Krieg

rappelchen

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Der Platz!

Der Junge lutschte an dem kleinen Kieselstein und betrachtete den Himmel. Es wollte sich kaum noch Spucke sammeln. Der Mund blieb trocken und das Durstgefühl wurde stärker und fordernder. Er lehnte an der bröckeligen Betonwand. Ein leichter Wind wellte sein zu weites, zerschlissene Hemd, das eine flache, dürre Brust bedeckte. Seine Levis starrte vor Schmutz. Die langen Arme hingen herunter, als würden sie nicht zu diesem Körper gehören. Mit den Fingern trommelte er gegen die Wand, ohne jeden Rhythmus. Man sah ihm die Todesfurcht nicht an, nicht auf den ersten Blick.
Seine welligen Haare waren schwarz wie die Augen, deren Lieder leicht flatterten. Die Züge waren grob und zu streng für einen Jungen seines Alters. Volle, aufgeworfenen Lippen gaben ihm etwas weibliches und es war nicht schwer sich vorzustellen, dass er in einigen Jahren zu einem schönen, von den Frauen begehrten Mann heranwachsen würde. Dies war eine Möglichkeit. Eine andere war, dass er gleich sterben würde.
Der Junge sah weiter nach oben, als gäbe es nichts wichtigeres auf der Welt als diesen blauen, von weißen Wolkenschlieren durchzogenen Frühsommerhimmel. Sonst war das Wetter um diese Zeit, in dieser Gegend, immer diesig, regnerisch und trüb. Doch diesmal hatte es seit Tagen nicht geregnet, die Temperaturen war ungewöhnlich hoch und von morgens bis zum späten Abend glitt die Sonne durch ihre vorgegeben Bahn.
Ein Ruck ging durch den Jungen. Er löste sich von der Wand. Sein Blick wanderte vom Himmel, über die anderen Wartenden, zu dem Platz. Noch vor einem Jahr war dies der Platz der Republik gewesen. In der Mitte hatte ein Reiterdenkmal gestanden, umgeben von Sitzgelegenheiten. Alte Leute hatten Boule gespielt, Pärchen sich im Schatten der Bäume geküsst und in den benachbarten Geschäften waren die Einwohner einkaufen gegangen.
Alle waren sehr lustig gewesen in dieser Zeit, doch dann war der Krieg gekommen. Jetzt war das Reiterdenkmal umgestürzt, der Platz leer und verlassen und die Bäume waren vollkommen verschwunden. Granaten hatten sie zerfetzt und im Winter waren sogar ihre Wurzeln freigehackt worden um sie in notdürftigen Öfen zu verbrennen.
Niemand überquerte mehr freiwillig diesen Platz, nur eine lauwarme Böe trieb Staub und Sand vor sich her.
Der Junge biss sich nervös auf die Lippen. Dort, auf der anderen Seite, geschützt von einer Häuserwand, war der Brunnen. Vor einigen Monaten hatten ausländische Helfer ihn dort eingerichtet, nachdem die Wasserversorgung, nach den Bombardements und den Häuserkämpfen, zusammengebrochen war. Drei Tage hatten sie gebraucht. Dickliche, freundliche Männer aus Deutschland, die einem auf den Rücken klopften, Kaugummi schenkten und rund um die Uhr arbeiteten. Da hatten sie nicht wissen können, dass der Brunnen an einer sehr ungünstigen Stelle errichtet worden war.
Jetzt war die Stadt eine einzige, graue Ruine; und der Platz war von den Bergen im Westen her gut einsehbar. Anfang des neuen Jahres hatten sich die Scharfschützen dort eingerichtet. Sehr gute Scharfschützen mit sehr guten Gewehren und sie übten fleißig den tödlichen Schuss auf sehr weite Entfernungen.
Wollte man zum Brunnen hatten die Schützen freies Schussfeld und jeder der zum Wasser holen auf die andere Seite wollte war eine bewegliche Zielscheibe. Irgendwann ging das Wasser immer aus und man musste welches holen.
