Kurz nach dem Start

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StefanErnst

Mitglied
Kurz nach dem Start


Kurz vor dem Start müssen die Tragflächen nochmals enteist werden. Der zuständige Techniker ist um diese Uhrzeit noch mit den Gedanken ganz woanders und daher wenig sorgfältig.

Kurz vor dem Start zwängen sich Fluggäste in ihre Sitze. Der Pilot findet etwas gezwungen klingende, launige Begrüßungsworte und informiert über die Flugroute und die Wetterbedingungen am Ziel.

Kurz vor dem Start blättert sie in der Broschüre der Fluggesellschaft, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Vor allem die Werbebotschaften beanspruchen ihre Aufmerksamkeit.

Kurz vor dem Start denkt er an das, was ihn am Zielort erwartet. Ob der Prozess fair verläuft und er das Sorgerecht erhält?

Kurz vor dem Start rollt die Maschine dann ihrer Startbahn entgegen. Lichtpfade locken das Flugzeug an die Stelle, wo es verharrt und ungeduldig auf den Schub wartet.


Kurz nach dem Start bereiten die Flugbegleiterinnen Getränke und Frühstücksschalen vor. Das Geklapper mischt sich mit dem gedämpften Stimmenkonzert und dem Maschinenunterton.

Kurz nach dem Start sprechen sie über den bevorstehenden Deal. Diesmal muss unbedingt eine andere Verhandlungstaktik eingeschlagen werden.

Kurz nach dem Start bemerkt der Copilot den Ausfall der Triebwerke, dicht nacheinander. Fast wortlos, aber mit Blicken, die die Ausweglosigkeit erkennen lassen, weist er den Piloten darauf hin.

"Kurz nach dem Start", sagt der Nachrichtensprecher, "verschwand die Maschine von den Radarschirmen. Rettungsmannschaften haben die Absturzstelle inzwischen erreicht."

Kurz nach dem Start ärgert sich der Nordwind, dass er den Airbus 300 nicht aufnehmen und greifen durfte, sondern ihn dem felsigen Boden der Eifel überlassen mußte.
 
L

Lotte Werther

Gast
An StefanErnst

Da sitze ich ratlos nach der Lektüre deines, zumindest auf der Lelu, ersten Textes.

Vor dem Start oder nach dem Start – ich bleibe als Leserin unbeteiligt am Schicksal der Reisenden.

Vielleicht will der Autor ja gar nicht, dass ich rührselig werde – denke ich.
Nun gut, dann will er vielleicht mit der Sprache spielen, virtuos das Wort führen.
Doch auch davon kann ich nichts entdecken.

Im Gegenteil. Beim letzten Absatz kippt der ganze Text ins Kindisch-Kitschige.
Das kann doch nicht ernst gemeint sein, dass der Nordwind sich ärgert…

Immerhin habe ich bei diesem Absatz als Leserin die erste Gefühlsregung: ungläubiges Staunen ob der Naivität der Sätze.

Was immer du mit diesem Text erreichen wolltest, du hast noch daran zu arbeiten.

Lotte Werther
 

StefanErnst

Mitglied
Zu Lottes Kommentar

Es war recht aufschlussreich, zu erfahren, wie mein Text auf dich gewirkt oder vielmehr nicht gewirkt hat. Daran arbeiten möchte ich nicht mehr, aber die eine oder andere Anregung nehme ich sicher mit, wenn ich mich an ein neues Textexperiment wage. Etwas absolut kommt mir deine Beurteilung mit Begriffen wie "naiv" oder "Kitsch" schon vor, doch ich denke mir das "meiner Meinung nach" oder "aus meiner Sicht" einfach dazu.

PS: In meiner vielleicht leicht animistischen Phantasie ist der Nordwind übrigens tatsächlich in der Lage, sich zu ärgern.
 
L

Lotte Werther

Gast
An StefanErnst

Etwas absolut kommt mir deine Beurteilung mit Begriffen wie "naiv" oder "Kitsch" schon vor, doch ich denke mir das "meiner Meinung nach" oder "aus meiner Sicht" einfach dazu.

Ein wenig verwundert hat mich der oben zitierte Satz.

Der Zusatz in deinen Gedanken sollte doch so selbstverständlich sein wie die Tatsache, dass ich auf der Leselupe nie eine andere als meine Meinung kund tue.

Deine Betonung eines an sich überflüssigen Zusatzes bringt mich ins Grübeln. Ich nehme trotzdem im Umkehrschluss an, dass dein Kommentar deine "eigene" Meinung widerspiegelt.

Lass den Nordwind sich ruhig ärgern. In diese Geschichte passt er trotzdem nicht hin (Platz für Zusatz).


Lotte Werther
 

Arezoo

Mitglied
Lieber Stefan,

mir hat deine Prosa gefallen.
Hmm... obwohl, gefallen ist eigentlich nicht das richtige Wort.
Sie hat mich angesprochen und letztendlich auch ein bisschen betroffen gemacht.
Hinter der Nüchternheit und sachlichen Schilderung verbirgt sich viel Platz für die eigene Emotionalität.
Ich fliege viel in meinem Leben und ich habe immer Angst. Obwohl das sicherlich unbegründet ist.
Autofahren ist ja statistisch gesehen viel gefährlicher.
Trotzdem schlucke ich eine halbe Valium vor dem Start, bestelle sofort danach einen Gin Tonic und belauere die Flugbegleiter nach einem Anzeichen von Unruhe in ihren Gesichtern...
Deine Prosa hinterläßt den Nachgeschmack des Ausgeliefertseins.
Das Ende empfinde ich nicht als kitschig. Im Gegenteil, es erleichtert etwas und läßt mich mit meiner Emotionalität nicht allein zurück.

Liebe Grüße von
Arezoo,
die mit der Flugangst...
 

San Martin

Mitglied
Warum das zu sorglose Enteisen der Tragflächen zum Triebwerksausfall führt, wundert mich; zumindest dachte ich, es bestünde ein kausaler Zusammenhang. Was gelungen ist, ist die Transition der ersten Worte jedes Absatzes bis hin zu der Nachrichtendurchsage. Leider lässt mich der Text, wie Lotte es schon geschah, kalt, was an den etwas inhaltlosen und langweiligen Gedanken ("sprechen sie über den bevorstehenden Deal") liegt. Auch der Schuldige für den Absturz wird nicht angegriffen - der Text zeigt, und mehr nicht. Beim Nordwind pflichte ich Lotte bei - das scheint nicht recht zu passen. Meiner Meinung nach.
 

StefanErnst

Mitglied
Zum Kommentar von San Martin

Was die technische Kausalität angeht, war irgendwo im Web etwas zu lesen, dass Eisplatten in die Triebwerke geraten können und diese damit beschädigen. Ob das allerdings speziell beim Airbus 300 auch so sein könnte, weiß ich nun nicht.

Die Personen sollten tatsächlich nur gezeigt und nicht näher vermittelt werden, sie dienen lediglich als beispielhafte Elemente, aus denen sich eine typische Linienflugsituation zusammensetzt. Dass der Text dadurch insgesamt die Leser nicht berührt, ist mir erst durch die Anmerkungen hier bewusst geworden.
 



 
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