Kreuzweg an der Kreissparkasse

Alanis

Mitglied
Es war ein regnerischer Sonntagnachmittag. Die anderen aus der Clique waren irgendwo. Wo anders. Ich weiß nicht mehr wo, und es ist ja auch sowas von egal. Andy und ich hatten uns vor dem Eingang der Kreissparkasse untergestellt. Teppichboden vor der Tür - ganz vornehm. Mit Andy und mir war das so eine Sache. Er liebte mich auf eine fröhliche und unglaublich offene Art, ohne jemals aufdringlich zu werden, und das seit dem Tag, an dem ich neu in diese Clique gekommen war, was noch nicht allzulange zurück lag. Von den anderen konnten mich nur wenige leiden und alle Frauen der Clique hassten mich. Ich war Frischfleisch und somit unangenehme Konkurrenz. Andy aber war ein stetiger Sonnenschein in meinem bis dahin noch völlig neuen Cliquenleben. Trotzdem konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihm mein O.K. zu geben. Lieber schwärmte ich mehr oder weniger heimlich für Orchen - den schlimmsten Finger der ganzen Clique: durchtrieben, hinterhältig und abgesoffen, aber eben gut aussehend und charmant - wenn er wollte. Dazu kam, dass er auch noch mit Bea zusammen war, dem schlimmsten Biest der Clique. Das hat meine Stellung in der Hierarchie der Weibchen nicht gerade erleichtert. Dieses Faible für die falschen Kerle sollte mich Zeit meines Lebens begleiten. Psychologen würden sich wahrscheinlich sämtliche Finger nach mir lecken. Ebenso wie Andy.
An diesem Nachmittag sollte aber alles anders sein als vorher. Nachdem er nun schon eine ganze Weile auf diese unaufdringliche Art um mich geworben hatte (er legte gerne den Kopf auf meinen Schoß, wenn wir auf der Wiese hinter dem Jugendhaus den Joint kreisen ließen, und dann lag er da mit seeligem Gesichtsausdruck, was einerseits am Joint und andererseits an meiner Nähe lag. Oder er rief auch gerne ganz laut \"Schatzeli\", wenn ich Nachmittags oder Abends beim üblichen Treffpunkt auftauchte. Schatzeli war damals wohl das häufigste Wort in meinem Leben.), begann ich langsam, diesen sensiblen und zerbrechlich wirkenden Jungen mit anderen Augen zu sehen. Mir wurde klar, dass ich ihm vertraute. Etwas äußerst Ungewöhnliches für mich. Ich konnte mit ihm beinahe wie mit mir selbst reden und wer dieses Geschwätz verkraftete, der konnte nicht ganz verkehrt sein. Was wollte ich von diesem Orchen, der doch nur ein charmanter Windhund war? Und Andy sah auch gut aus. Vielleicht nicht so beeindruckend wie Orchen mit seinen langen dunklen Haaren (bei dunkelhaarigen Kerlen werde ich heute noch schwach), aber er hatte etwas, das sonst keiner hatte.
An diesem Nachmittag hatten wir uns jedenfalls von den anderen abgesondert - ob bewusst oder unbewusst ist eines der Rätsel menschlichen Verhaltens. Ich erinnere mich, dass Andy aufgeregt gestikulierend vor mir auf und ab ging, während ich ganz ruhig an die Wand gelehnt dastand und ihn beobachtete. Er redete von seiner Liebe zu mir und wie gut es für mich wäre, ihn endlich zu erhören. Lauter aufgeregtes, aber sehr offenes Zeug - er hatte erkannt, dass die Situation günstig war. Er redete wie ein Wasserfall, eine Gabe, für die ich heute noch Leute beneide. Ich zähle eher zu den maulfaulen Typen, die selten in der richtigen Situation auch die richtigen Worte finden. Er sprach davon, dass Orchen nicht der Richtige für mich wäre, womit er natürlich Recht hatte. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr an alles erinnern, was er in diesem so gesprächigen und doch seltsam stillen Moment gesagt hat, aber irgendwann kam er auf´s Küssen. Ich glaube, er fragte sich selbst (aber es kann auch sein, dass er im Vorbeigehen mich fragte), ob er mich küssen kann/darf/soll und ich sagte spontan ja. Er blieb stehen. Endlich. (Habe ich nur ja gesagt, damit er endlich stehen blieb? Möglich.) \"Ja?\", fragte er. Und nochmal: \"Wirklich Ja?\" Und ich lachte und sagte \"Ja.\" Andy kam auf mich zu. Jetzt war er ganz nah. Vorsichtig nahm er mein Gesicht zwischen seine Hände. Sein Mund näherte sich dem meinen, unsere Lippen würden sich berühren. Gleich, gleich... Ich schloss die Augen, spürte schon seinen Atem. Da zuckte er zurück. \"Nein, es ist nicht richtig!\" Verwirrt öffnete ich die Augen wieder, den Mund immer noch zum Kuss geformt, und sah, wie er wieder seine Kreise drehte. Er sprach zu sich selbst wie ein Politiker, der seine Rede auswendig lernte, nur war Andy ungleich ehrlicher und kompromissloser. \"Nein, es ist nicht richtig\", er fuchtelte wild mit den Armen herum. \"Du liebst mich nicht und es würde alles zerstören. So will ich das nicht, nicht, so lange du in Orchen verliebt bist.\"
\"Orchen ist ein Idiot\", hörte ich mich sagen. Das Gefuchtel hörte auf und Andy blieb stehen. Ungläubig sah er mich an. \"Du meinst, du liebst ihn nicht mehr?\" Er war misstrauisch. So lange hatte ich ihn schon hingehalten und mit ihm gespielt. Aber auch ich hatte den Ernst des Augenblicks erkannt und beschloss, endlich aufrichtig zu ihm zu sein.
\"Ich habe Orchen doch nie geliebt, Andy, weißt du das nicht? Ich habe vielleicht für ihn geschwärmt, aber das ist etwas anderes. Du musst wissen, dass ich zu Hause nicht gerade das tollste Leben habe. Wenn Jemand so offen freundlich zu mir ist, werde ich misstrauisch und vermute sofort eine miese Absicht dahinter. Ich kann Freundlichkeit nur schlecht annehmen und ich tue mich schwer damit, Jemandem wirklich zu vertrauen. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, dann muss ich zugeben, dass ich dir vertraue. Und um ganz ehrlich zu sein, habe ich mich von Anfang an zu dir hingezogen gefühlt. Ich habe mich nur innerlich dagegen gewehrt, weil ich mit diesem Gefühl nichts anzufangen wusste und mir selber nicht getraut habe.\" Das waren verdammt viele Worte für Jemanden wie mich, aber ich war noch nicht fertig und auch Andy stand nur ganz still da und sah mich an - ganz so als ahnte er, dass, wenn er mich jetzt unterbrechen würde, ich niemals wieder den Mut finden würde, das Notwendige auszusprechen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich starr einen Punkt irgendwo am Horizont fixiert, aber nun sah ich ihn an. \"Wenn du mich also küssen möchtest, dann ist jetzt der richtige Moment.\" Es war gesagt! Andy kam ohne ein Wort zu mir und dann bekam ich den süßesten und zärtlichsten Kuss, den ich in meiner bis dahin zweijährigen Liebeslaufbahn jemals erhalten hatte. Ich weiß nicht, wie lange wir dort standen und uns küssten, aber wen interessiert schon die Zeit, wenn er im Himmel ist? Danach waren wir überall \"Das Pärchen\". Man sah uns nur noch Hand in Hand und turtelnd, sofern man uns überhaupt noch sah. Die meiste Zeit waren wir in seinem Zimmer, hörten Musik, schmusten, führten intensive Gespräche, schmusten, lachten miteinander, schmusten... Mit ihm erlebte ich mein \"erstes mal\" und es war für uns beide ein unglaubliches Erelebnis. Ich war 15 und er war 16 und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie heute noch glücklich und zufrieden. Soviel zum fantasierten Teil.

