Katastrophenangst

schreiber

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In Erwartung Karl-Heinz Schreiber
Auf den Straßen herrschte das übliche Chaos. In den Amtsstuben machte sich die ganz normale Ratlosigkeit breit. Man hatte sich eigentlich gewissenhart vorbereitet. Vorräte eingekauft und gut trainiert. Jede Familie war auf alles gefaßt. Die Polizei rechnete mit dem Schlimmsten. Sogar die Armee war in Alarmbereitschaft versetzt worden. Der Regierungspräsident hafte extra seinen Urlaub unterbrochen. Die Kinder hatten eine Woche schulfrei bekommen. Die Katastropheneinsatzpläne waren noch einmal in aller Ausführlichkeit in den Zeitungen abgedruckt und im Fernsehen besprochen worden. Auch die Plakatwände zierte kein anderes Thema mehr. Zigarettenwerbung war out, Katastropheneinstimmung war in. Die Gesichtsausdrücke der Leute hatten die erforderliche Anspannung. Man schüttelte öfter den Kopf, machte mit den Unterarmen öffnende und schließende Bewegungen. Verkniff die Lippen und verzog die Augenbrauen. Kaum einer getraute sich noch, sich ernsthaft zu betrinken. Denn jeden Moment konnte es passieren, konnte es losgehen.
Man hatte ja bisher schon so viel darüber gehört und gelesen. An allen Stammtischen gab es seit Wochen kein anderes Thema mehr. An den Bushaltestellen, in den Wartezimmern, in der Sauna und auf den F^iedhöfen sprach man über nichts anderes mehr. Alle Nachrichtensendungen waren darauf eingestellt: es gab Vorberichte, Prognosen und Expertengespräche auf allen Kanälen mit mehr oder weniger seriösen Zielvorgaben. Sogar ein Institut für kultivierten Exitus wurde gegründet und aus Steuermitteln finanziert. Beteiligung war das entscheidende Stichwort, war die Parole, war das Fee-ling. Die Bevölkerung war dermaßen diszipliniert auf das zu Erwartende eingestimmt, man plante nichts Längerfristiges mehr; man führte manchmal sogar schon ernsthafte Gespräche über die Zeit danach - falls es so etwas überhaupt noch geben würde. Eine Zeit danach, welch wagemutige Kategorie. Für viele war derartiges ohnehin nicht mehr reali^, stisch vorstellbar. Wie sollte das denn auch gehen. Das bevorstehende Ereignis würde alles unbarmherzig verändern, daß es auch kein Vorher mehr gegeben zu haben schien. Erinnerungen waren seit langem eigentlich nicht mehr erwünscht. Mit Rührseligkeiten konnte man das Kommende auch nicht mehr aufhalten. Sonderkommandos marschierten regelmäßig auf. Die Bevölkerung war voll auf der offiziösen Linie. In den Stadtzentren ebenso wie in den Vororten war man auf alles gefaßt.
Nur dunkel konnte man sich noch an das letzte Mal erinnern. Eigentlich nur noch aus den Erzählungen der Großeltem. Irgendwie war der Greuel für zu lange Zeit schon in weite Ferne gerückt. Man wollte es jetzt auch endlich selbst erleben. Die Praxis zählte auch in diesem Fall mehr als die Theorie. Zwar waren die Aussichten gering, daß man das Bevorstehende überleben würde, aber das Risiko war alles wert. Wer es überlebte, der konnte etwas erzählen. Der konnte dann erzählen, wie es diesmal gewesen war. Aber das Monster kam nicht. Es hatte sich abgesetzt. Was sollten die Leute jetzt mit ihrer Katastrophenstimmung anfangen.
 



 
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