Kurzgeschichte 'Das Dorf der Verlorenen'

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Das Dorf der Verlorenen

Kurzgeschichte von Richard Norden

Wolf Thordal starrte die düsteren Wolken an, die sich bedrohlich am Horizont auftürmten. Ein Unwetter bahnte sich an, und Wolf wusste aus Erfahrung, dass Unwetter in dieser Gegend eine äußerst unangenehme Angelegenheit waren: Stundenlange Wolkenbrüche, zuckende Blitze und eisige Kälte waren schon manchem Wanderer zum Verhängnis geworden, der es versäumt hatte, rechtzeitig einen schützenden Unterschlupf zu finden.
Da passte es Wolf hervorragend, dass er gerade vor wenigen Minuten auf diesen kleinen, halb zugewucherten Fußweg gestoßen war. Einige Spuren, wie abgeknickte Zweige am Wegrand und undeutliche Fußabdrücke im lehmigen Boden zeigten ihm, dass dieser Weg zwar recht selten, aber dennoch regelmäßig benutzt wurde. Nun, im Grunde genommen war es Wolf auch relativ egal, wohin dieser Weg führen mochte. Ob ein Dorf, eine alte Mühle oder sonst eine menschliche Niederlassung am anderen Ende lagen, es würde sich in jedem Fall ein trockenes Eckchen finden lassen, wo er sich für die Dauer des Unwetters unterstellen konnte.
So folgte er dem Weg immer weiter. Die Sonne verschwand hinter den drohenden Gewitterwolken und leiser Donner rollte vom Horizont heran, als Wolf über die Hügelkuppe trat und unten im Tal, halb versteckt unter den knorrigen Bäumen, die erleuchteten Häuser einer kleinen Ortschaft entdeckte. Nun, dachte er, besser hätte ich es nicht treffen können. Ein warmes, gemütliches Zimmer für die Nacht, ein gutes Essen im Magen - der Anblick des kleinen Dörfchens weckte in Wolf die angenehmsten Gefühle. Und so beschleunigte er seinen Schritt und erreichte auch innerhalb einer Viertelstunde die ersten Häuser am Ortsrand.
Im Halbdunkel des nahenden Gewitters sah Wolf sich um und entdeckte an einem der Häuser ein verwittertes Schild, das quietschend an zwei unzureichend geölten Ketten im Wind schaukelte. \"Zum Roten Keiler\", las er halblaut, \"Schänke und Gasthaus. Genau das, was ich gesucht habe.\"
Inzwischen war das Unwetter in greifbarer Nähe. Die blutrote Sonne lugte nur für vereinzelte Augenblicke noch einmal zwischen den fast schwarzen Wolken hervor, und erste Tropfen kündigten den nahenden Wolkenbruch an. Kurzentschlossen stieß Wolf die Tür auf und betrat den Schankraum.
Ungefähr ein Dutzend Leute, die meisten von ihnen waren ihrem Äußeren nach Bauern aus dem Dorf oder umliegenden Gehöften, saßen an den roh behauenen Holztischen, tranken Bier aus großen Tonkrügen und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. Sie alle musterten den Neuankömmling kurz, schienen dann aber schnell wieder das Interesse zu verlieren und wandten sich wieder ihrer Beschäftigung zu.
