Kiki

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krokotraene

Mitglied
Wir stehen rund um das offene Grab und starren wortlos in die Tiefe. Wir waren eine Clique. Drei Männer und vier Frauen. Wir hielten eisern zusammen. Wir stellten uns jedem Kampf.

Doch Werner verlor den Kampf. Seinen eigenen Kampf. Er verlor gegen den Rest der Welt. Sie haben ihn hinabgelassen. Hinab in die Tiefen der Erde. Er möge seine Ruhe finden. Ruhe, die er immer gesucht hat.

Keiner von uns möchte die Stille durchbrechen. Es ist ein grauer, nebliger Tag im November. Die Kälte ergreift uns. Sie hält uns wie Gefangene. Gefangene in einer fremden Welt. Die Nebelschwaden haben den kleinen Ortsfriedhof in fester Hand. Leise bläst der Wind durch die Baumkronen. Die letzten Blätter beugen sich den endenden Herbsttagen.

"Kiki! Kiki!", ein leises Rufen durchbricht die gespenstische Stille. Es klingt wie aus einer anderen Welt. So warm, so herzlich, so liebevoll. "Kiki! Kiki!", noch einmal tönt es an unser Ohr.

Ich bin leichenblass. Ich weiß nicht, läßt mich die Kälte gefrieren oder die Stimme. Es hat den Anschein, als wäre kein Tropfen Blut mehr in meinen Adern. Meine Freunde starren noch immer in das offene Grab. Sie schenken mir keinerlei Beachtung. Mein Herzschlag wird schnell. Plötzlich schießt mein Puls nach oben. Ich habe das Gefühl mein Kopf explodiert in der nächsten Minute. Mit einem Schlag dürften meine Wangen von leichenblass in knallrot sich gefärbt haben. Meine Hände fangen an zu schwitzen. Ich kann es kaum glauben. Meine Augen suchen umher. Sie tasten jeden Millimeter des kleinen Friedhofes ab. Grabstein um Grabstein. Grabkerze um Grabkerze. Baum für Baum. Sogar die Vögel halten den Atem an.

Es ist totenstill. Meine Freunde scheinen auch ihre Atmung bis fast zum Stillstand zurückgeschraubt haben. Nur mein Herz hört man klopfen. Ganz wild und fest.

Ich strenge mich an. Strecke meine Ohren in alle Himmelsrichtungen. Aber es ist totenstill. Kein Windhauch mehr im Geäst. Kein Knacksen der alten Bäume. Kein Vogelgezwitscher. Und auch keine Stimme die Kiki ruft.

Kiki. Mein Spitzname. Den kannte nur meine Großmutter. Meine geliebte Großmutter. Wäre sie noch am Leben wäre alles anders.

Es war mein fünfzehnter Geburtstag. Sie wollte mit meinem Freund und mir feiern. Sie wollte uns einladen. Raus aus der Provinz. Rein in die Großstadt. Ihre Enkelin, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist. Deren Vater ein Säufer war. Ihr großer Schatz hatte Geburtstag. Wir wollten mit dem Auto fahren. In die Big City. Ins Kino. Essen. Etwas trinken.

Mein Freund und ich tranken. Meine Großmutter blieb nüchtern. Sie fuhr. Sie war eine gute Fahrerin. Der junge Mann im Gegenverkehr kam auch von einer Geburtstagsfeier. Von unserem Dorf. Er hatte gefeiert. Er hatte getrunken. Ihm war die Welt egal.

Er lebt weiter. Ich lebe weiter. Mein Freund lebt weiter. Meine Großmutter nicht.

Kiki, das war ihr Spitzname für mich. Wäre sie noch am Leben, hätte ich nie die Schule aufgegeben. Ich bin siebzehn. Ich lebe auf der Straße. Das hätte meine Großmutter nie zugelassen. Ihr liebes Kind. Unter der Brücke. Nein, dass hätte es nicht gegeben. Ich bin schwanger. Ich wollte es nicht. Ich brauchte Geld. Er versprach es mir. Bekommen habe ich nur eine Tracht Prügel. Er nahm sich was er wollte. Er war so brutal. Großmutter wo bist Du?