Der Erste starb an einem verregneten Januarmorgen. Ein älterer Mann der sich ahnungslos mit zwei Kanistern durch den Matsch kämpfte. Die Kugel traf ihn direkt in den Kopf. Er fiel einfach zur Seite und blieb liegen. Jemand ging zu ihm. Der Scharfschütze traf den Helfer in die Schulter, dann ihn die Brust. Er röchelte wohl eine halbe Stunde lang. Niemand ging mehr hin um zu helfen. Die Leichen blieben drei Tage im Schlamm liegen, dann fasste sich der Sohn des Alten ein Herz und schleppte die Leichen fort. Ihm passierte nichts, aber alle wussten das der Platz nun zu russischem Roulette geworden war.
Wenn es viel Regnete konnte man das Wasser sammeln, aber entgegen allen vergangenen Jahren war der Winter nur kurz, brachte wenig Schnee und das anbrechende Frühjahr war voller Sonne und wolkenlosen Himmel gewesen. Alle fürchteten einen trockenen Sommer, aber der Junge dachte nicht mehr in kommenden Tagen oder in vergangenen Monaten. Für ihn zählte nur der Augenblick.
Die Menschen lebten in den Kellern der Häuserskelette, welche nun das Bild der Stadt beherrschten. Kinder, Alte, Frauen und Deserteure, die sich vor der Militärpolizei versteckten. Sie kauerten sich aneinander, wenn Brand und Splitterbomben weiter zerstörten, was schon zerstört war. Dann herrschte wieder tagelang Ruhe.
Die Scharfschützen hockten in den Bergen im Westen, die ihnen einen erhabenen Blick auf die Stadt ermöglichten. Man konnte den Platz auch umgehen, nach Osten. Aber dort lauerten überall Minen und ausgeklügelte Sprengfallen. Fast unsichtbare Drähte an deren Ende im besten Fall der Tod lauerte. Verletzten konnte nicht geholfen werden. Das Rote Kreuz hatte sich schon lange zurückgezogen, nachdem ein gutes Dutzend der Freiwilligen Helfer ums Leben gekommen waren. Sogar ihre Zelte hatten sie zurückgelassen. Die zerrissenen Planen flatterten jetzt nutzlos im Wind, die stählernen Operationstische blieben leer. Jede Verletzung bedeutete meistens nur den Beginn eines langsamen Sterbeprozesses, in dessen Verlauf sich dreckige Wunden in schwärende Wunden verwandelten, solange, bis Nekrosen und Fieber den Tod brachten.
Nein, er würde nicht den Umweg nach Osten nehmen. Er würde laufen, zum dreizehnten mal. Er konnte nicht mehr lange warten. Der Durst begann ihn zu schwächen, seine Muskeln auszutrocknen und den Mut zu rauben. Er hatte kein gutes Gefühl. Sein Magen zog sich zusammen. Dreizehnmal. Er war zwölf und schon ein Veteran.
Eine Frau erreichte die schützende Häuserwand. Vor der Brust hielt sie einige Flaschen fest umklammert. Schweiß lief ihr über das Gesicht und ihre Pupillen zuckten wild hin und her. Sie war kaum zwanzig, sah aus wie vierzig und hatte eine Massenvergewaltigung hinter sich. Mehr wußte er nicht. Ihre Augen sahen aus, als wäre alles Leben aus ihnen gewichen. Sie schimmerten wie ausgebleichtes Perlmutt. Sie sah aus, als wäre sie schon tot und klammerte sich trotzdem an das Leben. Ohne innezuhalten ging sie keuchend weiter, die Wasserflaschen fest umklammert. Wie ein Geist verschwand sie im Schutt der Straße.
