Kopflos unterhalb der Burg

von Sir Charles Blackwood

Einen Großteil meines Lebens habe ich im Bergischen Land verbracht. Dort, wo die Wälder noch grün, die Wiesen saftig sind. Und da, wo es noch Burgen und Traumschlösser gibt. Ein Landstrich, der voller Mythen, Sagen und Märchen ist. Wo es aber auch Geschichten gibt, die auf den ersten Blick gruselig, dämonisch und unwahrscheinlich klingen, jedoch der vollen Wahrheit entsprechen. Meistens jedenfalls.

Es war im vergangenen Herbst, fast schon beginnende Weihnachtszeit, als meine Frau und ich zum mittelalterlichen Markt in Schloß Burg fuhren. Die Burg tront über dem Tal der Wupper. Eine starke, wieder aufgebaute und restaurierte Feste der einstigen Grafen von Berg. Fährt man von Wuppertal dorthin, geht der Weg über Solingen erst durch einen tiefen Wald hinunter nach Unterburg. Dort hat man die Wahl, entweder mit der Seilbahn hinauf zu fahren, oder der gewundenen Straße zu folgen, bis man die Burg erreicht. Im Dunkeln wirkt es richtig schaurig. Und im Lokal, dort wo wir uns das Schnitzel schmecken ließen, hörten wir eine Geschichte, die sich einige Einheimische erzählten.

