Komm, lass uns frühstücken

3,00 Stern(e) 1 Stimme

Astrid

Mitglied
Leise öffne ich die Tür zu deinem Zimmer. Die dicken Vorhänge lassen noch kein Morgenlicht rein, und meine Augen müssen dich im Dunkeln erst finden. Zusammengerollt liegst du fast an der Wand, hast im Schlaf die Decke weg geschoben und dein Rücken ist nun ganz frei, weil das Schlafanzugoberteil hoch gerutscht ist. Bist du etwa schon wieder gewachsen? Der kleine Eisbär ist aus dem Bett gefallen. Er ist ungefähr das 35. Mitglied in deiner Kuschelfamilie und war überhaupt nicht eingeplant. Aber du hast ihn entdeckt und solange gebettelt, bis ich ihn dir gekauft habe. Er ist zurzeit die Nummer eins bei dir, während sich die anderen auf der Anrichte in der Ecke langweilen. Also hebe ich Freund Eisbär auf und lege ihn an deine Seite, dann decke ich euch beide zu und setze mich ganz vorsichtig auf die Bettkante.
Ich lausche deinen ruhigen Atemzügen. Ja, schlaf ruhig noch ein wenig, mein Liebling, denn heute erwartet dich ein besonderer Tag. Ich bin schon ganz aufgeregt, denn du hast Geburtstag. Gestern Abend hast du wirklich viele Gründe gefunden, immer noch einmal aus dem Bett zu steigen, was du normalerweise nicht tust. Einmal war es der Durst, der dich so furchtbar quälte, oder du musstest mir unbedingt noch etwas Wichtiges sagen.
Und ich lauerte nur darauf, dass du endlich zur Ruhe kommst, denn die Geschenke warteten auf ihre bunte Papierhülle mit Schleife, die Girlanden wollten aufgehängt, Luftschlagen auseinandergepustet und verteilt werden. Spät, sehr spät bist du dann endlich im Traumland angekommen.
Nun konnte ich beginnen. Das größte Päckchen habe ich ein bisschen getarnt. Die Inline-Skates sind darin, die du dir so sehr gewünscht hast. Aber so, wie ich dich kenne, wirst du sie als erstes auspacken und die restlichen Geschenke so „nebenbei“.
Anziehsachen waren für dich noch nie ein richtiges Geschenk, also werden dich das Sweatshirt mit dem coolen Motorrad drauf und die Jeans bestimmt nicht so sehr interessieren. Aber vielleicht magst du das Buch „Abenteuer auf dem Ponyhof“ mit der extra großen Schrift. Du scheinst ja endlich Spaß am Lesen gefunden zu haben. Ich freue mich riesig darüber und bin stolz, ein bisschen auch auf mich. Denn manches Mal fiel es mir schon schwer, geduldig zu bleiben, wenn du mühsam die Buchstaben zusammengezogen hast und dich so von Zeile zu Zeile quältest, ohne den Sinn zu begreifen.

Schön soll dein Tag werden. Richtig schön. Ich habe mir heute frei genommen und genieße es, nicht zur Bahn zu hasten, während du noch schläfst. Heute können wir zusammen frühstücken, und dann bringe ich dich zur Schule.
Du merkst nicht, dass ich dich im Schlaf beobachte. Du drehst dich ein bisschen, aber denkst gar nicht daran, die Augen zu öffnen. Nur noch einen kleinen Moment, mein Schatz, dann musst du aufstehen. Ich streiche dir die verschwitzten Haare aus der Stirn. Du hattest wohl einen anstrengenden Traum, mein kleiner Nachtbummler, wo war deine kleine Seele nur hingereist? Im Halbdunkeln sieht dein Gesicht wunderschön aus. Ich liebe die kindlichen Züge und würde sie gern festhalten. Denn ich habe auch schon den anderen Ausdruck in ihnen gesehen. Diesen – „was kostet die Welt“ und „ich will nicht“, „ich bestimme selbst!“
Sanft wandern meine Augen über dein Gesicht. Über die Stupsnase, den kleinen Mund, der so vorsichtige Küsse schenkt, über die langen Wimpern, um die ich dich immer beneidet habe. Schön geschwungen ruhen sie schützend über deinen großen braunen Augen. Die hast du von mir, und mit ihnen kannst du so wundervoll strahlen. Dann streuen sie ein Stück Lebensfreude und Zärtlichkeit in die Herzen derer, die du ansiehst.
Langsam ziehe ich die Vorhänge auseinander und denke: Neun Jahre… Diesen Spruch, dass man an den Kindern merkt, wie man selbst älter wird, habe ich früher nur von anderen gehört und eigentlich nie ernsthaft darüber nachgedacht. Zum ersten Mal spüre ich, dass ich das vielleicht auch bald sagen könnte. Wenn ich mir überlege, dass du in neun Jahren volljährig wirst…
Ach nein, dieser Gedanke gefällt mir heute nicht. Also gebe ich dir einen dicken Kuss und schaue augenblicklich in deine strahlenden braunen Augen. „Mama, ich bin schon ganz lange wach!“

„Herzlichen Glückwunsch mein Sohn, alles Liebe! Komm, lass uns frühstücken!“
 



 
Oben Unten