Es hatte keinen Sinn auf schlechtes Wetter zu hoffen, auf Nebel oder auf die Finsternis der Nacht. Die Scharfschützen hatten Zielfernrohre, die mühelos Regen, Dunst und Schwärze durchdrangen. Es war am besten man kam, rannte los, ohne nachzudenken, ohne zu hoffen. Doch heute hatte er Angst. Es lag so eine unheimliche Stille über den Ruinen. Eine drückende Ruhe, wie es sie sonst nur im Winter gibt, wenn eine dicke Schneeschicht den Schall schluckt. Er spuckte den Kieselstein aus und schnallte sich den Rucksack mit dem 10 Liter Kanister um. Das Kind zog an seinem Hemd. In der linken Hand eine leere Colaflasche aus Plastik. Der Junge schätzte es auf 7 vielleicht 8 Jahre. Seine Augen waren groß und braun. „Bitte, kannst Du diese Flasche mitnehmen?“ Er stank erbärmlich, wie alles in dieser Stadt. Es stank nach verwesenden Leichen, nach bitterem Rauch und nach ungewaschenen Leibern. Das Kind starrte vor Dreck. Der Junge kannte das Kind. Er hatte es schon gesehen, wie es den Platz überquert hatte. Stocksteif, die Plastikflaschen fest umklammert
Der Junge fragte sich warum die Eltern das Kind mit dieser lebensgefährlichen Aufgabe betreuten. Hofften sie auf die Gnade der Scharfschützen? Hofften sie die Männer, oder die Frauen? , würden nicht auf ihn schießen, weil eben war was er war: Ein Kind! Konnten sie so eine unsinnige Vorstellung haben, oder lag ihnen am eigenen Leben mehr als an dem ihres Nachwuchses?
Manchmal fragt sich der Junge was das für Menschen waren die aus dem Hinterhalt auf unschuldige schossen. Er stellte sich ihre kalten, gelangweilten Gesichter vor die auf Menschen schossen wie auf Hasen, nur so, zum Zeitvertreib. Vielleicht rauchten sie dabei und der Qualm der Zigarette biß ihnen in die Augen, so daß eine Kugel ihr Ziel verfehlte. Vielleicht waren sie in der Ausbildung und übten? Vielleicht brachte ihnen die Sache einfach Spaß? Hatten sie Kerben in ihren Gewehren?
Der Junge nahm schweigend die leere Colaflasche des Kindes. Seit Tagen war kein Schuß mehr gefallen, aber das hatte nichts zu bedeuten.
Er atmete tief durch, saugte Luft in seine Lungen, dann rannte er. Der Hinweg war leicht, viel leichter als der Rückweg, wenn man die schweren gefüllten Wasserflaschen tragen mußte. Auf dem Hinweg konnte man sich im Zickzack fortbewegen und plötzliche Ausweichbewegungen machen. Auf diese Entfernung mußten die Schützen bei sich bewegenden Objekten auf Vorhalte schießen, deshalb blieb der Junge plötzlich stehen, rannte weiter, ging langsamer. Jedesmal, wenn er rannte, spürte er diesen brennenden Wunsch zu leben. Wenn er rannte wurde alles intensiver. Der trockene Boden unter den Füßen, die Strahlen der Sonne, die alles in ein durchdringendes Licht tauchten. Da war auf einmal ein Glanz, den er sonst nicht sah. Dann wollte er leben. Wenn er in dem verdunkelten Keller hockte, fernen Explosionen und Gewehrfeuer lauschte und seine kleine Schwester weinte, dann war dieser Wunsch zu leben schon manchmal verschwunden. Grauer Mehltau legte sich dann auf seine Seele und er wünschte, daß sich einfach alles auflösen wurde, daß alles zerfallen würde und nichts zurückbliebe.
Er rannte, vorbei an dem zerstörten Denkmal, von dem nur noch zerborstene Metallstreben übrig waren.
Hier hatte sich vor zwei Wochen ein Drama abgespielt. Einer der Älteren, siebzehn Jahre hatte er hinter sich, war angeschossen worden und mit einem Bauchschuß hinter das Denkmal gekrochen. Jedes mal, wenn er versuchte die Deckung zu verlassen hatten die Kugeln dicht vor seinem Gesicht die Erde aufspritzen lassen. Schnell hatte der erste Schock nachgelassen, das Adrenalin aufgebraucht und dem Schmerz den weg bereitet. Erst hatte er geschrien, aber niemand hatte den Mut zu helfen. Er hatte sehr laut geschrien, so laut, daß die Leute sich die Ohren zuhielten oder einfach fortgingen; fortgingen um wiederzukommen, wenn der Siebzehnjährige tot war. Doch er starb nicht. Er heulte in die Abenddämmerung und in der Nacht rief er nach seiner Mutter.
