Kinder der Zeit

mischka

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Vom höchsten Gebäude der Stadt war nur die Silhouette erkennbar, denn selbst der von Regenwolken bedeckte Mond am Nachthimmel schien heller als dieser düstere Wolkenkratzer.
Wie ein ins Land gerammter riesiger Stachel ragte er empor, finster in dieser Nacht, und leblos. Auch in seinem Innern war es still - bewegungslos stand Babette hinter einem Fenster in der obersten Etage, gebannt vom Ausblick ihrer neuen Wohnung. Sie blickte auf die Stadt, ihre neue Stadt, unter ihr, blinkende Autoscheinwerfer und Reklametafeln in moderner Kälte. Sie blickte auf Menschen vor Diskotheken und Menschen an Tankstellen, die scheinbar ziellos umhertrotteten - winzig aus dieser Höhe. Als würden sie einfach nur ihre Plätze tauschen, ein Gewimmel von Menschen wie von Körnern durch eine flachgelegte Sanduhr. Als das erste kalte Licht des Morgens den Himmel erhellte, begaben sie sich zu ihren Arbeitsstellen, und bildeten ein erstes Rinnsal der früh Erwachten, das sich bald ausbreitete zum Strom eines neuen Tages. Bald würde sich etwas ändern zwischen denen dort unten, dachte Babette, sie würden sich ändern, wie sich schon so vieles in Stille geändert hatte.
An diesem neuen Tag saß ein junger Mann in einem Neubau mit beinahe quadratischem Grundriß, einem der zahllosen Supermärkte der zahllosen Supermarktketten, deren Einzigartigkeit nur in der Farbe ihrer Logos und den Logos auf ihren Produkten kennbar ist.
Und an der Kasse zu sitzen entsprach nicht dem Traum, den Juri seit Jahren geträumt hatte. Lieber hätte er sich in einen Anzug gekleidet an der Börse versucht - dann würde er viel Geld haben - dachte er - würde lieber genießen -, würde, würde. Im Supermarkt war kein Platz für Würde. Dort war Platz für fiepende Barcode-Lesegeräte, die, über absurde Produkte gezogen, Preis und Artikelnummer erfassten. Markennaturhaarpflegespülungskonzentrat, angereichert mit Biotin, Tageszeitungen mit wenig Schrift und großen Bildern, die täglich von zeitlosen Themen wie Ehebruch und Scheidung von Schlagersängern berichteten. Mit finsterem Blick fertigte er Kunden ab, nannte Beträge, die sie selbst auf der Registrierkasse hätten lesen können, und nahm ihre flexiblen Zahlungsmittel - teils aus Plastik - entgegen. Wartete auf Unterschriften von Kunden auf ec-Kartenbelegen, und verlor sich zeitweise in Gedanken. Er starrte auf die Plastikkarte, untersuchte ihre Struktur, sie war makellos glatt. Makellos, biegsam, elastisch. Merkwürdig, wie unmenschlich, obwohl von Menschen gemacht, dachte er. Elastisch, nein flexibel, das sollte er sein, ginge es nach seinen Eltern, seinen Eltern, die er satt hatte. Sie waren immer da und hatten gute Ideen, wie Juri erfolgreicher werden könnte. Du musst dich anpassen können, musst deine Makel verstecken, unter einer glänzenden Oberfläche, dann hast du Erfolg, sagten sie. Er sah sie morgens, bevor er an seine Kasse ging, mit den Schulbroten, die ihm seine Mutter geschmiert hatte. Du musst selbstständiger werden, sagte sie. Er sah sie nach seiner Arbeit, wenn er nach hause kam, und auf dem Weg zu seinem Zimmer die Wohnstube durchqueren musste, in der die Eltern saßen, aßen, fernsahen und gute Ideen parat hatten. In dieser Wohnstube hatten sie ihm auch einst erklärt, es wäre Zeit, sich Arbeit zu suchen, und sich darüber empört, als er keine Stelle fand, die ihm gefiel. Dann verglichen sie seine Jugendzeit mit ihrer, sie hatten es viel schwerer sagten sie, warum strengst du dich nicht an? Streng dich an, rede anständig, stottere nicht herum. Juri stotterte seit dem Kindergarten, und gab sich schon immer Mühe nicht zu stottern - es wurde schlimmer und er gab es auf. Ich w-w-würde mich freuen, bei Ihnen zu arbeite-te-ten. Schließlich landete er im Supermarkt, mißtrauisch beäugt, ob er durch seine Aussprache nicht Kunden vergraueln würde. Er machte dort kleine Fortschritte, konnte die Zahlungsbeträge aussprechen, ohne sich zu verhaspeln, sodass die meisten Kunden sein Handicap gar nicht erst bemerkten. Während der Arbeit blieb ihm auch etwas Zeit, zu träumen, von einem anderen Leben. Er fragte sich, ob er das Abitur hätte machen sollen, die Eltern hatten ihm schließlich dazu geraten, aber die versuchte er aus seinen Tagträumen herauszuhalten. Er gab der Kundin ihre ec-Karte zurück, bedankte sich - mühevoll und ohne Stottern - für ihren Einkauf und konzentrierte sich auf seine Funktion im Getriebe des Supermarktes. Juri gähnte. Und zu diesem Zeitpunkt am Vormittag gähnte ein beträchtlicher Teil der Menschen der Stadt.
