dem Studenten. Tag für Tag besuche ich dieses Café, aber aus meiner Tasse ist noch nie ein Küken aufgestiegen.[/red]
[/strike]
Viele Grüße von Hannah
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Bluefin,

Von dir ein solches Lob? Das ist ja wie ein Rolls vor der Tür oder ein Adelsprädikat. Wie bedankt man sich für sowas? Keine Ahnung, danke jedenfalls.

Dunkles Rot: Der Text spielt auf einen asiatischen Tempel an (geschwungenes Dach). Die Tempel, die ich in Sri Lanka sah, waren alle in dieser Farbe, tibetische Mönche tragen sie auch. Die Bedeutung? Vielleicht steht´s bei Wikipedia.

Nein, eine Interpretation gibt´s nicht. Welches eigene Erleben in den Text einging, gehört zu meinem eifersüchtig gehüteten Privatissimum, und im Übrigen ist es gerade der Vorzug der Geschichte, dass sie jedem Leser genügend Raum bietet. Sollen doch ihre Enden im Wind flattern! Ich werde mich hüten, sie festzunageln.

Gruß,

Ofterdingen
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Open Mike,

Auch dir Dank für deinen Kommentar. Ich wurde schon einmal ermahnt, meine Geschichten mit mehr Einzelheiten, Hintergrund, Kulisse auszustatten und antwortete damals:

Während Dialoge Tempo erzeugen und die Handlung vorantreiben können, ohne unbedingt viel Hintergrund um sich zu brauchen, oder - falls nötig - ihn nebenher und in aller Leichtigkeit aus sich selber zu erschaffen vermögen, neigt die außerdialogische „Kulisse“ eher dazu, Pfähle in die Wirklichkeit von Raum und Zeit zu schlagen, die Handlung im Tempo abzubremsen oder sie ganz anzuketten. Außerdem macht sie den Autor möglicherweise auffindbar in Raum und Zeit, obwohl ihm das vielleicht gar nicht recht ist.

Meine Meinung hat sich seither nicht geändert. Zurzeit lese ich Julia Francks „Mittagsfrau“ und bin sehr angetan von ihrer Fähigkeit, durch zahllose Einzelheiten eine sehr dichte Atmosphäre zu schaffen. Sie und ich sind aber offensichtlich sehr unterschiedliche Charaktere, außerdem breitet sie sich auf 429 Buchseiten aus, während ich eine Miniatur gewählt habe, genremäßig am ehesten eine Parabel, eine Form, die von jeher nur ein Minimum an Kulisse benötigt hat.

Aber vielleicht mache ich nächstens mal wieder einen Ausstattungsfilm.

Gruß,

Ofterdingen
 

Ofterdingen

Mitglied
Herzlichen Dank auch dir, Franca, für deinen Kommentar.

„Rot sehe ich sowohl als Farbe der Liebe, aber auch als Signal für gut behüten.“ Nicht dass ich mich ertappt fühlte, aber besser, ich sage nichts dazu und verweise bloß auf meine Antwort an bluefin.

Liebgrüß,

Ofterdingen


Hallo Chrisch,

Ganz artigen Dank auch dir. Schön, dass es passt.

Gruß,

Ofterdingen


Hallo Hannah Rieth,

Danke fürs Nachdenken! „Unser Prot hat jedoch keine Ahnung, obwohl er in den Hügeln in der Nähe wohnt.“ Mal sehen, ob ich das ändere. Vielleicht lass ich´s auch. Könnte doch sein, dass der Protagonist ein wenig Ähnlichkeit hat mit seinem Erfinder und mal in dieses, mal in jenes Café geht, und, wenn er dort ist, schreibt oder liest und wenig Lust zum Tratschen verspürt.

Liebe Grüße,

Ofterdingen
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo bluefin,

"hannah hat recht mit dem >Ja, in den Hügeln hier in der Nähe.< tipp: mach >ja, hinter den hügeln< draus. das wär weit genug weg."

Ich habe spaßeshalber nachgerechnet, in wie vielen der `bars´ hier in der Nähe (ein Dutzend Kilometer Umkreis) ich während der letzten zwei Monate einen Cappuccino getrunken habe und kam auf immerhin 20. Nur vier von ihnen kenne ich näher, in allen anderen war ich quasi ein durchreisender Fremder. Da mein Protagonist sich in derselben Gegend angesiedelt hat wie ich, könnte es ihm ja ähnlich gehen.

Aber ich werde mir die Stelle noch einmal genau anschauen. Entweder ich ändere das in deiner Richtung, bluefin, oder ich mache kenntlich, dass der Protagonist ein Fremder ist, zum Beispiel, indem der andere Gast wie gehabt sich beschwert, dass er Tag für Tag vergebens warte und dann komme einer das erste Mal daher und dem passiere es.

Liebe Grüße, demnächst auch aus München,
Ofterdingen
 
B

bluefin

Gast
das würde ich nicht tun. denn dann verlöre das vögelchen ja ganz den bezug und der prot auch. ich geh davon aus, dass dieses "embedding" von bedeutung ist (schließllich wissen alle talbewohner von dem ereignis, obwohl es schon so lange zurückliegt - nur der prot nicht).

liebe grüße aus münchen

bluefin
 

Ofterdingen

Mitglied
Hallo Open Mike,

>quote:
--------------------------------------------------------------------------------
den Kaffee … die Flüssigkeit … aus der schwarzen Brühe … aus dem heißen Wasser
--------------------------------------------------------------------------------

Zufrieden damit?<

Ich nehme an, du meinst mich. Hm. Lohnt vielleicht wirklich das Nachdenken. Eine Möglichkeit wäre, dass ich Cappuccino und Milchschaum einsetze. Mit dieser Klappe würde ich gleich noch zwei weitere Fliegen schlagen: Ich hätte damit eine Spur Lokalkolorit und bei mehr Lesern bluefins Assoziation `Geburt der Venus´.

Viel darfst du jetzt aber nicht mehr kritisieren, sonst denkt bluefin noch, meine Geschichte sei doch nicht die schönste im ganzen Land und nimmt mir den Rolls wieder weg. Wenn du brav bist, lasse ich dich auch mal fahren.


Gruß,
Ofterdingen
 
B

bluefin

Gast
das modewort "cappuccino" liest sich so grauenerregend, dass es aus der deutschen literatour auf ewig verbannt gehörte. küken haben darin (im ~) nix verloren.

"schwarze brühe" ist völlig korrekt, da sich's um ein waschechtes heißbrühgetränkt handelt, hier wohl um ein starkes. und sie klingt gut...*mystic*...

lg

bluefin
 



 
Oben Unten