Der Junge rannte weiter. Der Brunnen war nicht mehr weit. Schweiß lief ihm den Rücken herunter. Das salzige Wasser schmerzte in seinen Augen. Sein Herz raste.
Alle Verletzten schienen nach ihrer Mutter zu rufen. Als das Rote Kreuz noch seinen Verbandsplatz betrieb hatte er oft genug das jämmerliche Rufen nach Mama gehört. Mama, Mama, O Gott, Mama hilf mir. In der Nacht trieb das jämmerliche Rufen des Siebzehnjährigen über den Platz und irgend jemand hatte seine Mutter tatsächlich geholt. Vielleicht war sie auch so gekommen, weil sie wissen wollte, wo ihr Sohn blieb, ahnend, dass er tot war, nicht ahnend, dass er ihm sterben nach ihr rief. Am Anfang hatte sie gefleht, daß ihm doch jemand helfen müsse, dann war sie weinend fortgelaufen. Der Siebzehnjährige hatte weiter nach ihr gerufen. Erst gegen Morgen war seine Stimme schleppender geworden und mit den ersten Strahlen der Sonne verstummte sie ganz. Seine Mutter kam wieder, den Wahnsinn in den Augen. Einige versuchten sie aufzuhalten, aber sie ging über den Platz zu ihrem nun schweigendem Kind, nun, wo es zu spät war schlug sie sich an die Brust, raufte die langen Haare und schrie das tödliche Gespenst in den grünen Bergen an, es solle auch sie töten. Kein Schuss fiel. Die Scharfschützen kannten keine Gnade oder sie waren gar nicht da. Einen Tag harrte sie bei ihrem totem Sohn, dann verschwand sie nach Osten und keiner hatte sie seitdem mehr gesehen.
Der Osten der Stadt war nicht mehr als eine tödliche Falle.
Mit einem Hechtsprung landete der Junge auf der anderen Seite des Platzes. Der Brunnen, nicht mehr als ein Rohr das aus der Erde ragte, lag hinter den dicken Mauern einer ehemaligen Bank. Das Innere der Bank war schon lange ausgebrannt und geplündert, aber sie bot einen guten Schutz.
Die alten Männer klatschten. Der Junge haßte sie. Sie hockten auf Mauerresten, schmierigen Klappstühlen oder rostigen Tonnen und wetteten darauf, wer es schaffen würde und wer nicht. Sie waren zu alt für den Krieg. Ihre Gesichter waren zerfurcht von Falten, unter den Augen hingen gewaltige Tränensäcke, auf den kahlen Häuptern klebten schmierige Baskenmützen. Sie rauchten selbstgebastelte Pfeifen oder kauten den Tabak einfach so. Unnütz gewordener Treibsand aus Krieg und Frieden. Einige lächelten verschmitzt.