Das Mädchen mit den Sommersprossen rieb sich die Augen. Sie befand sich in Juris ehemaliger Schule und war gerade zu mehr Aufmerksamkeit ermahnt worden. Sie sah etwas verquollen aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen, die sie rieb, und in denen man kleine rote Äderchen sah. Dies waren die Zeugen der gestrigen Nacht, in der Sie mit vielen Freunden und Tequila ihren Geburtstag gefeiert hatte. Die Lehrer hatten schon so ziemlich jeden verkatert erlebt, nach Zigarettenqualm müffelnd und unausgeschlafen. Nur Sara nicht, mit der nie jemand wirklich redete, die nie zu Parties eingeladen wurde und die auch selbst nie jemanden einlud. Und hätten die Lehrer oder das Mädchen mit den Sommersprossen oder sonst jemand genauer hingesehen, hätten sie mit ihr geredet, hätten sie das Mauerblümchen aus der letzten Bankreihe vielleicht doch ganz sympathisch gefunden. Doch dieses Mauerblümchen names Sara war selten anzutreffen, sie gehörte nicht zu den Menschen, die man nachmittags beim Einkaufen sieht, oder Nachts in einer Diskothek, um dann entspannt mit ihnen zu plaudern. Stattdessen blieb sie zu Hause, das war für sie das Normalverhalten, denn zu Besuch fühlte Sara sich unwohl. Sie redete ungern in der Öffentlichkeit, errötete dann schnell, fing an zu schwitzen und hatte dann Angst nach Schweiß zu riechen. Tequila hatte sie noch nie getrunken, dafür aber ihre Eltern im Whiskey-Rausch erlebt, die einander anschrien, und sich nicht scheiden ließen, weil sie sich einbildeten, dass Sara wert darauf legte, dass sie verheiratet blieben. Verhunzte Jugend also, nicht der Rede wert, wer kann heute schon von einer glücklichen Kindheit sprechen - dachte Sara deshalb gelegentlich. Im Fernsehen waren alle glücklich mit glücklicher Kindheit oder zumindest wichtig - Sara schlief vor Fernsehglück jeden Abend bei einer Seifenoper ein, und ohne ging es nicht mehr. Aber da ihr Fernseher sie nicht verlassen wird - überlegte sie - falls doch kann sie sich einen neuen kaufen - war diese Sucht nichts Beunruhigendes.
Nach der Schule legte sich Sara wieder auf das Sofa in ihrem Zimmer, und sah fern. Telefonklingeln lies das schöne Fernsehglück in ihrem Gesicht wie ein Kartenhaus zusammenfallen, auf ihrer Stirn bildeten sich Sorgenfalten. Sie hasste diesen digitalen Schrei, der Menschen zwang, den Hörer zu nehmen und zu sprechen. Sie bekam dann Angst, man könnte das Zittern in ihrer Stimme hören, und ihre Stimme begann dann zu zittern. Letztes Jahr war sie in einen Jungen aus ihrer Klasse verliebt gewesen, und saß - seine Telefonnummer mühsam aus dem Hausaufgabenheft ihrer Banknachbarin spioniert - lange vor dem Telefon, bereit seine Nummer zu wählen. Nun erinnerte sie sich täglich an diesen inneren Kampf zwischen Angst und Hoffnung und an ihre zitternden Hände, als sie ohne seine Stimme gehört zu haben den Rückzug in ihr Zimmer antrat. Und auch Heute: der Feind, das Telefon, klingelte weiter. Sara zwang ihre Hände auf den Hörer, hob ab, und versuchte möglichst nicht ängstlich zu klingen. Als sie die Stimme ihrer Tante Babette erkannte, war sie etwas erleichtert und versuchte eine gelassene Plauderei. Sie wurde eingeladen, zu Besuch, heute Abend. Babette wollte sie und ihre Familie einigen Freunden vorstellen, und Sara gab ihr Bestes, sich nicht vorzustellen, wie sie sich blamieren würde und man sie fragen würde, warum sie rot geworden war, wie sie nach Schweiß stinken würde, kurz wie der Tag zum angstvollen Desaster werden würde. Ihr Hoffnungskeim war ihr Aussehen, sie würde sich zurechtmachen, versuchen ihr gutes Aussehen der Angst entgegenzustellen. Würde eine Gesichtsmaske auflegen, sich die Haare waschen und zurechtkämmen, Make-up benutzen, dezent Lippenstift auftragen. Schon in Phase zwei scheiterte sie (Sie ahnte noch nicht, dass sich ihr Leben bald ändern würde) am Fehlen einer Haarpflegespülung und begab sich in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite.
Dort saß Juri immer noch an seiner Kasse und wünschte sich, er hätte den Mut zu fliehen und seine Registrierkasse hinter sich zu lassen. Er würde an das Mittelmeer gehen - Spanien oder Italien - die Sprache lernen, in einer Lehmhütte am Ufer leben und Fischer sein. Die Einheimischen würden ihn mögen, er hätte eine Frau und erntet giftige Blicke aus dem Bürofenster der erzürnten Geschäftsführung. Konzentration ist alles, Disziplin heißt der Weg zum Erfolg! Juri stornierte die Artikel der Kunden, die er vertauscht hatte, und arbeitete weiter, mit versteinertem Gesichtsausdruck, den er nur ablegte um Kunden anzulächeln. Ein Lächeln, bei dem der Mund nur so aussah als ob; die Augen, Wangen und Mundwinkel sich aber nur soweit bewegten, wie der Mund sie schob und verzog, eben steinern.
