Kastanienallee

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maerchenhexe

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Kastanienallee
Lobreier betrat die alte Lagerhalle, in der seit zwei Jahren die Suppenküche der AWO untergebracht war und sah sich suchend um. Auf den abgewetzten Tischen taten Teelichter ihr Möglichstes, um ein Hauch von Gemütlichkeit zu verbreiten. Girlanden und Luftschlangenreste sprenkelten Farbtupfer in das kahle Weiß der Wände. Konfettireste klebten auf dem Boden fest. Er ging geradewegs auf die Theke zu, hinter der eine grausträhnige Mittfünfzigerin unermüdlich Gulasch und Nudeln auf die Teller der Wartenden schöpfte. „Esst Leute, kommt direkt aus dem Hotel nebenan. Wer weiß, wann die wieder so was Gutes übrig haben. Pudding gibt es auch zum Nachtisch.“ Als sie ihn entdeckte, bat sie einen anderen Helfer vom Ende des Tresens ihre Arbeit zu übernehmen und kam dann behände auf ihn zugeschossen.
„Sie sehen mir nicht so aus, als wenn Sie auf eine warme Mahlzeit unserer Institution angewiesen sind, junger Mann?“ Er beeilte sich, die unausgesprochene Frage umgehend zu beantworten. „Mein Name ist Lobreier, Hauptkommissar Lobreier, und ich möchte wissen, ob Sie einen Obdachlosen namens Max Gildenfeld kennen, oder ob ihn überhaupt jemand hier kennt, Frau …?“
„Angelika Fragemann. Ich bin die Leiterin dieser Einrichtung. Ja, ich kenne Max. Was wollen Sie von ihm? Er ist eine von den so genannten verkrachten Existenzen, tut aber keiner Fliege etwas zu Leide.“
Mit einer zögerlichen Bewegung holte er den Brief aus der Manteltasche. „Dann ist das hier wohl für Sie. Ihr Name steht drauf. Er scheint Ihnen vertraut zu haben. Ein anderer Berber hat Herrn Gildenfeld heute Morgen gefunden und uns benachrichtigt. Die Kälte, der Alkohol, und dann wollte das Herz wohl nicht mehr. Genaueres wird die Obduktion zeigen. Möglicherweise kann der Brief dennoch genaueren Aufschluss geben.“
Er bemerkte ihr leichtes Schwanken, dirigierte sie zum nächsten Stuhl und setzte sich ihr gegenüber. Er sah, dass ihre Finger zitterten, als sie den Brief öffnete, beobachtete, wie sie die Zeilen überflog, ehe sie leise fragte: „Ist da wohl was dran, dass man an gebrochenem Herzen sterben kann? Vorgestern Abend war Max hier. Sie wissen schon, es war Rosenmontag, da sind sie alle hier. Bis zum Schluss ist er geblieben, hat kaum gesprochen, nur getrunken. War der Letzte, der ging. Hat mich beim Rausgehen nur gefragt, ob man dem Herz befehlen könne, seine Arbeit einzustellen, wenn eigentlich alles zu Ende sei.“
Übergangslos las sie ihm den Brief vor.

Liebe Angelika,
ich passe nicht mehr dorthin. Ein Fremdkörper bin ich in diesem vornehmen, kleinen Stadtviertel, in dem die Häuser ihre Gesichter hinter Tannen und schmiedeeisernen Gittern verbergen. In dem jeder jeden kennt. Die Mienen der Entgegenkommenden spiegelten es. Der jungen Frau mit der kleinen Prinzessin an der Hand schien es unangenehm, den Gehsteig mit mir teilen zu müssen, sie zog das Mädchen auf die andere Straßenseite. Wenn ich durch den kleinen Park ging, konnte ich abkürzen, quer über die Auslaufwiese für Hunde und dann am anderen Ende am Kinderspielplatz wieder hinaus. Gleich musste doch das Schild kommen: Fahrrad fahren verboten, Hunde sind auf den Wegen an der Leine zu führen. Ich ärgerte mich über mich selbst. Du weißt ja, die blöde Gefühlsduselei, packt mich jedes Jahr am dritten Februar, dem Geburtstag meines Sohnes. Vielleicht gab es in der Grünanlage ja immer noch den Rosenmontagstreff für die Nachbarschaft. Einen Glühwein ließ meine Barschaft noch zu.

„He, Alter, pass doch auf, wo du hinläufst.“ Fast wäre ich in den jungen Burschen hineingerannt. „Hast du dich nicht verirrt? So etwas wie dich sehen wir hier selten.“ Er blickte mich auffordernd an. Achtzehn mochte er sein, vielleicht neunzehn. Gucci! Das sah ich der Kleidung auf den ersten Blick an. Dazu ein Piratentuch um den Kopf geschlungen.
„Entschuldigung! War in Gedanken. Ich möchte zur Kastanienallee, und da ist dieser Weg der naheste. Im Übrigen bin ich nicht ihr ‚Alter’.“ Im gleichen Moment ärgerte ich mich schon wieder. Warum antwortete ich diesem Grünschnabel überhaupt?
Der Gesichtsaudruck des Jungen veränderte sich. Seine Neugier schien geweckt. Meine Ausdrucksweise war wohl nicht die, die er erwartet hatte. Irgendwas aus dem ersten Leben nimmt man eben immer mit.
„Ist schon gut, war nicht so gemeint. Eigentlich bin ich nicht so. Meine Mom hätte das nicht hören dürfen. Im Park gibt es eine Karnevalsfeier; Musik, Imbiss und ein paar Getränkestände. Da will ich gerade hin. Komm, ich gebe einen aus, übrigens, mein Name ist Björn.“
Die Aussicht auf einen wohlig wärmenden Glühwein mit Rum und ein bisschen Gesellschaft lockte. „Einverstanden, du kannst Max zu mir sagen. Netter Name, ’Björn’. Du heißt wie mein Sohn. Guck nicht so, auch so was wie ich kann Kinder haben.“

