Kurze Begegnung

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Andrea1694

Mitglied
Einer ganz besonderen Frau gewidmet!

1. Tag
Wir lernten uns kennen, als ich den Vater meines Freundes, im Krankenhaus besuchte.

Deine Zimmertüre stand weit offen. Du hattest aufrecht im Bett gesessen und Dich in einem gleichmäßigen Rhytmus hin und her bewegt, fast so, als würde Dich eine innere Unruhe treiben.

Wie ich später erfuhr, sollten Dich die heraufgezogenen Gitterstäbe davor bewahren, aus dem Bett zu fallen. Doch für mich wirkten sie wie ein Gefängnis.

Dein schmales Becken war von einer Windel umschlossen, wohl wiederum zu Deinem Wohle, weil Du das Wasser nicht mehr halten konntest. Für mich strahlte es Deine Hilflosigkeit aus.

Als sich unsere Augen begegneten, wirkten die Deinen kraftlos und vollkommen leer und eine Schwester meinte zu mir, dass Du einfach nicht mehr Du selber seist. Ich sah Traurigkeit und Einsamkeit in ihnen.

In regelmäßigen Abständen sprachst Du immer wieder einen weiblichen Namen aus. Für mich wirkte dies wie ein Hilferuf Deinerseits.

Ich betrat Dein Zimmer und stellte mich Dir vor. Zaghaft strecktest Du mir Deine knöchrige Hand entgegen und schenktest mir ein unvergessliches lächeln.

Wir unterhielten uns, eine knappe viertel Stunde, miteinander und ich versprach Dir, bei meinem Abschied, Dich von nun an jeden Tag zu besuchen. Ich wusste nicht, dass es nur 4 Tage werden würden.

2. Tag
Als ich in Dein Zimmer trat, strahlte mir Dein lächelndes Gesicht entgegen. Die Schwester meinte, dass Du sehr selten Besuch bekämst und erlaubte mir, auf Grund meiner Bitte, mit Dir ein wenig auf dem Flur spazieren zu gehen.

Ich schob Dich im Rollstuhl vor mir her. Die Sterilität, der weiß getünchten Wände, wurde durch zauberhafte, farbenfrohe Bilder unterbrochen. Wir schauten uns jedes einzelne, dieser Bilder an, philosophierten über unser Empfinden, beim Anblick der künstlerischen Dar-
stellungen und diskutierten angeregt über einzelne Farben.

Für mich warst Du einfach eine wunderbare Frau, die auf Grund Ihrer 93 Jahre, schon einiges an Lebenserfahrungen gesammelt hatte.

Beim verabschieden sagtest Du mir, ganz aufgeregt, dass ich Dich am nächsten Tag im Hause Deiner Tochter besuchen könne, da Du aus dem Krankenhaus entlassen werden solltest. Ich sah in Deine strahlenden Augen und freute mich von ganzem Herzen für Dich.

3. Tag
Eine Schwester erzählte mir, dass Du vor einigen Stunden in ein Altersheim gekommen wärest, weil sich Deine Tochter nicht mehr um Dich, als Pflegefall, kümmern wollte. Diese Mitteilung traf mich wie ein Schlag in mein Gesicht, ich verstand es nicht.

Ich erkundigte mich im Altersheim nach Deiner Zimmernummer und stand, mit etwas zittrigen Knien, vor einer verschlossenen Tür. Zaghaft klopfte ich an und trat ein.

Du saßst mit ausdruckslosen Augen in einem Rollstuhl am Fenster. Langsam kam ich näher und beugte mich zu Dir herunter. Du schautest mich traurig an und meintest ganz leise zu mir, dass Dich Deine Tochter am Abend nach Hause holen würde.

Wir gingen im Park spazieren und verweilten einen Augenblick an einem kleinen See, doch es war mir nicht möglich, Dir ein lächeln abzugewinnen. Auch meine Gedichte, die Dich zuvor erfreuten, halfen nicht, Dir Deine Traurigkeit zu nehmen.

Später verabschiedete ich mich von Dir und versprach, am morgigen Tag wieder zu kommen. Beim verlassen des Altersheimes, rannen mir Tränen an den Wangen entlang und brannten sich tief in meine Haut hinein.

4. Tag
Bevor ich zu Dir kam, wollte ich wieder den Vater meines Freundes besuchen.

Die Zimmertüre, des Zimmers, in dem Du schon einmal lagst, stand wieder weit offen. Ich blickte hinein und sah auf eine zusammengekauerte, alte Frau. Es warst Du.

Vor Deinem Bett saß eine Deiner Töchter, wie ich erfuhr, als sie sich mir vorstellte.

Langsam kam ich näher an Dein Bett und sprach Dich mit Deinem Namen an. Du bäumtest Dich regelrecht, mit letzter Kraft, auf und flüstertest meinen Namen, fast so, als hättest Du auf mich gewartet.

Ich schloß Dich in meine Arme und sagte >> es wird alles wieder gut << und küsste Dich zum Abschied auf Deine Stirn. Danach rann ich aus dem Zimmer, weil ich das Herannahen Deiner letzten Stunden spürte und meine Tränen nicht mehr aufhalten konnte.

Du verstarbst am gleichen Tag.

Möge Gott Dir den ewigen Frieden schenken!

Andrea
11/08/03
 

silverbird

Mitglied
das sind unglaublich eindrückliche Zeilen. Im ersten Teil gefällt mir vor allem jeweils, wie du die Äusserungen der Pflegerin mit deinen eigenen Wahrnehmungen und Deutungen vergleichst. Ich finde es wunderschön, wie du einen Weg zu dieser Frau gefunden hast und ihr die letzten Tage ihres Lebens mit Sonne erfüllt hast.
Liebe Grüsse
silverbird
 



 
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