In Wirklichkeit ist es ein kleines bisschen anders gelaufen. Tatsächlich stimmt die Geschichte bis zu dem Teil, als Andy zurück zuckte und sagte \"Nein, es ist nicht richtig!\" Damals nämlich habe ich den Mund nicht aufgebracht. Ich ließ ihn weiterhin seine Kreise ziehen, lächtelte maliziös, und als er mich fragte, ob ich in Orchen verliebt sei, da zuckte ich nur mit den Schultern. Ich spielte mein Spiel weiter. Draufhin zog sich Andy von mir zurück und das Wort Schatzeli verschwand wieder aus meinem Leben. Ich hatte ihn verletzt. Seine fröhliche Zuversicht, sein unerschütterlicher Glaube, dass ich doch noch das Richtige tun und zu ihm finden würde, war gebrochen. Und eines Nachts, nicht sehr lange danach, ließ sich Andy dazu überreden LSD zu nehmen. Warum er das tat weiß ich nicht, denn er hatte diese psychedelische Droge immer abgelehnt. Teils weil er einfach Angst davor hatte und teils auch, weil es in seiner Familie eine erbliche Vorbelastung gab, was psychische Krankheiten anging. \'Er wolle kein Risiko eingehen\', hatte ich ihn immer sagen hören. War es Geltungsdrang oder ein kleiner Kurzschluss im Gehirn, ausgelöst durch Frustation? Andy nahm den Trip und auf diesem ist er heute noch. Hängenbleiben nennt man das in \"Fachkreisen\". Er wurde nie wieder Derselbe und er wird nie wieder mehr allein sein. Seine Stimmen und Halluzinationen begleiten ihn jetzt.

