Kathrein

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John Wein

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Kathrein

-Eine Heimat Geschichte-

Die Wahrheit ist die Existenz einer einzigen, unabänderlichen Wirklichkeit. Doch gibt es im Leben nicht auch die höhere Wahrheit, eine Wahrheit die uns erträglicher erscheint, als die nachprüfbare, unanfechtbare Wirklichkeit?

Die Kathrein hatte in einem baufälligen Häuschen im Bauerngestell gelebt, eine Flur weit draußen vor dem Dorf. Man wusste nicht mehr genau, wann und woher die Alte gekommen war, sie hatte nie darüber gesprochen. Doch allein das ist noch keine Geschichte.

Irgendwann, im Dorf hätte man sich nicht mehr auf Jahr und Tag genau erinnern können, wäre sie da gewesen. Meine Mutter, die mir davon erzählte meinte, sie wäre in den Wirren der Nachkriegsjahre zusammen mit den Flüchtlingen aus dem Böhmerwald ins Dorf gespült worden, aber Näheres hat auch sie mir nicht sagen können.

Während es sich alle anderen Fremden mit der Zeit im Dorf eingerichtet hätten, hätte die Kathrein weiter draußen im Siechenhaus leben wollen. Es war eine windschiefe Bruchbude, in die man vor sehr langer Zeit einmal die Pestkranken zum Sterben verbannt hatte. In den Jahrhunderten danach hatte sich die Gegend mehr und mehr in eine Schlucht voller Unrat, eifrigem Holunder und Brennnesseln entwickelt. Immerhin, mit den Jahren hatte es sich die Kathrein an diesem trostlosen Andersort eingerichtet und sich auch später nicht mehr überreden lassen, das Anwesen zu räumen. Nur mit den Füßen voran täte sie das, hatte sie mit scharfer Zunge gekräht.

Als junge Frau war sie bestimmt einmal hübsch gewesen. Wäre da nicht das Schlupflid und die schadhafte Zahnreihe gewesen, ein Gewehrkolben hatte seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, hätte man in ihr eine attraktive Person vermuten können. Hat man sich nach ihrem Alter erkundigt, so hieß es lapidar, sie wäre sehr alt gewesen, sie hätte beispielsweise noch die Französische Revolution erlebt. Wörtlich war das nicht zu nehmen aber im höheren Sinne schon. Vielleicht hatte sie den Leuten auch nur davon erzählt. Märchen sind nun mal ein Stoff, der sich in alles verwandeln kann.

Bei allem Respekt, heute ist auch meine Erinnerung an die damaligen Vorfälle schon etwas ins Schwimmen geraten, aber wie ich mich entsinne, so hatten Dörfler hinter vorgehaltener Hand Worte getuschelt, die man sonst nur in Anführungszeichen setzt. Sie hätte einen Schiefen Blick und einige hatten sogar gemeint, sie könne hexen. Durch Handauflegen hätte sie dem Flurschütz den Gallenstau gemildert und dem Gemeindediener Gschwandner zur Heilung seiner Altemännerschmerzen verholfen.

Des Öfteren und immer spät am Abend soll sich der Gschwandner, Gemeindediener und Ausrufer, im Schutz der Dunkelheit ins Bauerngestell aufgemacht haben. Er hätte bereits die besten Jahre hinter sich gehabt, hätte mit seiner Frau und den beiden Kindern im Gemeindehaus gelebt, aber ungeachtet seines Alters hätte er noch mit beiden Beinen mitten im Leben und voll im Saft gestanden. Er wäre ein ehrbarer und furchtloser Mann gewesen hieß es, selbst die Gottesfurcht sei ihm fremd gewesen. Mitunter so hatte man im Dorf vernommen, wäre aus dem Bauerngestell mit dem Wind markerschütterndes Gezeter herüber geweht. Man munkelte es wäre vielleicht ein Hirsch gewesen, der brunftig in die Dunkelheit geröhrt hätte oder ein wehklagendes Käuzchen. Auf alle Fälle wäre die Arthritis des Gemeindedieners nach geraumer Zeit wie von Zauberhand verschwunden.