Wolf ging an den Tresen, hinter dem der Wirt ihm erwartungsvoll entgegenblickte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit einer ausgeprägten Halbglatze, dicken Hamsterbacken und einer rotgeäderten Nase, die verriet, dass er wohl selbst zu seinen besten Gästen zählte. \"Willkommen, Fremder\", begrüßte er Wolf leutselig. \"Was verschlägt Euch nach Lucanta?\"
\"Lucanta?\" fragte Wolf. \"Ist das der Name dieses Orts? Ich bin auf der Durchreise. Als ich das nahende Unwetter bemerkte, war ich froh, durch Zufall auf euer Dorf gestoßen zu sein.\"
Der Wirt warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster. Draußen prasselte der Regen nieder und verwandelte die Straßen in eine einzige Schlammwüste. \"Seid froh, dass Ihr es noch rechtzeitig bis hier geschafft habt\", nickte der Wirt bestätigend. \"Draußen im freien Land hättet ihr euch bei diesem Wetter den Tod holen können.\" Er streckte Wolf die Hand entgegen. \"Wir sind eine kleine Gemeinschaft. Hier kennt jeder jeden. Ich bin Zoltan, der Wirt. Darf ich fragen, wie Euer Name ist?\"
Wolf ergriff die ausgestreckte Hand und erwiderte den Händedruck. Erstaunt registrierte er die Kraft, die in dem Händedruck des korpulenten Mannes lag. \"Wolf Thordal. Nennt mich einfach nur Wolf.\"
Einige der Männer an den Tischen horchten auf, und für einen Augenblick glaubte Wolf, so etwas wie Amüsement in ihren Augen zu sehen, als lachten sie innerlich über einen Witz, den nur sie verstehen konnten. Aber der Ausdruck in ihren Augen verschwand so schnell wieder, dass Wolf fast überzeugt war, sich etwas eingebildet zu haben. Es sind nur Bauern, rief er sich selbst in Erinnerung. Sie sehen selten genug Fremde, und Nordländer wie ich dürften für sie ein völlig ungewohnter Anblick sein.
\"Also, Wolf\", riss ihn die Stimme des Wirts aus seinen Gedanken. \"Was willst du trinken? Das erste Glas geht aufs Haus.\"
\"Hast du roten Wein, Zoltan?\"
Der Wirt grinste verschmitzt. \"Den besten der ganzen Gegend. Rot wie Blut und süß wie die Sünde.\"
\"Dann gib mir ein Glas davon\", nickte Wolf, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Tür bemerkte. Er drehte sich um und sah, wie die Tür hinter einer jungen Frau ins Schloss fiel, die gerade den Raum betreten hatte. Hoheitsvoll hängte sie ihren wetterfesten Umhang an einen Haken und nahm an einem freien Tisch Platz.
Wolf musste sich zusammenreißen, um sie nicht allzu offensichtlich anzustarren. Sie war eine wahre Schönheit, mit einem schmalen, edel geschnittenen Gesicht, grünen Augen und hellblondem, fast weißem Haar, das wie ein schäumender Wasserfall bis auf ihre unverhüllten Schultern fiel. Sie trug ein weißes Kleid mit Spitze, in dem sie wie eine Göttin aussah, die in die Welt der Sterblichen hinabgestiegen war. Wolf ertappte sich dabei, wie er seine Augen über ihren wohlproportionierten Körper gleiten ließ und sie in Gedanken auszog.
\"Wer ist diese Frau?\" fragte er Zoltan.
Der Wirt lachte. \"Das ist Morrigan, die Tochter des Bürgermeisters. Sie ist eine wundervolle Frau, nicht wahr?\"
\"Wunderschön\", bestätigte Wolf mit einem andächtigen Nicken und zwang sich, sich auf den Weinkelch zu konzentrieren, den der Wirt vor ihm hingestellt hatte. Er nahm einen tiefen Schluck und ließ ihn die Kehle hinabrinnen. Zoltan hatte nicht zuviel versprochen. Der Wein war gut, sogar sehr gut.