„Gut gemacht“, tönte einer und erhielt von einem anderen zwei Zigaretten. Auf dem Boden lagen Konservendosen, Reste von Soldatenproviant, Kekse, Tabak in Plastikbeuteln, Zigarettenschachteln und halbvolle Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit. Die Wetteinsätze. Das er es geschafft hatte war zwei Zigaretten wert gewesen. Der Junge versuchte die Alten nicht anzusehen. Mit verkniffenem Gesicht, die Augen fest auf den Boden gerichtet, ging er zum Brunnen und drehte den Hahn auf. Als erstes Trank er. Das war das Beste von allem. Durstig, aus vollen Zügen zu trinken und dabei zu wissen, daß man es vielleicht zu letzten mal tat. Der Junge saugte das Wasser auf wie ein nasser Schwamm. Er genoß das Prickeln auf der Zunge, das Gluckern im Bauch und das Gefühl von Stärke und Kraft die wieder in seinem Körper zurückkehrten. Er ließ das Wasser aus den Mundwinkeln laufen. Es schmeckte schwer und erdig. Nachdem er genug getrunken hatte füllte er die beiden fünf Liter Plastikkannen, drehte Verschluss so fest wie möglich zu und legte die Kanister in den zerschlissenen Armeerucksack, den er einem toten Soldaten abgenommen hatte. Das Gewicht war eigentlich zuviel, es machte ihn langsam, aber wenn er weniger trug, musste er häufiger laufen, und das wollte er nicht. Zum Schluss füllte er die Colaflasche. Die alten Männer grinsten ihn an. Er sah auf den Boden. Er fühlte sich besser, dass flaue Gefühl im Magen wollte jedoch nicht weichen. Er rieb sich die Augen. Es brachte nichts zu zögern. Wenn er anfing nachzudenken, dann wurde es immer schwerer, aber die Beine wollten ihm nicht richtig gehorchen. Er hockte sich hinter die Mauer und sah um die Ecke. Friedlich lagen dort der Berghang. Grün, dicht bewachsen, ruhig. Die Kanister drückten auf seinen Rücken und er begann wieder zu schwitzen. Wieder schlug sein Herz schneller und seine Kehle schnürte sich zu.
Bei seinem zehnten Lauf hatte man ihn gefilmt. Die Reporter waren mit einem Hubschrauber gekommen. In einer Kampfpause, einem Waffenstillstand von einem Tag, von dem die Bewohner der Stadt aber nichts gewusst und nichts gemerkt hatten. Der Kameramann war ein dürrer, nervöser, schweigsamer Typ gewesen, ein Auge ständig am Objektiv. Sie hatten alles gefilmt. Die zerstörte Stadt, die alten Männer, das zerschmetterte Denkmal. Die Reporterin war jung und schön gewesen, mit einem glattem Gesicht und langen, blonden Haaren. Sie hatte mit den Leuten gesprochen, einige Zigaretten verteilt und selber viel geraucht. Sie war nicht nervös, sondern unruhig gewesen und hatte immer wieder auf die Uhr geschaut. Es war eine klobige, silberne Uhr gewesen, die so gar nicht zu ihrem zartem Handgelenk passen wollte. Sie war unzufrieden gewesen. Die Ruinen, die ausgemergelten Gestalten, die fürchterlichen Zerstörungen reichten nicht. Es fehlte die Action. Es fehlten die Schüsse, die erschreckt weglaufenden Menschen, die Toten. Er hatte gehört wie sie sich bei ihrem Kameramann darüber beklagt hatte und wie dieser mit einem bestätigendem Grunzen geantwortet hatte. Sie hatte eine Wasserflasche aus der Seitentasche des Kameramanns gezogen, getrunken und dann in die Runde gefragt: Rennt da heute noch einer rüber? . Er hatte sich gemeldet. Warum wusste er selber nicht. Es war noch Wasser da gewesen. Nicht viel, zwei drei Liter vielleicht. Er hätte noch nicht laufen müssen, aber er hatte an die Kamera gedacht und an die Zeit vor dem Krieg. Es hatte diese Zeit vor dem Krieg gegeben, nur dass sie ganz weit weg war. Daran wie es zu dem Krieg gekommen war erinnerte er sich nicht. Das war zu kompliziert. Aber er wusste noch, wie er zur Schule gegangen war, wie es ihm Freude bereitet hatte mit seinen Freunden zu spielen und das Rechnen hatte