Mitunter war die Kathrein mit ihrem Leiterwägelchen ins Dorf gezuckelt um getrocknete Kräuter, Beeren und selbstgebraute Elixiere gegen geringes Geld feilzubieten. Aber viele hätten sich aus Gründen, die man zwar verstehen aber nicht gutheißen kann, abgewandt und wären hinter den Gardienen verschwunden. Man hätte ja nie wissen können. Von einem Bösen Blick bedacht zu werden, hätte möglicherweise unbekömmlich sein können. Einmal hätte der Bauer Kreck, der sein Vieh im Bauerngestell weidete, ernüchternd zur Kenntnis nehmen müssen, dass der Gertrud die Milchdrüsen vertrocknet seien, dabei wäre sie noch vor nicht allzu langer Zeit seine beste Kuh im Stall gewesen mit einem prallen, fruchtbaren Euter. Dem Tillmann sei in dem Jahr das Haus herunter gebrannt und die arme Gschwandnerin, Frau des Gemeindedieners, wäre in eine seltsame Melancholie verfallen. Durch all diese merkwürdigen Vorgänge und gleichsam wegen ihrer absonderlichen Art, war die Kathrein mit einer geheimnisvollen Aura verwoben, die den Dörflern mit der Zeit ein großes Unwohlsein bereitet hatte.

Man sagt spiritistische Wahrnehmungen und Handlungen lägen jenseits der Grenzen des Verstehens der meisten Menschen. Doch wer sagt uns denn, dass es nicht jenseits dieser Grenzen ein höheres Verstehen gibt, eine Wahrheit, die unserem Verstand fremd ist. Waren nicht die denkwürdigen Vorfälle einerseits und die Genesung des Gschwandner der beste Beweis dieser These, oder war die Vorkommnisse doch nur Hokuspokus?

Bei Vollmond des Nachts soll sich die Kathrein in den Weißbirken am Hammerweiher ihrer Kleider entledigt und splitterfasernackt einen Tanz aufgeführt haben, um sich hernach ohne dass der Spiegel des Weihers auch nur einen Wellenkreis gezeigt hätte, im Wasser abgekühlt haben. Jedenfalls hatte der Flurschütz davon berichtet, der wegen seiner Schlafprobleme, manche hatten zuvorderst sein schlechtes Gewissen vermutetet, des Nachts oftmals im Gelände unterwegs gewesen sei. Über dem Wasser hätte da fußhoch ein Nebel gewabert, mit dem sich Wirklichkeit und seine Einbildung vermischt hätten und die Kathrein wie von Zauberhand entschwunden sei. Im Nassauer Hof hatte der Flurschütz bei seinen Schilderungen die Stirn besorgniserregend in Falten gelegt, während seine Augen in eine ahnungsvolle Ferne stierten. Nach jedem zweiten Satz hatte er die Pfeife abgesetzt und mehrsilbige Worte gemunkelt, indes die Hörerschaft mit aufgerissenen Augen gebannt und schaudernd den Andeutungen gelauscht hatten. Da war eine Stille in der Wirtsstube gewesen, eine Stille von so einer Dichte, dass beinahe die Uhren eingeschlafen wären. „Die Alte ist besessen!“ hatte er geraunt. „Sie ist der Teufel!“ hatte die Gschwandnerin gegeifert und ein „Kruzifix!“ hinten angehängt und weiter, „da muss man doch was unternehmen!“

Herrschaft nochmal, wie doch der Teufel manchmal mit unseren Zungen spielt! Aber sollte sie mehr als die andern im Dorf gewusst haben?

Dann im Spätherbst, an einem nebelumsponnenen Novembertag, war das unüberhörbare Zeichen einer höheren Macht vernommen worden, Gertrude hatte einen Sprung in der Schüssel erlitten. Die größere der beiden Kirchenglocken St. Margaretens hatte mit ihrem Schlagwerk über zweihundert Jahre die Geschicke des Dorfes gelenkt, alle Tageszeiten gewissenhaft gekündet und die Kirchgangzeiten verantwortlich angemahnt. Nun war da ein Sprung im unteren Teil. Er hatte sich bis an den Hals hinauf gezogen, und der einst saubere glockenklare Klang war im Nu zu einem saftlosen und stumpfen Misston verkommen. Ein Himmelszeichen?

Es hatte nicht mehr lange gebraucht und der Tag war gekommen, an dem die Kathrein von heute auf morgen verschwunden war, und mit einem Gefühl, das nichts Gutes verhieß, hatte man nach ihr oder einem Hinweis auf ihren Verbleib gesucht. Gründlich war das Häuschen nach einer Notiz umgekrempelt, das Gerümpel der Räumlichkeiten durchwühlt, die Platte der Sickergrube gelüftet, der Kräutergarten neben dem Haus und der Garten dahinter umgegraben worden. Nichts! Die Brennnessel Wildnis im Bauerngestell wurde abgemäht, der Wald des Eichholzkopfs, des Kronbergs und des Eibershains wurden durchkämmt, sogar den Hammerweiher hatte man abgelassen, aber alles blieb ohne verwertbare Hinweise oder gar Ergebnisse. Natürlich hatte man sich auch nachdem Warum gefragt, für einen Anhaltspunkt für das Verschwinden der Kathrein, selbst der Geschwandner, der doch immer Umgang mit ihr gehabt hatte, wusste hier keine verwertbare Erklärung.