\"Kann ich bei euch ein Zimmer für die Nacht bekommen?\" fragte Wolf, als er draußen das Krachen des Gewitters hörte. \"Es sieht nicht so aus, als ob sich das Wetter wieder beruhigen würde.\"
\"Kein Problem\", nickte Zoltan. \"Wir haben nicht viele Gäste hier. Das Zimmer macht drei Schilling pro Nacht. Es ist nichts besonderes, aber es ist sauber und beheizt.\"
\"Ich bin nicht anspruchsvoll\", winkte Wolf ab, griff an seinen Gürtel, wo sein Geldbeutel hing und fischte eine kleine Silbermünze heraus, die er dem Wirt hinhielt. Zoltan sah die Silbermünze und schüttelte abwehrend den Kopf. \"Darauf kann ich nicht herausgeben. Hast du es nicht kleiner?\"
Wolf zuckte die Achseln, steckte die Silbermünze wieder zurück und zählte dem Wirt die drei Schilling in Kupfermünzen in die Hand. \"Weck mich bitte bei Sonnenaufgang. Ich will zeitig los, denn ich habe noch einen weiten Weg vor mir.\"
Zoltan nickte \"Kein Problem. Ich bin selbst immer schon früh aus den Federn\", aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der Wolf überhaupt nicht behagte. Etwas, das zu sagen schien, dass er überhaupt keinen Gedanken daran verschwendete, am nächsten Morgen einen Gast wecken zu müssen. Mit einem Mal schien Wolf der Gedanke an das warme, gemütliche Bett im Fremdenzimmer des Wirts gar nicht mehr so verlockend wie eben noch. Er warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster, wo die tosenden Naturgewalten ein eindrucksvolles Schauspiel veranstalteten. Wenn das Unwetter nicht gewesen wäre, hätten keine zehn Pferde ihn daran gehindert, sofort weiter zu ziehen und lieber im Wald zu campieren.
Wolf trank in aller Ruhe seinen Wein aus, beobachtete das Wetter und bestellte noch einmal nach. Während er seinen Blick über die Runde der Gäste schweifen ließ, fiel ihm auf, dass Morrigan ihn nicht aus den Augen ließ. Als er sie etwas länger ansah, lächelte sie ihm kokett zu und errötete leicht. Die anderen Gäste schienen es nicht zu bemerken. Auch schien keiner von ihnen bei diesem Unwetter Eile damit zu haben, die behagliche Wärme der Schankstube zu verlassen und den Heimweg anzutreten. Obwohl niemand, außer Morrigan, ihn weiter zu beachten schien, sträubten sich Wolfs Nackenhaare. Er kam sich beobachtet, belauert vor. Die Sonne war längst hinter den Hügeln untergegangen und der bleiche Vollmond begann langsam am Horizont zu erscheinen. Noch konnte man ihn nur gelegentlich zwischen im Sturmwind umhergetriebenen Wolkenfetzen hervorblitzen sehen, doch langsam aber sicher wanderten die Zeiger der großen Standuhr auf Mitternacht zu.
Morrigan warf ihm einen langen, tiefen Blick zu, der ihm bis ins Mark ging. Diese Frau wollte ihn, das merkte er genau. Und ohne, dass er etwas dagegen tun konnte, merkte Wolf, wie er langsam aufstand und zu Morrigans Tisch hinüberging. Er zog sich einen Stuhl heran und nahm direkt neben ihr Platz. Aus der Nähe war ihre verführerische Ausstrahlung noch viel größer. Wolf musste sich beherrschen, ihr nicht durch die Haare und über das zarte, engelhaft schöne Gesicht zu streichen.
Mehrere Minuten lang saßen sie nur schweigend nebeneinander und sahen sich wortlos an. Wolf griff nach ihrer zarten, feingliedrigen Hand und hielt sie fest. \"Du bist eine wunderschöne Frau, Morrigan. Auf meinen Reisen in ferne Länder habe ich viele Frauen gesehen, aber gegen dich verblasst ihre Schönheit wie eine Kerze gegen den strahlenden Schein der Sonne.\"
Morrigan lächelte geschmeichelt, beugte sich zu ihm hinüber und hauchte ihm ins Ohr \"Du gefällst mir auch, schöner Fremder. Interessante Männer wie du kommen selten hierher. Geh nachher auf dein Zimmer. Ich warte ein paar Minuten, dann komme ich unauffällig nach.\" Wieder lächelte sie, und Wolfs Herz schlug schneller. \"Du weißt, als Tochter des Bürgermeisters muss ich auf meinen Ruf achten. Glaub mir, diese Nacht wirst du nicht vergessen.\" Sie entzog ihm ihre Hand, stand auf und ging zu einem der Nachbartische, um sich lebhaft mit zwei jungen Bauernburschen zu unterhalten. Nichts in ihrem Verhalten deutete darauf hin, dass sie ihm noch vor wenigen Minuten die eindeutigsten Versprechungen gemacht hatte.