ihm immer Spaß gemacht. Rechnen war sein Lieblingsfach gewesen und dass hatte gar nichts mit dem Lehrer zu tun gehabt, der ein fetter Mann mit kleinen Schweinsaugen gewesen war. Das Einmaleins, subtrahieren, dividieren, sogar mit richtig langen Zahlen. Auch das Bruchrechnen. Das war schwer, aber er hatte es doch schnell begriffen. Schneller als alle anderen und er hatte immer eine gute Note bekommen. In den anderen Fächern war er nicht so gut, aber auch nicht schlecht. Er war gerne zur Schule gegangen. Sonntags waren sie immer in die Eisdiele am Platz gegangen. Ja, er erinnerte sich gut, wie das Eis geschmeckt hatte. Manchmal war er auch mit seinem Vater und der kleinen Schwester in das Kino gegangen und hatte Hollywoodfilme gesehen. Es waren ruhige, schöne Tage gewesen. Er erinnerte sich so gut und doch war diese Zeit so weit weg. Seit einem Jahr war Krieg, aber es hätte genauso gut eine Ewigkeit sein können. Ein Abgrund trennt ihn von dieser Zeit. Mein Gott, damals waren Touristen in die Stadt gekommen, weil es in den Bergen einen alten Tempel gab. Einen Tempel mit Priestern und allem, aber der Tempel war längst zerstört. Er hatte sich gemeldet und die Reporterin hatte ihn angelächelt und ihre Augen waren so blau gewesen und er hatte nichts ihn ihnen lesen können. Ihre Augen waren schön und doch wie ein unbeschriebenes Blatt Papier. Die Männer und Frauen, die kamen um zu helfen, hatte alle ganz andere Augen gehabt. Müde, entsetzte, abgestumpfte, freundliche, traurige oder Ängstliche Augen. Doch ihre waren leer gewesen. \"Gut Junge\", hatte sie gesagt. Sie wollte nicht wissen wie er hieß oder ob er sich fürchtete. Er hatte einer Frau wortlos die Wasserflaschen aus der Hand genommen, weil er die Kanister nicht mitgenommen hatte und sich davor fürchtete zurückzugehen und sie zu holen, denn dann waren die Reporterin und der Kameramann vielleicht schon wieder mit ihrem Hubschrauber verschwunden und dann würde er nicht ins Fernsehen kommen. Und er wollte ins Fernsehen. Dort war alles nicht wirklich. Wenn man im Fernsehen war, dann konnte einen nichts passieren. Er hatte die Flasche genommen und war losgelaufen. Er glaubte zu spüren, wie das Objektiv ihn einfing. Er war hin und zurückgelaufen und das war das Einzige mal gewesen, dass er keine Angst gehabt hatte. Alles war mit Fernsehen zu tun hatte war nicht wirklich. Einige Schüsse wären sogar sehr gut gewesen. Der Staub wäre aufgewirbelt worden und die Reporterin hätte eine richtig gute Story gehabt. Er hatte sich gefühlt wie ein Mann und als er wieder bei der Reporterin war und stolz die gefüllte Flasche hochgehalten hatte, da hatte er sie um eine Zigarette gebeten. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt, gesagt das Rauchen ungesund sei und ihm ein Kaugummi gebeten. Da hatte er sich wieder wie ein kleines Kind gefühlt und am liebsten hätte er sie geschlagen, hätte seine Faust ihn ihr schönes, glattes Gesicht versenkt bis Blut aus ihrer feinen Nase geschossen wäre. Die beiden hatten ihre Sachen gepackt und waren, ohne sich noch einmal umzusehen, in ihren Hubschrauber gestiegen und losgeflogen. Er hatte das Kaugummi genommen und es in den Mund geschoben und er war wütend gewesen. Aber jetzt hatten vielleicht Millionen Menschen sein Gesicht gesehen.
Wirklich, da hatte er sich gut gefühlt, erwachsen. Jetzt hatte er dieses Gefühl nicht. Er war kein Kind mehr, schon lange nicht mehr, aber er war auch kein Mann. Er musste sich um seine kranke Mutter kümmern und um seine kleine Schwester. Vom Vater hatten sie seit Monaten nichts mehr gehört. Er war Soldat und im letzten Brief der angekommen war schrieb er, dass man ihn in den Sektor Alpha versetzt hätte. Das war seine letzte Nachricht gewesen.