Schließlich, die Tage waren allmählich dunkler geworden und die Temperaturen tiefer gesunken. Am ersten Adventssonntag hatte dünner Flockenwirbel eingesetzt zunächst zögernd und lautlos in der Nacht zum Montag sich mit dem Wind zu einem beispiellosen Schneetreiben verdichtet, bei dem man nicht mal mehr die Hand vor Augen sehen konnte. Drei volle Tage war das so gegangen. Man hatte sich danach von Haus zu Haus mit Schaufel und Besen die Wege erst wieder freimachen müssen. Am Ende der Woche hatte es aufgeklart und war bitterkalt geworden bis unter minus zwanzig Grad des Nachts. Da war natürlich die Suche nach der Kathrein zunächst einmal eingestellt worden.

In den Raunächten des Jänner hatte eine gewaltige Schneedecke alles Land mit einem kalten, weißen Frieden überzogen, und während die Älteren ihre Winternot hatten, hatten wir Kinder unseren Spaß, waren noch gefahrlos auf der Straße die Weidelbacher Höhe hinunter gerodelt und auf dem geräumten Hammerweier Schlittschuh gelaufen. Oh ja, da ich kann mich im Nachhinein noch genau erinnern, an den dampfende Atem, unsere roten Nasen und die kalten Finger. Der Winter aber ging dahin und die Zeit zusammen mit Schnee und Eis hatten ihren Mantel über das Verschwinden der Kathrein gedeckt.

Schade dachte ich, eigentlich liebe ich die Geschichten nicht, die ein blutleeres Ende haben und bei denen man Herumrätseln soll, wie sie schließlich ausgegangen sind. Es hätte nichts mehr zu bedeuten gehabt, hatte die Mutter gemeint und ohne beim Kartoffelschälen aufzublicken ergänzte sie, wäre das Leben im Dorf recht harmonisch weiter seinen normalen Weg gegangen, und übersinnliche Merkwürdigkeiten hätte es auch nicht mehr gegeben. Vielleicht noch, dass die Frau des Gschwandner von heute auf morgen von ihreren Depressionen geheilt gewesen sei und den Clemens ihrem Angetrauten seine Altemännerschmerzen wieder angeflogen hätten. Er hätte bis zu seinem seligen Ende bitter daran gelitten.

„Ja und die Kathrein? Blieb sie denn gänzlich wie vom Erdboden verschwunden?“ fragte ich die Mutter, „hat man nie mehr ein Zeichen von ihr gehabt?“

Später im Jahr, so genau wusste sie es nicht mehr, hätten in dem undurchdringlich von Farn, Buschwerk und niederen Tannen zugewachsenen Steinbruch hinter dem Gispel Pilzsucher ein paar Knochen gefunden, die man zusammen mit ein paar Fetzen der Kathrein hätte zuordnen können. Das Wild und die Zeit hätten aber ihre Arbeit geleistet. Doch wie sie zu Tode gekommen sei: „Durch einen Sturz?“…. „Natürlich durch einen Sturz!“ An weitergehenden Vermutungen wollte sich die Mutter nicht mehr beteiligen. Sie meinte, man hätte es einfach nicht mehr herausfinden können. Es wäre auch besser für den Dorffrieden gewesen, dass Gras über die Sache gewachsen sei, denn schließlich gäbe es ein höheres Verstehen und Grenzen, die man tunlichst nicht überschreiten dürfe.

„Die Toten soll man in Ruhe lassen“, hatte sie gesagt und mit feierlich mahnender Miene hinzugefügt, „ihnen soll man ein für alle Mal den göttlichen Frieden anheimstellen“.

So wurden am Ende aus einem Gebräu von Ahnungen und Vermutungen eine eingebildete Gewissheit und schließlich die unumstößliche Wahrheit. Und die Zeit verrann und alle Welt im Dorf ging darüber hinweg. Es hieß, es sei nun einmal Fügung und göttliche Macht, die alle Zeit regiert und unser menschliches Zusammenleben auf der Erde regelt.

JW. 12. 2014
 



 
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