Kiki. Meine Großmutter konnte mir nie erklären wo es herkommt, aber ich liebte es wie sie es sagte. Seit meiner Geburt gab mir Kiki das Gefühl von Geborgenheit. Von Zuhause. Von Wärme. Von Nähe. Von Liebe. Kiki. Einfach nur Kiki. Und nur Großmutter durfte mich so nennen.

Am nächsten Abend muß ich noch einmal auf den Friedhof. Das Grab war bereits zugeschaufelt. Ein namenloses Holzkreuz steht darauf. Ich starre minutenlang regungslos auf den losen Erdhügel.

"Kiki! Kiki!", eine Frauenstimme ruft leise den Namen gegen den Wind.

Ich drehe mich vorsichtig um. Meine Augen strengen sich an. Sie möchten in dem Wirrwarr aus Nebel, Grabsteinen, Bäumen, Sträuchern und schwach flackernden Kerzen etwas erkennen. Ich kneife meine Augen zusammen. Da sehe ich eine Frauengestalt an einem Grabstein gelehnt. Sie dreht sich langsam um. Ihr Kopf ist zu Boden gesenkt. Sie streckt mir vage ihre Hand entgegen.
Ich gehe einen Schritt auf die Gestalt zu. Noch einen. Und noch einen. Ich strecke ihr meine Hand entgegen. Die Gestalt hebt ihr Haupt und ich starre in das Gesicht meiner Großmutter. Unsere Fingerspitzen berühren sich sanft. Ihr Blick ist warm, herzlich und doch streng zugleich.

Ich erinnere mich. So schaute sie immer, wenn ich etwas angestellt hatte. Sie konnte nicht wirklich streng sein. Sie war einfach nur gerecht.

Ich schaue in ihre Augen. Ich habe das Gefühl, ich schaue hindurch. Ich schaue in eine andere Welt. Ich sehe ein seltsames Schimmern.

"Großmutter ich wollte es nicht!", meine Stimme versagt. Ich mache eine Pause. Wir halten uns bei den Händen. Ein wohliges Gefühl von Wärme und Liebe steigt in mir auf. Es ist alles so vertraut. Ich fasse neuen Mut.

"Großmutter," noch einmal halte ich für ein paar Sekunden inne, "verzeih mir." Ich halte noch einmal kurz den Atem an. Dann flüstere ich leise: "Ich wollte den goldenen Schuss nicht!"
 

yggdrasil

Mitglied
Die erzeugte Stimmung gefällt, ist aber sehr anhaltend.

Die Rechtschreibung scheint sehr in Ordnung zu sein, da kann ich nichts kritisieren. Soweit erst einmal volle Pluspunkte. Auch die Ausdrucksweise lässt keinen Platz für kritische Anmerkungen - ebenfalls Pluspunkte.

Allerdings: Ein so langer Text, ausschließlich sehr kurze, fast abgehackte Sätze, im Schnitt etwa 4 Wörter pro Satz, oft weniger, selten mehr. Da muss man schon hartgesotten sein, um dran zu bleiben. Kurze Sätze einstreuen, auch als Stilmittel, um Hektik oder Dramatik zu erzeuge, aber bei diesem inneren Monolog?

Dazu: Ich habe den Inhalt nicht verstanden: Werner ist tot, Großmutter ist tot, aber die Ich-Person Ki-Ki lebt, und dann: "Ich wollte den goldenen Schuss nicht!"

Vielleicht verstehe ich den Sinn bei nochmaligem Lesen ... uff!
 
G

Gelöschtes Mitglied 17359

Gast
Hallo Krokotraene!

Ich hoffe, ich verstehe deine Geschichte richtig: Kiki ist nach dem tragischen Unfall drogensüchtig geworden, ist auf den Strich gegangen, schwanger geworden und hat sich nun in ihrer Verzweiflung den goldenen Schuss gesetzt und halluziniert, bevor sie stirbt?

Du beschreibst diesen seelischen Zustand sehr anschaulich. Zu diesen Empfindungen zwischen Wachen und "Träumen" passt meiner Meinugn nach der hektische Satzbau recht gut.

Allerdings: Ist die Rubrik "Krimi und Thriller" richtig für diesen Text? Ich würde ihn lieber als Kurzgeschichte ansehen oder im allgemeinen Bereich Kurzprosa ansiedeln.

Gruß, Hyazinthe
 



 
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