Wolf musste gegen widerstreitende Impulse kämpfen. Diese ganze Situation, der winzige Ort, verloren in einer öden Wildnis, alles kam ihm so unwirklich, seltsam vor. Und doch wollte er dies alles glauben. Er verzehrte sich geradezu vor Verlangen nach Morrigan, nach ihrem wunderschönen, makellosen Körper, nach ihrer Nähe, ihrem Duft. Er überlegte nur kurz, dann hatte er seine Entscheidung getroffen.
Er gähnte kurz, warf einen letzten Blick auf die Standuhr und nickte Zoltan zu. \"Es wird langsam spät. Ich werde jetzt zu Bett gehen, sonst komme ich morgen früh nicht aus den Federn.\"
Zoltan nickte zustimmend. \"Dein Zimmer ist die Treppe hinauf, gleich die erste Tür rechts vom Aufgang. Du kannst es nicht verfehlen.\"
\"Danke.\" Wolf trank den letzten Schluck Wein aus, dann ging er die Treppe hinauf und betrat das Zimmer, das Zoltan ihm genannt hatte. Der Wirt hatte nicht zuviel versprochen. Das Bett war frisch bezogen und sauber, ein schmiedeeisernes Ofenrohr, das aus dem Boden kam und oben in der Decke verschwand, sorgte für mollige, einlullende Wärme.
Wolf zog die Tür hinter sich ins Schloss und sah sich näher um. Durch das Sprossenfenster zuckte das Licht eines Blitzes und tauchte den Raum für Sekundenbruchteile in gleißende Helligkeit, bevor er verblasste und dem bleichen Licht des aufgehenden Vollmonds wich. Der Regen prasselte noch immer ohne Unterlass. Wolfs sechster Sinn, der ihn schon oft gewarnt hatte, versuchte mit Nachdruck, auf sich aufmerksam zu machen. Ja, nickte Wolf seinem Spiegelbild im regennassen Fenster zu, irgendetwas hier stimmte nicht. Und egal wie sehr er es sich wünschte, nicht daran glauben zu müssen, so zweifelte er doch nicht an der Stimme seines Unterbewußseins: Auch Morrigan hatte damit zu tun.
Ein einsamer, abgelegener Ort, weitab von der nächsten größeren Stadt... Wer wusste schon, womit die Bewohner von Lucanta ihren Lebensunterhalt verdienten? Ob es sich bei ihnen wirklich um harmlose Bauern handelte, oder um ... Schmuggler? Diebe? Wegelagerer?
Wolf grinste hart. Ja, das wäre möglich. Niemandem würde es auffallen, wenn ein Passant in diesem einsamen Ort auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Sein Geld wird unter allen Mitwissern verteilt, die Leiche in den undurchdringlichen Wäldern im Unterholz verscharrt, und schon ist die Falle wieder bereit für den nächsten harmlosen Trottel, der ahnungslos in dieses Spinnennetz stolpert. Er zweifelte nicht mehr daran, dass Morrigan vorhatte, sich ihm hinzugeben, um ihn dann, nachdem er eingeschlafen war, heimtückisch zu ermorden.
Nun, sie wussten alle noch nicht, dass er sie durchschaut hatte. Dennoch - die Gefahr war zwar erkannt, aber noch keineswegs gebannt. Wenn er tatsächlich Recht hatte, befand er sich in einem Ort voller Halsabschneider, die von der Ermordung und Ausplünderung harmloser Reisender lebten.
Er öffnete den alten, mit Schnitzereien verzierten Wandschrank und nahm zwei zusammengefaltete Decken. Dann schlug er die Bettdecke zurück und formte aus den Decken etwas, das von den Konturen her an einen menschlichen Körper erinnerte, der mit dem Rücken zur Tür in Seitenlage schlief. Es dauerte ein paar Minuten, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war und die Bettdecke wieder über seinen \'Doppelgänger\' breitete.