Mittlerweile ist das an die 25 Jahre her und gerade in letzter Zeit vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denken muss. Schuldgefühle? Ich weiß nicht. Ich war nicht Diejenige, die ihm das LSD aufgeschwatzt hat und ich habe ihn auch nicht zum Schlucken gezwungen. Das hat er selbst getan. Und trotzdem... Ich muss immer daran denken, ob nicht alle anders gekommen wäre, wenn ich damals meinen kleinen imaginären Text abgespult hätte. Geht es euch auch manchmal so, dass ihr im Rückblick auf euer Leben Momente entdeckt, an denen ihr euch eindeutig falsch verhalten habt und dieses Verhalten eurem gesamten Leben eine andere Richtung gab? Ist das Altersweisheit? Himmel, dann will ich lieber nichts davon. Es tut nämlich verdammt weh, wenn man sieht, was man wo alles vergeigt hat. Schließlich war nicht nur sein Leben zerstört. Mir ist es danach nicht viel besser gegangen. Hatte ich schon mein Faible für die falschen Männer erwähnt? Ich habe es ausgekostet bis zum Grund. Und noch vieles mehr. Mein erstes mal war tatsächlich unglaublich. Unglaube *censored*. Wenn man es ganz genau betrachtete, lief seit damals alles völlig aus dem Ruder. Gibt es so etwas wie einen göttlichen Plan? Und wenn ja, was passiert, wenn wir die Kurve nicht kriegen? Bekommen wir vom Schicksal eine auf den Deckel? Oder anders ausgedrückt: müssen wir uns ab diesem Moment durch das Labyrinth unseres Lebens kämpfen, weil wir einmal die falsche Abzweigung genommen haben, und uns kein roter Faden mehr Hilfe bei der Durchquerung leistet? Bei mir fühlt es sich so an. Ich würde meinen linken Arm geben, wenn ich die Zeit zurück drehen könnte. Aber dann müsste ich das hier nicht schreiben - es wäre unnötig.
Letztendlich hat uns das, was ich am meisten an ihm geschätzt und was die schlimmsten der Verletzungen in mir hätte heilen können, das Genick gebrochen: seine Sensibilität. Suche ich mir deshalb immer wieder unbewusst die falschen Kerle aus? Jedenfalls lande ich immer wieder bei diesen derben Typen, denen man ganz unbedarft alles erzählen kann, sie bekommen es nicht mit. Andererseits bügeln sie dir aber auch stumpf wie ein Rettich über deine Sensibilitäten, vor und zurück, vor und zurück. Oder es sind selbstverliebte Egozentriker, die um sich selbst kreiseln wie verrückt gewordene Planeten. Ist es das? Die Angst, Jemanden wieder so zu verletzen, treibt einen dazu, sich in Beziehungen zu hängen, in denen man lieber selbst verletzt wird. Klingt logisch.
Aber macht es bitte nicht nach.
 

Fellmuthow

Mitglied
nur Mut!!!

Hallo Alanis,

sicher gehe ich richtig in der Annahme, dass du am kurzen Ende des Lebens stehst, während ich mich so langsam dem langen Ende nähere. Also kann ich nur bedingt raten. Wir blicken von verschiedenen Hügeln ins Tal. Trotzdem...
Was du schilderst, das ist schon prima gedacht. Diese Warnung vor dem falschen Weg ist richtig. Man kommt nie mehr an den Abzweig zurück. Allerdings würde ich dir empfehlen, das Ganze etwas zu konzentrieren. Streiche mal alle Sätze an, die nicht wirklich etwas neues sagen, neues in Hinblick auf die Hauptaussage. Ob dich die anderen in deiner Clique leiden konnten oder nicht, ob du "Frischfleich" (kein schöner Ausdruck) warst, ist wohl nicht so ganz wichtig.
Verlier aber nicht den Mut, denn Talent hast du zum Schreiben - aber Talent ist nur ein winziger Teil, das meiste ist Mühe.

Fellmuthow
 

Alanis

Mitglied
Vielen Dank

Ich danke dir, dass du auf meine kleine Geschichte geantwortet hast, ich hatte eigentlich schon gar nicht mehr mit einem Feedback gerechnet.

Du hast auch völlig recht mit deiner Kritik, allerdings muss ich dazu sagen, dass ich die Geschichte eigentlich weniger geschrieben habe, um mein Talent unter Beweis zu stellen, sondern mehr dazu, damit sie endlich weg ist, verstehst du? Ich musste sie einfach irgendwo ablegen, weil sie mich schon lange belastet hat und dazu musste ich sie einfach so aufschreiben wie sie passiert war (aus meiner Sicht). Ich habe - glaube ich - nicht einmal eine Viertelstunde dafür gebraucht (aber dafür 4 Wochen, bis ich mich dazu durchgerungen hatte, sie hier zu veröffentlichen *lach*).

Aber ich werde mir deine Ratschläge zu Herzen nehmen, da ich sie sehr hilfreich finde und ich danke dir nochmal herzlich für deine Mühe. Schließlich habe ich zu Hause noch ein paar ernsthafte Projekte, die von deiner konstruktiven Kritik profitieren können :)
 



 
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