Neugierige und verachtende Blicke schlugen mir entgegen, als ich mich an den Holztisch neben den Wärmestrahler setzte. Dem abschätzigen Blick einer Pelzmantel tragenden Katze begegnete ich mit innerem Widerstand: ‚Glotz ruhig, hab auch schon bessere Zeiten gesehen.’
Als der Junge an den Tisch kam und mir den Glühwein zuschob, griff ich hastig danach. Ich nahm einen ordentlichen Schluck, verbrannte mir den Mund und spürte endlich die Hitze, die vom Magen aufsteigend, den Körper durchzog.
Dieser Treff existierte seit beinahe zwanzig Jahren. Für einen Moment sah ich Silvia, mich und den Jungen hier bei den Ständen. Für ihn mussten es immer Fritten sein, für uns beide Glühwein. Björn fuhr dann auf dem Kinderkarussell und wir sangen weinselig die aktuellen Karnevalslieder mit. – Damals als ich noch zu ihnen gehörte.
Der Junge holte mich zurück.
„Sag mal, was will einer wie du in der Kastanienallee? Ich meine, so wie du aussiehst, wohnen da bestimmt keine Freunde von dir. Da leben nur Leute mit richtig Geld. Ich kenn mich da aus.“
Seine Direktheit traf mich. Als ich an mir hinunter sah, schämte ich mich das erste Mal seit langer Zeit. Meine schief getretenen Winterstiefel hatten noch nie Schuhcreme gesehen und der Rest von mir zeigte überdeutlich, dass ich Platte machte. Undefinierbarer Zorn stieg in mir auf.

„Ach, du kennst dich da aus? Kann ja sein, ich kenn da auch ein paar Leute, kann ja sein, ich hatte auch mal Kohle. Glaubst du, ich war mein ganzes Leben ein Penner, einer von diesen Alkis, die ihr Leben versaufen? Nein, mein Freund, ich habe Gucci getragen, genau wie du. Hatte Familie und jede Menge Geld – aber ich hab’s vermasselt! Jungen, wie du können über mich schon überhaupt nicht urteilen. Was weißt du denn schon vom Leben?“ Ich erschrak über meine eigene Heftigkeit. Der Bursche traf meine empfindlichsten Stellen. Ich versuchte eine lahme Entschuldigung. „Tut mir leid, aber wenn ich dran denke, werde ich immer wütend auf mich selbst und diesmal hast du es abbekommen.“
Mein Ausbruch lenkte die Aufmerksamkeit der Umstehenden auf uns beide. Der Mittvierziger-Möchtegerncowboy, der die ganze Zeit mit der Katze Händchen hielt, drohte mir mit der Faust und rief: „Wenn du dich nicht benehmen kannst, verschwinde. Gesocks, wie dich, kann ich eh nicht ab. Lass ja den kleinen Gildenfeld in Ruhe.“
Der letzte Satz dröhnte in meinen Ohren. Ich merkte, wie es in mir hochstieg. Der Magen krampfte, mir wurde schwindelig, gleich würde ich mich übergeben müssen. Ich suchte Halt an der Tischkante.
Durch eine Nebelwand hörte ich die Stimme meines Sohnes: „Mann, das muss echt am Namen liegen. Mein Erzeuger war auch so ein Verlierertyp. Max Gildenfeld, der große Immobilienmakler. Bis er das Spielen und Saufen anfing und sich irgendwann vom Acker machte. Ich war ihm scheißegal. Gut, dass Mama ihn rechtzeitig aus der Firma geschmissen hat. Nur scheiden lassen hat sie sich nicht. ‚Er ist krank’, hat sie immer gesagt. Hab ihn seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen. Jetzt will ich auch nicht mehr. Vielleicht pennt er mittlerweile auch unter `ner Brücke. Er wurde auch immer laut. Ich geh lieber zu den Anderen. So wie du drauf bist …“
Das Zurückschieben des Stuhls verursachte ein knirschendes Geräusch. Ein paar Münzen klimperten auf dem Tisch. „Kauf dir noch was zu trinken dafür.“ Leichte Schritte, die sich schnell entfernten.
Angelika, soviel Wut und Schmerz hatten in der Stimme meines Jungen mitgeklungen. ‚Bleib hier’, wollte ich schreien, ‚lass uns reden, ich kann dir erklären’ – aber ich saß wie festgenagelt auf diesem verdammten Stuhl, unfähig zu reagieren. Ich hatte wieder versagt.
Irgendwann hörte die Übelkeit auf und mein Kopf wurde klar. Ich würde eine gute Stunde brauchen, um zu meiner Platte am Bahnhof zurückzukehren. Gegen Abend war Rosenmontagsfeier bei dir in der Suppenküche angesagt. Ich passte jetzt genau dorthin.
Liebe Angelika, erzählen konnte ich es nicht, aber schreiben. Bei Dir weiß ich es gut aufgehoben.
Max

Für ein, zwei Minuten lag Stille über dem Tisch. Dann stand Lobreier auf, räusperte sich und gab seiner Stimme einen geschäftsmäßigen Klang. „Tja, diese Einzelschicksale darf man nicht an sich rankommen lassen. Man könnte sonst seine Arbeit gar nicht mehr sachgerecht erledigen.“ Angelika Fragemann begleitete ihn zu Tür. Er bemerkte, dass sie einen Moment zögerte, dann legte sie entschlossen den Brief in seine Hand. „Sie müssen doch sowieso in die Kastanienallee. Der Frau Nachricht geben von seinem Tod. Geben Sie Björn den Brief. Er gehört ihm!“
 



 
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