Die Zeit wurde langsam knapp. Er wusste nicht, wann Morrigan nachkommen würde. Also öffnete er das Fenster, stieg auf den schmalen, hölzernen Sims, der das obere Stockwerk des Gasthauses umspannte, und zog das Fenster wieder hinter sich zu. Der eisige Regen prasselte auf ihn herab, drang durch seine Kleidung und lief an seinem Körper hinab. In weiter Entfernung, irgendwo in den benachbarten Wäldern, heulte ein Wolf melancholisch den steigenden Mond an, der inzwischen ganz hinter den Hügeln hervorgekommen war.
Wolf zerquetschte einen fürchterlichen Fluch zwischen den Zähnen. Jetzt stand er doch noch mitten im Unwetter, nur wenige Zentimeter von einem warmen, gemütlichen Zimmer entfernt? Was war, wenn er sich irrte? Wenn die Bewohner von Lucanta ganz harmlose Leute waren? Wenn lediglich seine überreizten Nerven ihm einen bösen Streich spielten, indem sie ihn mit unheilvollen Vorahnungen quälten? Und wenn Morrigan tatsächlich nur ein wunderschönes junges Ding war, das eine Nacht mit ihm verbringen wollte? Er fluchte erneut und stellte fest, dass er schon kurz davor war, wieder ins Zimmer zurückzukehren und sich selbst einen überängstlichen Narren zu schelten, als er eine Bewegung an der Tür bemerkte.
Hastig bewegte er sich auf dem Sims zur Seite, so dass man ihn von innen nicht mehr sehen konnte, aber er noch vom Rand des Fensters aus alles überblicken konnte, was sich im Raum tat. Der Türgriff wurde niedergedrückt, die Tür öffnete sich einen Spalt weit, dann hörte die Bewegung auf.
Plötzlich, mit einem Schlag, flog die Tür auf und krachte gegen die Zimmerwand. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, wich sämtliche Farbe aus Wolfs Gesicht und er stöhnte erschüttert. Er hatte viele ferne Länder gesehen und auf vielen Schlachtfeldern gekämpft, aber dieser Anblick raubte sogar ihm seine unerschütterliche Ruhe. Es waren zwei große, graue Wölfe, die knurrend ins Zimmer hechteten und sich drohend vor dem Bett aufbauten. Doch irgendetwas an diesen Wölfen stimmte nicht und brachte die Alarmglocken in Wolfs Kopf zum Läuten. Dann sah er, was es war: Ihre Augen! Es waren keine Tieraugen, nein, diese Augen sahen sich mit bösartiger, menschlicher Intelligenz im Zimmer um.
Als die beiden Wölfe ihre Positionen bezogen hatten, betrat ein dritter Wolf das Zimmer. Ein weißer, schlanker Wolf, mit so intensiv grünen Augen, dass sie geradezu von innen zu leuchten schienen. Hoheitsvoll trat sie zwischen den beiden anderen Wölfen hindurch, um sich dann mit einem Satz auf die zusammengerollte Gestalt im Bett zu stürzen.
Wolf wartete nicht länger. Er drehte sich um, um die knapp drei Meter bis zum Boden hinab zu springen, als er die Meute sah. Fünf Wölfe lauerten, zu einem Halbkreis aufgereiht, auf ihr Opfer.
Wolf warf einen Blick nach oben. Der Dachsims! Er würde sich hochziehen, und dann über die Dächer entkommen. Die verdammten Wölfe konnten ja nicht überall sein. Wolf ging in die Knie, spannte seine Muskeln an und sprang. Mit ausgestreckten Armen griff er nach dem Dachüberstand und bekam ihn mit den Fingerspitzen zu fassen. Langsam zog er sich hoch, Zentimeter um Zentimeter. Doch dann brach das Holz und Wolf stürzte mit einem überraschten Aufschrei hinab in den vom Regen aufgeweichten Boden, mitten in die Wolfsmeute.