Der Junge zitterte. Er kam sich vor wie ein Gespenst. Er dachte an die Hollywoodfilme die er mit seinem Vater gesehen, in dieser Traumwelt vor dem Krieg. Sie hatten den Hulk und Spiderman gesehen und auf DVD einige der alten Superman Filme. Er wäre gerne einer dieser Superhelden. Er wäre gerne der Hulk. Die Kugeln würden an seiner grünen, festen Haut abprallen und der würde wütend in die Berge stürzen und sich diese Scharfschützen greifen und sie zerquetschen. Oder Spiderman, dann konnte er sich einfach über den Platz schwingen. Oder Supermann, dann würde mit seinen Superkräften diesen ganzen Krieg beenden und alle Bösen dorthin schicken wo sie hin gehörten, wobei er nicht genau wusste wohin sie denn nun gehörten: Unter die Erde oder einfach ins Gefängnis.
Er musste sich zusammenreißen. \"Willst du hier Wurzeln schlagen?\" fragte einer der Alten und sein nachfolgendes Lachen klang wie das Meckern eines Ziegenbocks.
Der Rucksack drückte sich schwer in seinen Rücken. Schweiß lief ihm in den Nacken. Plötzlich erhob er sich und rannte los. Diesmal machte er keine großen Ausweichbewegungen. Er starrte auf den Boden, auf seine Füße, achtete nicht auf die Entfernung, versuchte nicht an die Berge, oder die zerstörten Hochhäuser zu denken in denen der Feind mit seinen Präzisionswaffen lauerte. Seine Füße wirbelten den Staub auf und die winzigen Körner glitzerten in der Sonne, die gleichmütig am blauen Himmel stand. Einmal stolperte er, richtete sich aber gleich wieder auf. Er sah da Gesicht seiner Mutter, diese vom Fieber eingefallene Gesicht mit den glasigen Augen. Er sah seine Schwester, die seit Wochen das Loch, in welchem sie hausten mussten, nicht mehr verlassen hatte und deren Haut darüber fahl geworden war. Wer würde ihnen das lebensnotwendige Wasser bringen, wenn er es nicht schaffen würde. Sollte er sterben würde die Kugel des Schützen sie gleich mit töten.
\"Schieß nicht, schieß nicht, schieß nicht\", wiederholte er laut, immer wieder. Er war schon am Brunnen vorbei. Die alten Männer feuerten ihn an, aber ihre Rufe wurden schon vom Wind weggetragen. Der Wind war kräftig und das war gut, denn auf eine so große Entfernung veränderte der Wind die Flugbahn einer Kugel und es war schwerer ein Ziel zu treffen. Mathematik. Wer auf so eine Entfernung schoss, der musste sich gut auskenne. Der musste Berechnen können, wie die Kugel fliegen würde.
Gleich hatte er es geschafft. Keine zehn Meter mehr. Der Junge blickte zu Seite und meinte ein Aufleuchten zu sehen. Nicht in den Bergen, sondern in einem der grauen, skelettierten Hochhausresten, die an der ehemaligen Hauptstrasse standen. Das Sonnenlicht reflektierte sich im Metall. Fast glaubte er die Kugel zu hören, die auf ihn zukam und meinte zu spüren, wie sie, unendlich nah, an seinem Kopf vorbeijagte. Er ließ die Colaflasche fallen und für einen Moment war da der Reflex sich hinzuwerfen und die Hände über den Kopf zusammenzuschlagen und zu schreien, aber das tat er nicht. Er rannte weiter. Es kam keine dritte Kugel, als der die schützende Deckung erreichte. Sein Herz raste und seine Lungen drohten zu explodieren. Die Kugeln hatten ihn verfehlt. Es war unglaublich. Ja, er hatte die Kugeln nicht nur gehört, sie nicht nur gespürt, fast hatte er sie gesehen, was natürlich unmöglich war. Er lebte und er hatte zehn Liter Wasser und er verdrängte den Gedanken, dass er in einigen Tagen wieder hier stehen würde und dass dann die Kanister wieder leer sein würden. Er lebte und für einige Sekunden wühlte sich ein Triumphgefühl durch seinen Körper. Er riss sich den Rucksack vom Leib und ließ sich auf die Erde fallen und spürte die Sonnenstrahlen auf seiner Haut und die Erde unter sich und er genoss das Gefühl unsterblich zu sein. Kugelfest. Niemand konnte ihm etwas anhaben und der alte Mann auf der anderen Seite des Platzes sollte ruhig eine ganze Flasche von diesem selbstgebrannten dafür bekommen dass er auf ihn gesetzt hatte, auf ihn, den Jungen, den Läufer, der zwei Kugeln entkommen war.
