Krisenstimmung in Versmaßia

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Frieda

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Krisenstimmung in Versmaßia

Noch gibt es dieses Land Deutsch-Versmaßia, dessen Bewohner hauptsächlich davon leben, Versmaße für den deutschen Markt herzustellen. Jedes Land der Erde hat wohl sein Versmaßia, aber wir wollen uns an dieser Stelle auf die deutsche Variante konzentrieren. Früher waren die Bewohner von Deutsch-Versmaßia wohlhabend, zahlreiche Dichter brauchten ihre Dienste um kunstvolle Gedichte zu schreiben und zahlten dafür gern die hohen Preise. Immer schon waren die Versmaße teuer, so daß nur eine kleine Elite sie sich leisten konnte. Der Gerechtigkeit halber muß allerdings erwähnt werden, daß so ein Versmaß für sich schon ein kleines Kunstwerk darstellt. Jedes ist handgefertigt und individuell auf den auftraggebenden Dichter zugeschnitten. Heutzutage sind die Preise verfallen, die Einwohner von Deutsch-Versmaßia verarmt. Welcher Dichter gibt heute noch Geld für handgearbeitete Versmaße aus? Ja, wer braucht sie überhaupt noch? Sind sie nicht überflüssig? Jeder dichtet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Viele sind sogar dazu übergegangen, sich die Versmaße bei Bedarf selbst herzustellen. Die Dienste der einstigen Monopolisten sind jedenfalls nicht mehr gefragt. Hinzu kommt, daß die Versmaßianer auch untereinander zerstritten sind. Vier Hauptrichtungen sind zu nennen, daneben gibt es zahlreichen Untergruppierungen und Splitterparteien, die aber außerhalb Deutsch-Versmaßias so gut wie unbekannt sind, und die wir deshalb vernachlässigen wollen.

Da sind zunächst einmal die Trochäer, wie der Name schon sagt sind sie fest auf den Trochäus eingeschworen. Sie besitzen eine Reihe unverwechselbarer Merkmale. So sind sie zum Beispiel von gedrungener Gestalt, ausnahmslos Linkshänder und haben ein sehr selbstbewußtes, wenn nicht gar anmaßendes Auftreten. Nie sieht man einen allein, sie sind stets in Grüppchen anzutreffen. Wenn sie gehen, dann immer im Gleichschritt, mit dem linken Fuß fest auftretend, der rechte schlurft ein wenig nach. Trochäer kommen in Deutsch-Versmaßia sehr häufig vor, entsprechend hoch war in guten Zeiten die Produktion des entsprechenden Versmaßes.

Den Trochäern verwandt, weil ebenfalls zweifüßig, sind die Anhänger des Jambus, die Jambaner. Sie pflegen sich elegant zu kleiden und meinen auf die kompakteren Trochäer herabblicken zu können. An ihrem eigenartigen Gang sind sie leicht zu erkennen. Zuerst machen sie einen zierlichen Schritt mit dem linken Fuß, und springen dann mit einem schnellen Hops auf den rechten. Schritt - Sprung, Schritt - Sprung, das scheint am Anfang etwas mühsam, ist aber nach einiger Übung durchaus zu bewältigen. Auch der Jambus war früher ein Verkaufsschlager, wobei sich sein Umsatz allerdings nicht ganz mit dem des Trochäus messen konnte.

Daktylus, der kapriziöse Dreifüßer, überzeugt seine Anhänger durch seinen zauberhaften Walzerschritt. Die Daktylaner haben sich etwas besonderes einfallen lassen, um ihre Verehrung für ihr bevorzugtes Versmaß zu demonstrieren. An beiden Händen haben sie sich die obersten beiden Glieder von Zeige- und Mittelfinger amputieren lassen, damit sie, wenn sie den Daumen hinzunehmen, einen langen und zwei kurze Finger zeigen können, streng nach dem Versmaß des Daktylus. Kenner vermuten, daß das ein entscheidender Grund ist, warum die Daktylaner nicht so häufig anzutreffen sind.

Der respektlose Anapäst schließlich hat nur eine kleine Schar von Verehrern aufzuweisen. Er ist sozusagen das enfant terrible unter den Versmaßen, seine Haltung ist betont lässig, und sein Benehmen nicht immer stubenrein zu nennen. Schon seine Art, sich fortzubewegen ist eine Provokation. Er macht zwei flinke Hüpfschritte gefolgt von einem kräftigen Stampfer mit dem dritten Bein, wobei er einen lauten Furz ertönen läßt und zu allem Überfluß auch noch die Zunge herausstreckt. Seine weiblichen Anhänger heißen ausnahmslos Ana, die männlichen Anus.

