Kurze Notiz

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Justina

Mitglied
45 Quadratmeter Heimat. Die Wände schmückten verblichene Fotos von Sizilien und von italienischen Nationalspielern, die schon lange nicht mehr aktiv waren. Die Zimmer waren spärlich eingerichtet, das Mobiliar billig. Die Teppiche und Tapeten erinnerten an die 70ger Jahre.

Massimo Cambio war 1967 als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Ein unauffälliger Mann, der in einer Eisenhütte arbeitete und dessen einziges Hobby der Fußball war. Als er jünger war, spielte er in der Betriebsmannschaft. Irgendwann fing er an, die Jugendmannschaft des italienischen Fußballclubs zu trainieren. Das tat er, bis er einen leichten Schlaganfall erlitt; da war er 55 Jahre alt. Er wurde Frührentner.

Das Rentnerdasein gefiel ihm. Zweimal monatlich traf er seine alten Fussballfreunde im Vereinslokal. Er montierte eine Satelittenschüssel, die ihm bei Bedarf Bilder und Töne aus seiner Heimat ins Haus brachte, und er sorgte für eine Katze, die zwar keinen Namen hatte, ihm aber viel bedeutete. So ließ es sich leben.

Der Vermieter war aufmerksam geworden, als die Nachbarn sich beschwerten. Aus Herrn Cambios Wohnung dringe ein fürchterlicher Geruch, sagten sie. Er hatte daraufhin mehrfach versucht, Herrn Cambio persönlich oder telefonisch zu erreichen. Es gelang ihm nicht. Nach zwei Tagen rief er die Polizei an, bat darum, die Wohnungstür aufzubrechen. Man fand Herrn Cambio im Bad. Er war bereits mehrere Tage tot. Die Katze saß verschreckt in einer Ecke; überall lagen ihre Exkremente. Die Obduktion ergab, daß Herr Cambio an den Folgen eines Schlaganfalles verstorben war, aber möglicherweise noch einen vollen Tag bewegunsunfähig gelebt hatte. Er wurde 65 Jahre alt.

Die Katze kam ins Tierheim. Die Entrümpler hatten wenig zu tun. Da es keine Angehörigen gab, mußte beim Abtransport der Möbel keine Rücksicht auf Befindlichkeiten etwaiger Erben genommen werden. Es wurde schnell und präzise alles in kleine Stücke geschlagen und vom Fenster aus in den bereitstehenden Container geworfen. Die Arbeit war schnell getan. Nach 2 Stunden war Massimo Cambios Wohnung leer.
 
Fünfundvierzig Quadratmeter Heimat ODER Massimo Cambio

Hallo Justina!


Mit einem Minimum an Aufwand beschreibst du ein Maximum an Katastrophe. Ein gelungenes Stück Prosa. Der erste Satz gefällt mir. Man könnte ihn fast zum Titel machen. Den letzten Satz streiche. Oder besser: verwandle ihn etwas. Verstehst du: Es geht noch mehr darum, das Lakonische selbstverständlich wirken zu lassen.

„Kurze Notiz“ als Titel betont mir zu sehr, was es ohnehin ist. Hat man den Text gelesen, wirkt das „Kurze Notiz“ fast anklagend, moralisch. Dass nach zwei Stunden nichts mehr an den Menschen erinnert, ist sicher richtig, aber auch hier steckt noch Gefühl (zu viel Gefühl für den Text) drin. Ich würde nur schreiben (Jetzt nur dem Sinn nach, nicht endgültig formuliert!): Nach zwei Stunden war die Wohnung leer. Oder: Die Entrümpelung dauerte zwei Stunden. Fertig. Aus. So würdest du den Leser noch härter zurücklassen und mit diesem dokumentierten Schicksal konfrontieren. (Obwohl es auch gut ist, dass der Text mit dem Namen des Menschen endet.)

Ja, die Katze ist auch wichtig.
Dass der Mensch dann noch nach dem Schlaganfall dalag, da würde ich auch noch einmal über die Formulierungen nachdenken. "Die Ärzte meinten...". Das klingt, als solle man jetzt arg von dieser Situation getroffen sein. Da wird etwas handwerklich zu offensichtlich an Information eingebracht. Das müsste vielleicht noch selbstverständlicher kommen, meiner Meinung nach. Aber sonst, Kompliment!


Liebe Grüße

Monfou
 

Justina

Mitglied
Hallo Monfou,

über Deine positive Kritik habe ich mich sehr gefreut. Die Verbesserungsvorschläge kann ich nachempfinden, daher habe ich den letzten Satz schon geändert.
Mir fällt leider noch keine Alternative zu "Die Ärzte meinten..." ein. Denn auch hier gebe ich Dir recht: diese Formulierung passt nicht, wirkt wie ein Stilbruch. Ich hoffe, ich finde dafür noch was Passendes.

Liebe Grüße
Justina
 

MDSpinoza

Mitglied
Vielleicht: "Die Obduktion ergab, daß er an den Folgen eines Schlaganfalles verstorben war, aber möglicherweise noch einen vollen Tag bewegunsunfähig gelebt haben muß..."
 

Justina

Mitglied
Hallo MD Spinoza,

danke für den Tip. Ich habe die entsprechende Stelle umgeändert und hoffe, sie liest sich nun besser.

Gruß+Dank
Justina
 



 
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