Nach einiger Zeit richtete der Junge sich wieder auf. Dann sah er das Kind, wie es auf die Colaflasche starrte die da lag, nur zehn, vielleicht weniger Meter entfernt. Es hatte sich in die Hose gemacht. Ein dunkler Fleck breitete sich zwischen seinen Beinen aus und der Geruch von frischem Urin drang in die Nase des Jungen.
Er sagte sich, dass ihn das nichts anginge. Das er mehr als jeder andere getan hatte, aber es ging. Da war dieses Hochgefühl und da war Mitleid, obwohl der Junge, wenn man ihn gefragt hätte, nicht hätte sagen können warum er diesem Kind half. Half, wo doch jeder sich selbst der Nächste sein musste um zu überleben.
Der Junge betrachtete die Flasche. Das Kind wollte gehen, aber er hielt es zurück. Er war unbesiegbar. Er nahm Anlauf, einige Meter, machte eine Hechtrolle, kam auf die Beine, schnappte sich die Flasche, hielt sie einen Augenblick triumphierend in die Höhe, wie eine Opfergabe, hielt sie in Richtung des Hochhauses, zwei, drei Sekunden vielleicht, und wollte dann zurückrennen.
Die Kugel durchschlug mit aller Wucht seinen Brustkorb. Es hatte nicht einmal Schmerzen. Der Junge stürzte und als er auf dem Boden lag und Luft holen wollte und das nicht ging, da merkte er erst, dass er getroffen war. Er hatte sich einmal um sich selbst gedreht und lag auf dem Rücken und er sah wie die Colaflasche fortrollte, wie das Kind sie nahm und fortrannte, ohne sich umzudrehen, ohne den Jungen noch einmal anzusehen. Und er dachte an seine Mutter, die ihn nicht angesehen hatte, als er fortgegangen war um Wasser für sie alle zu holen und an seine Schwester, die ihn nicht angesehen, sondern mit einer Puppe gespielt hatte. Der Junge versuchte noch einmal Luft zu holen, aber es ging wieder nicht. Der Brustkorb hob sich, aber er saugte keine Luft mehr ein und der Junge fragte sich wie so etwas Möglich war. Alles war von einer fürchterlichen Klarheit. Die zarten Wolken am Himmel, leicht ausgefranst, schimmerten irgendwie golden. Die Sonne war so grell und er spürte jede Faser seines Körpers. Dieses Ich in seinem Kopf, welches merkte wie die Arme und Beine unbeweglich wurden, taub und kalt und nicht mehr dem reflexartigen Befehl gehorchen wollten den Körper umzudrehen und fortzukriechen aus dieser Gefahrenzone. Die Organe, die ausgeschaltet wurden, wie die Lichter in einem großem Haus, die Zimmer für Zimmer abgedreht werden, wenn man dieses Haus verlässt. Zum Schluss hörte das Herz auf zu schlagen und der Junge dachte dass er starb und dass es merkwürdig war, dass er noch immer denken konnte und dann hörte auch das Denken auf, aber der Junge hatte das Gefühl noch immer da zu sein und als dieses da sein abebbte hatte er keine Angst mehr sondern ließ sich in die Dunkelheit fallen und das letzte was er meinte in diesem da sein zu fühlen, war, dass das hier doch alles nicht sein konnte, dass er doch unsterblich war.
 



 
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