Trotz aller Unterschiede, irgendwann sah auch der Letzte ein, daß es so nicht weitergehen konnte. Der Umsatz durfte nicht noch weiter sinken, schließlich stand die Existenz des ganzen Landes auf dem Spiel. Und so beschlossen die Einwohner von Versmaßia ihre Kräfte zu bündeln. Sie wollten sich nicht mehr gegenseitig Konkurrenz machen, sondern gemeinsam ein neues Konzept zur Abwendung des drohenden Konkurses erarbeiten. Zunächst waren alle Versmaßianer aufgerufen, einen Vorsitzenden für die neue Konkurs-Abwendungskommission zu wählen. Eine Sitzung wurde einberufen, auf der die Kandidaten Trochäus, Jambus, Daktylus und Anapäst sich vorstellen sollten. Jeder von ihnen hatte eine kurze Rede in Form eines Vierzeilers zu halten. Der Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt, und die Saaldiener, jeweils die gleiche Anzahl aus allen vier Fraktionen, hatten ihre liebe Mühe, ihre aufgeregten Landsleute im Zaum zu halten.

Als erster trat Trochäus mit schweren, majestätischen Schritten ans Rednerpult. Er brauchte kein Mikrofon, seine Stimme hätte mühelos auch einen doppelt so großen Saal ausgefüllt.

Ich, Trochäus, groß und prächtig
auf zwei Beinen stehe ich,
niemand ist wie ich so mächtig,
jeder kennt und achtet mich.


Lautes, rhythmisches Klatschen aus der Fraktion der Trochäer belohnte die wohlgelungene Rede. Nur wer genau hinhörte, bemerkte hier und da ein leises, verächtliches "Pffff" aus den Reihen der Anapästen.

Als nächster war Jambus dran. Eitel zog er seinen maßgeschneiderten Anzug glatt, während er Schritt-Sprung, Schritt-Sprung ans Rednerpult hüpfte.

Herr Jambus werde ich genannt,
gar vornehm bin ich, wie ihr wißt,
nicht ganz so häufig, doch bekannt,
hört her, wie schön mein Versmaß ist.


Jubel aus den Reihen der Jambaner. Aber was war das? Mir schien, als wären auch ein paar Trochäer übergetreten und hätten klammheimlich den Stützfuß gewechselt.

Bis hierher war noch alles ganz gesittet zugegangen, aber mit dem Einzug des Daktylus kam Bewegung in die Sache. Er nahm den nächstbesten Saaldiener, zufällig ein Jambaner, und tanzte mit ihm einen Wienerwalzer um das Rednerpult, natürlich links herum. Schließlich ließ er den erschöpften Jambus-Anhänger fallen und begannt seine Rede.

Daktylus heiß' ich, im lustigen Dreierschritt
hüpfe und springe und tanz' ich umher,
ich bin stets fröhlich und mach' jede Feier mit,
jedermann liebt mich, das freut mich gar sehr.


Dreivierteltaktiger Applaus brandete auf. Auch die Zweifüßer waren vom Charme des leichtsinnigen Daktylus hingerissen, hatten aber Schwierigkeiten mit ihren zwei Füßen den Dreiertakt einzuhalten. Und so waren sie noch am Üben, als der Anapäst schon längst am Rednerpult stand. Diesen aber scherte das wenig. Er fragte nicht danach, ob ihm jemand zuhörte, sondern fing einfach an.

Anapäst, Anapäst,
was bedeut' mir der Rest?
Reimerei ist mir schnurz,
g'rad so viel wie ein Furz.
Pffffff!


Oh, wie peinlich, die Saaldiener waren sich nicht sicher, ob sie eingreifen sollten, oder ob das Gefurze, das nun einsetzte, als künstlerische Freiheit zu werten war. Von einem geordnetem Ablauf der Sitzung war schon bald keine Rede mehr. Jeder schrie und trampelte in seinem ihm eigenen Takt, und niemand hörte mehr auf die Argumente des Nachbarn. Angesichts des allgemeinen Tumults hatten auch die Saaldiener bald aufgegeben, für Ordnung zu sorgen. Mit Wonne stürzten sie sich ins Gewühl, man ist ja schließlich auch nur ein Versmaß.

Abschließend ist zu berichten, daß natürlich keine Einigung erzielt wurde. Die Versmaßianer waren nach wie vor zerstritten, die Produktion von Versmaßen erreichte einen nie dagewesenen Tiefstand. Versmaßia versinkt nach und nach im Nebel des Vergessens. Ist das nun gut oder schlecht, wer will das entscheiden? "Das ist wichtig", sagen die einen, "Was für ein Blödsinn", sagen die anderen. Der Dichter, der Wert auf ein korrektes Versmaß legt, tut jedenfalls gut daran, sich beizeiten mit einem ausreichenden Vorrat einzudecken. Glaubst du an Versmaßia? Oder sind es doch alles nur Hirngespinste?
 
P

Parsifal

Gast
Hallo Frieda,

auch von mir ein Bravo für Deinen Beitrag! Was den Tenor Deiner Ausführungen betrifft, stimme ich Dir zu - wenn da nicht die Frage an Radio Eriwan wäre: "Muß man in Metrik bewandert sein, wenn man Gedichte schreiben will?" Antwort: "Es kann nicht schaden, aber es nützt auch nichts."