Er spürte die Präsenz nicht, auf keine mystische Weise. Weder kribbelte es noch bemerkte er, dass Sara den Laden betrat. Ihn vorsichtig beschritt, bemüht, niemanden anzustoßen oder Dinge versehentlich aus den Regalen zu schieben. Sie hatte vor Jahren eine Flasche Orangensaft mit Fruchtfleisch kaufen wollen, die, als sie nach ihr griff, aus dem Flaschenregal auf den Steinboden fiel und zerschellte. Das Raumpflegepersonal wurde umgehend eingeschaltet diese Unordnung aus Glasscherben und klebrigem Saft zu beseiten, ihretwegen. Diese Putzfrauen hatten sie nicht böse angesehen, aber Sara hatte den Laden trotzdem auf dem schnellsten Weg verlassen und den Rest des Tages mit einem nervösen Zittern auf ihrem Fernsehsofa verbracht. Sehr behutsam schlängelte sie sich nun zwischen Kunden und Produkten durch die Kosmetikabteilung. Die vielen Pflegespülungen forderten von ihr sich zu entscheiden, verhasste Entscheidungen, jederzeit an jedem Ort. Sie hasste es dumm aussehend vor einem Regal zu stehen, spürte die feindseeligen herablassenden Blicke der Kunden und des Handelsfachpersonals, aufrechte Menschen, die sich ihre Meinung bildeten, über jemanden, der Ewigkeiten überlegen musste, was er nun eigentlich kaufen wollte. Sie griff also nach der erstbesten Plastikflasche und ging zügig zur Kasse, an der sie, geduldig auf Fortkommen wartend, das Ettiket studierte: Markennaturhaarpflegespülungskonzentrat, angereichert mit Biotin. Juri kassierte weiter, träumte wieder ein wenig, schreckte nun jedoch immer nach kurzer Zeit wieder auf - sich an die Verwarnung durch die Geschäftsführung erinnernd. Angeödet vom Tag freute er sich auf den Abend: Er war mit ehemligen Mitschülern auf ein Bier in der Kneipe verabredet. Die Kneipe war zwar eine halbe Stunde Busfahrt entfernt, aber Juri traf sich nicht allzu oft mit Freunden - er vermutete sich in dieser Verabredung auch mehr als Notlösung als jemand, den die anderen wirklich gern sahen. Sein Blick verlor sich auf dem Kachelboden, auf dem - ein paar Meter entfernt und außerhalb seines Blickfeldes - Saras Füße nervös hin und her tippelten. Sie hoffte, von niemanden gesehen zu werden, der sie kannte; sie wollte nicht in der Öffentlichkeit reden, ihr fehlten dann die Worte und die Errötungs- und Selbsterniedrigungsprozedur stand bevor. So trat sie mit gesenktem Blick an das Kassenfließband und stellte ihre Pflegespülung ab. Die rollte nun auf Juri zu, der sich selbst (denn im Badezimmer war er oft, dem Zufluchtsort für Alleinsein in der sonst durch die Eltern überwachten Wohnung) zweimal täglich die Haare wusch: morgens und abends. Juri tat auch jetzt nicht, was er sonst nicht tat: Er sah der Kundin Sara nicht ins Gesicht, sonst hätte er sich schon jetzt unsterblich in Sara verliebt. Vielmehr konzentrierte er sich auf ihr Haarpflegeprodukt, zog es durch den Scanner, die Kasse piepte, Sara errötete, Juri wollte den Betrag nennen - Zwei Mark Fü-fü-fü-fünfundneunzi-zi-zig - stotternd, haspelnd, und so trafen sich doch ihre Blicke, entschuldigend für Errötung und undeutliche Aussprache. Sara blickte in Juris Gesicht, und Juri blickte in Saras Gesicht, und in ihre Augen und Sara zurück, und er suchte nach der Bedeutung. Jagte seine Gedanken, die vor ihm wegzurennen schienen, in Kreisen, immer schneller, schufen Fliehkraft, die seinen Kopf wanken machte, und er versuchte zu fangen, was durch die Finger schlüpfte. Erinnerungen kollidierten mit Wünschen - nichts davon fassbar, nur ein Name, den er nicht kannte, der des Gesichts vor ihm - verschmolzen zu Schlüsseln zu Entscheidungen, ein schwarzes Gefäß - anmutig und unbekannt, den Entschluss, den er fand. Sein Entschluss, unwillentlich und roboterhaft gefällt, die Frage nach Namen und Wiedersehen, Frage nach Sara. Ich will nicht stottern, dann geht sie weg, dachte Juri, und hatte noch nicht zuende gedacht, als Sara aus dem Supermarkt stürmte, ihre Adresse auf dem Kassenbon gekritzelt, in Juris Hand liegen gelassen. Ich wünschte, ich wäre jemand anderes. Jemand mit Stolz. Der tut, was er will. Kein Feigling. Ich hätte sie ansprechen sollen.