Es muß so in den 60ern gewesen sein. Fabrikant Müller kam mit seiner Frau von einem Empfang aus Solingen und wollte über Schloß Burg weiter nach Hückeswagen fahren. Dort bewohnten sie eine prachtvolle Villa. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß die Mitternachtsstunde nicht weit war. Er gähnte laut und heftig, während er das Steuer des Mercedes fest hielt. Die Scheinwerfer schafften es gerade noch mit ihrem trüben, gelben Licht, den aufkommenden Nebel zu durchstoßen. Vorsichtig und langsam fuhr er die Serpentinen hinunter nach Unterburg, während seiner Frau die Augen langsam immer schwerer wurden, ihr Kopf immer wieder leicht wegnickte. Die Heizung im Fahrzeug tat ihr Scherflein dazu, die bleiernde Müdigkeit zu fördern. Fast schon unten im Tal stotterte der Diesel auf einmal. Während er aus seinen Gedanken aufschreckte, seine Frau ebenfalls die Augen aufschlug, erstarb das Motorgeräusch vollends. Mit letztem Schwung schaffte er es auf den ins Blickfeld kommenden Parkplatz. Als der Wagen ausgerollt war, versuchte er den Motor erneut zu starten. Ein Blick auf die Tankuhr zeigte ihm, daß dies vergebene Liebesmüh war. Er hatte einfach vergessen zu tanken. Bevor seine Frau ihm Vorwürfe machen konnte, hatte sie ihm doch schon mittags empfohlen, den Tank aufzufüllen, stieg er aus. Dies war ihm nämlich in Vergessenheit geraten, da ein wichtiger Telefonanruf seines Verwalters seine volle Aufmerksamkeit erforderte.
Er stieg aus und holte den Reservekanister aus dem Kofferraum. Zu allem Unglück war dieser ebenfalls leer. Er beruhigte seine Frau. Er würde schnell hinunter ins Dorf gehen. Er wußte, daß dort eine Tankstelle war. Sie solle es sich im Auto gemütlich machen. Länger als eine halbe Stunde würde es sicher nicht dauern, bis er wieder da wäre.
Und während Frank Müller mit hochgeschlagenem Kragen, eine dampfende Zigarre zwischen den Lippen, loszog, um 5 Liter Diesel zu besorgen, saß seine Frau im Auto und horchte auf die Geräusche der Umgebung. Als es ihr langweilig wurde, machte sie das Radio an. Aber außer einschläfernder Musik war nichts zu vernehmen. Und einen anderen Sender bekam sie hier im Tal nicht herein. Also machte sie es wieder aus und blickte hinaus, wo sie allerdings nur schemenhafte Umrisse des Waldes wahrnahm. Viertel vor eins, stellte sie mit Blick auf die Uhr im Armaturenbrett fest. Langsam könnte Frank auch wiederkommen. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, als würde jemand aufs Autodach steigen, hinaufkriechen. Der Wagen wackelte bedenklich und dann hörte sie ein kratzend, schabendes Geräusch, dem anschließend ein monotones Klopfen folgte. Da die Türen fest verschlossen waren, hielt sich ihre Angst in Grenzen. „Sicher ein Fuchs oder anderes Tier“, dachte sie bei sich. Sie machte kurz die Scheinwerfer an. Jedoch konnte sie nichts Verdächtiges feststellen. Lediglich, so schien es ihr, hörte das Klopfen für eine Sekunde auf, um danach jedoch wieder monoton fortzufahren.
Da vernahm sie schnell näherkommende Motorengeräusche. Mit ihre Augen blendendem blauem Blinklicht und Martinshorn kamen vier Polizeiautos auf den Parkplatz gefahren. Sie wollte schon die Türe aufreißen, hinauslaufen, ihrer aufkommende Panik folgen, als eine Lautsprecherstimme ertönte: „Bleiben Sie unbedingt im Auto sitzen, verriegeln Sie die Türen, es kann Ihnen nichts passieren!“
Während sie diese Stimme, die die Nachricht noch einmal wiederholte, hörte, erstrahlten einige Scheinwerfer, die sie blendeten, jedoch über das Auto hinauf auf das Dach zeigten.
„Haben wir dich endlich!“, dachte Kommissar Wolf bei sich. Er sah den Mann genau, der sich mit der einen Hand die Augen geblendet zuhielt, mit der anderen den abgetrennten Kopf von Frank Müller immer wieder auf das Autodach schlug.
„Endlich ist der Alptraum zuende!“ murmelte er. Wochenlang jagten sie ihn schon. Immer wieder verschwand er auf geheimnisvolle Weise. Nie hatte man ihn direkt zu Gesicht bekommen. Doch jetzt sah er ihn überdeutlich. Langes, zotteliges Haar, dämonisch funkelnde Augen. Als er seine Zähne bleckte, schien ihm ein gelbes Raubtiergebiß entgegen zu lachen. Ein Schauer ließ seine Nackenhaare reagieren. Er merkte, wie sie sich aufstellten. Seine Kleidung schien aus einem anderen Jahrhundert zu kommen. Jedenfalls war sie zerschlissen und altmodisch. Ein irres Knurren schien seinen Kehlkopf zu verlassen - tief und bedrohlich. Und da passierte es auch schon. Er setzte zum Sprung vom Autodach an. Bevor Wolf nur eine Anweisung geben konnte, krachten die Schüsse aus sieben Polizeipistolen. Eine Salve nach der anderen. Es schien, als würden die Kugeln durch ihn hindurchgehen, ihm nichts anhaben zu können. Zwei, drei weite Sätze und er hechtete über die Polizeiautos hinweg, war weg. Lediglich der abgerissene Kopf des Fabrikanten rollte über den Parkplatz, um dann in grotesker Pose liegenzubleiben.
All das hatte Frau Müller, starr vor Schreck, aus dem Autofenster heraus betrachten können. Was die Polizisten jedoch nicht sahen, war der Umstand, daß sich der Körper des Untiers mitten im Sprung über die Polizeifahrzeuge in der Luft aufzulösen schien. Er war von einer Sekunde zur anderen weg, ohne den Boden jemals wieder berührt zu haben, war verschwunden. Einen tiefen Seufzer ausstoßend umarmte sie eine erlösende Ohnmacht.
Als sie 6 Monate später aus der Nervenklinik entlassen wurde, war sie immer noch nicht wieder hergestellt. Immer wieder hatte sie Alpträume. Immer wieder kam das Monster in der Nacht zu ihr, ließ sie schweißbedeckt aufwachen, zitternd den Rest der Nacht bei voll erleuchteten Räumen verbringen. Solange, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Sie stürzte sich Wochen später von der Müngstner Brücke in den erlösenden Tod. Und nie wieder hat man bis heute von dem Monster gehört, hat es nie wieder zugeschlagen.


So, und jetzt entscheiden Sie selber:
Kann es sein, das diese Geschichte, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag, der reinen Wahrheit entspricht? Oder habe ich Sie einfach nur geschickt hinters Licht geführt? Vieles ist doch bei näherer Betrachtung anders, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ist es ein moderner Mythos, der selbst Fachleute in die Irre führt?
 



 
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