Erst nachdem eine Fülle von Gedichten vorlag, haben die Theoretiker sich wiederholende Regelmäßigkeiten entdeckt und sich daran gemacht zu messen, zu zählen und zu klassifizieren. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, daß sich Fachleute kurz und präzise verständigen konnten.

Aber da wir Deutschen Prinzipienreiter sind ("Deutscher sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun"), glauben wir mit der Metrik schon den Schlüssel zur Dichtkunst zu besitzen - und das ist ein fundamentaler Irrtum. Der Metriker zerlegt und:
"Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider nur das geistige Band."

Ich gehe, ohne mich bei jedem Schritt zu fragen, wie und warum welche Muskeln bewegt werden, wie sie mit Sauerstoff versorgt werden und wie der Gleichgewichtssinn alles zu steuern hat, damit ich nicht falle. Wenn ich aber gelähmt oder betrunken bin, hilft mir das ganze Wissen nichts.

Die vielen miserablen Gedichte - und hier meine ich nicht den banalen Inhalt, schiefe und abgegriffene Bilder usw. - kranken daran, daß den Autoren jegliches rhythmische Gefühl fehlt. Sie glauben, ein Gedicht geschrieben zu haben, wenn sich die Zeilen hinten mit Hängen und Würgen ein bißchen reimen.

Was mich betrifft, so erkenne ich viele Dichter (z.B. Rilke) an ihrem spezifischen Klang, und ich könnte ad hoc nicht sagen, wer welche Versmaße bevorzugt.

Herzlichst
Parsifal
 

Frieda

Mitglied
Danke

@Kadra, herzlichen Dank für den Applaus *artigsichverbeugt*

@Parsival, du hast es nochmal auf den Punkt gebracht: Ohne einen inneren Rhythmus geht es nicht. Aber er muß natürlich sein und nicht "an den Haaren herbeigezogen". Man muß nicht in Metrik bewandert sein, um das zu schaffen. Andererseits muß es auch nicht unbedingt schaden, womit wir wieder bei Radio Eriwan wären.

Liebe Grüße
von Frieda
 

GabiSils

Mitglied
Klasse, Frieda! Leider darf ich maximal 8 Punkte vergeben. Da warte ich lieber mit bewerten, bis ich genügend mittelmäßige gesammelt habe...

Parsifal: sehr richtig. Ein Gedicht muß "klingen" - ob es sich nun gebundener Sprache bedient oder formal eher frei ist. Schlimm sind die Zwitter, ie sich nicht entscheiden können, ob sie nun Reim und/oder Versmaß einhalten wollen oder nicht.

Gruß,
Gabi
 

Frieda

Mitglied
Danke Gabi

für Deine Rückmeldung. Das mit dem Punktevergeben habe ich nicht verstanden. Warum darfst Du nur 8? Worauf mußt Du warten? Aber sei beruhigt, ich lege nicht so viel Wert auf die Bewertung, jedenfalls nicht nach Punkten. Viel wichtiger sind mir die Kommentare der "Mit-Lupianer".

Liebe Grüße
von Frieda
 
P

Parsifal

Gast
Liebe Frieda,

das mit der "Bewertung" ist höhere Mathematik (Wahrscheinlichkeitsrechnung). Da hat nämlich jemand mal was von der Gaußschen Kurve gehört und versucht das nun auf die LL anzuwenden, d.h. die relative Häufigkeit eines Fehlers wird in Relation zur Zahl aller Fehler gesetzt. Wenn Du nun Fehler durch Wertung ersetzt, kommst Du zur LL-Logik. Im Klartext: die Häufigkeit mittlerer Wertungen muß überwiegen, da sehr gute oder sehr schlechte Wertungen als "Ausreißer" angesehen werden. Du mußt also eine bestimmte Anzahl mittlerer Wertungen abgegeben haben, sonst werden Deine hohen oder niedrigen Wertungen nicht angenommen. Im Prinzip (Wahrscheinlichkeitsrechnung) ist das zwar richtig, ABER:
ich werde dabei das Gefühl nicht los, daß man damit den User zwingen will, viele mittlere Wertungen abzugeben.

Nun sind aber die Texte, denen man eine mittlere Wertung zuteilen könnte, meist derart, daß sie den Leser mehr oder weniger kalt lassen, ihn also kaum zum Bewerten reizen. Aber eben dies soll offenbar vermieden werden. Du mußt also eine Strichliste oder (z.B. in Excel) eine Tabelle Deiner abgegebenen Wertungen anlegen, und wenn Du Dich mit dem Programm gut genug auskennst, kannst Du daraus eine Verteilungskurve machen. Oder aber Du vergibst fleißig mittlere Wertungen, dann hast Du nach oben und unten entsprechenden Spielraum.

LG
Parsifal
 



 
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