Hätte mit ihr gehen sollen - scheiß auf den Laden. Jetzt ist es vorbei. Ich werde nicht zu ihr gehen und mich blamieren. Nach hause kann ich nicht - er stand auf, verließ die Kasse, wusste, dass er nie mehr sein würde, nicht hier, und dachte an den freien Fall.
Den Fall, zu dem mehr gehörte - oder weniger - als Juri zu bieten hatte, hier auf dem Dach des Wolkenkratzers von Babette, auf dem er zusammengekauert, mit seinen Händen die Arme haltend, in einer Ecke saß, nicht dicht am Abgrund genug für jemanden, der es ernst meinte, dann die Hände vor den Augen, unmännlich weinend. Juri, das elende Bündel, bald darauf getröstet von Sara, auch auf dem Dach, mit gleichem Ziel und ähnlichem Problem. Zwei schüchterne Verliebte - das hat sich geändert - mit den Füßen zu Babette, die nichtsahnend Teller nach einer unwichtigen Party spülte, trauten sich nicht und schliefen miteinander ein.
 

anemone

Mitglied
Eine Dreiecksgeschichte oder was?

versteh ich das richtig? Er zieht mit Babette zusammen.
Sarah ist aus dem Rennen oder war nie eine Frage?
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. deine kleine alltagsgeschichte ist nett geschrieben, aber viel zu lang und etwas verzwickt. überarbeiten würde sich lohnen. lg
 

Zefira

Mitglied
Ich finde die Geschichte nicht eigentlich zu lang (aber in dieser Hinsicht bin ich nicht maßgebend, denn ich habe eine Schwäche für langsames Erzählen). Einige Sätze sind zu lang und verwickelt, z.B. im letzten Absatz, als die beiden auf dem Dach sitzen: "Den Fall, zu dem mehr gehörte - oder weniger - als Juri zu bieten hatte..." usw.

Irgendwie sind mir aber die Motive der Personen nicht klar. Bis zu der Begegnung an der Kasse stimmt alles, ist auch sehr gut vorbereitet, obwohl mir Juris Eltern etwas zu plakativ sind, aber das nur nebenbei. Dann aber: sie schreibt ihm ihre Adresse auf, weil er stottert? Und die ganze Zeit, während sie schreibt (und eine Adresse aufzuschreiben, dauert schon einen Moment, und alle anderen Kunden gucken zu...?) sitzt er da und bringt keinen Ton heraus? Diese Szene kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.
Und dann der Schluß: wenn sich die beiden "gesucht und gefunden" haben, zwei verliebte Loser, warum sitzen sie dann auf dem Dach? Juri wollte hinunterspringen, weil er sich nicht traute, Sara anzusprechen bzw. zu Hause aufzusuchen, und zufällig wollte sie am gleichen Abend auch gerade dort hinunterspringen, und so begegneten sie sich? Nicht sehr glaubwürdig. Ich finde die Selbstmordgedanken am Ende überhaupt nicht so geglückt, sie tun der Versöhnlichkeit der Geschichte ein wenig Abbruch, auch wenn es letztlich "gut" ausgeht. Würde ich noch mal überdenken...
lG, Zefira
 



 
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