Er rollte sich über die Schulter ab und noch bevor er wieder ganz auf den Beinen war, hatte er auch schon sein Kurzschwert aus dem Gürtel gerissen. Seine Erfahrung, die er in Dutzenden von Schlachten erworben hatte, zahlte sich aus. Dem ersten Wolf, der sich mit einem heiseren Knurren auf ihn stürzte, spaltete er mit einem mörderischen Schlag den Schädel bis zum Kiefer und schleuderte den blutenden Kadaver in den aufgewühlten Schlamm.
Die anderen Wölfe ließen sich davon nicht abschrecken. Sie wechselten einen kurzen Blick, nickten sich zu und griffen dann gleichzeitig an. Wolf ging in die Knie, stieß sich ab und sprang mit einem Salto über die heranstürmende Meute hinweg. Bevor sie auf dem nassen, glitschigen Boden wenden konnten, hatte Wolf auch schon einen von ihnen am Schwanz gepackt, zog ihn heran und zerschmetterte ihm mit einem Schwerthieb das Rückgrat. Der Wolf brach heulend und zuckend zusammen, konnte sich aber nicht mehr bewegen.
Die anderen Wölfe wurden nun vorsichtiger. Sie umkreisten ihr Opfer, ruhig, lauernd, warteten auf eine Schwäche in seiner Deckung, um ihm an die Kehle gehen zu können.
Wolf ließ sein Schwert in der Hand kreisen und achtete darauf, keinen der Wölfe auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. In was für ein Höllennest war er da nur geraten! Ein ganzes, verdammtes Dorf voller Werwölfe! Jetzt konnte er ihre amüsierten Blicke deuten, als sie seinen Namen gehört hatten. Sie waren die wahren Wölfe, geschickte, grausame Jäger mit tödlicher Intelligenz. Wolf merkte genau, dass sie ihn bewachten, ihn nicht von der Stelle ließen. Er stand im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand. Es war klar, dass sie nur auf Verstärkung warteten, um ihm endgültig den Garaus machen zu können, und Wolf war Realist genug, um zu wissen, dass sie damit Erfolg haben würden. Es waren einfach zu viele. Er konnte nur versuchen, noch möglichst viele dieser Höllenbrut mitzunehmen, bevor sie ihn zerrissen.
Wolf grinste unfroh. Als Krieger war er mit der Gewissheit aufgewachsen, dass es nicht sein Schicksal sein würde, als alter Mann friedlich in seinem Bett zu sterben. So konnte er wenigstens den Göttern danken, dass sie ihm die Gelegenheit gegeben hatten, wie ein wahrer Mann im Kampf zu sterben und sich seinen Platz an der Seite der Götter zu verdienen.
Ein Blitz zuckte ganz in der Nähe vom Himmel und warf einen gewaltigen, zottigen Schatten auf die vom Regen aufgewühlte Straße. Wolf sah auf und merkte, wie eisige Kälte sein Rückgrat hinauf kroch. Wenige Meter von ihm entfernt stand der größte Wolf, den er jemals gesehen hatte. Es war ein wahrer Goliath, größer, als es ein normaler Wolf jemals hätte werden können. Mit einer Schulterhöhe von fast fünf Fuß und seinem zottigen, schwarzen Fell wirkte er wie ein Sendbote aus dem Mittelpunkt der Hölle. Neben ihm stand Morrigan, die weiße Wölfin. Es war klar, dass sie die Gefährtin dieses Leitwolfs war. Neben ihm wirkte sie winzig und verloren, wie ein Kätzchen neben einem ausgewachsenen Tiger.
\"Komm her!\" herrschte er den Riesenwolf an. \"Komm her und hol mich, wenn du den Mut hast! Ich habe bereits zwei deiner jämmerlichen Kreaturen getötet und ich werde auch dich erledigen!\"
Der Riesenwolf grinste und entblößte zwei Reihen fingerlanger, nadelspitzer Reißzähne. \"Du träumst, du erbärmlicher kleiner Mensch. Glaubst du im Ernst, dass du mich mit deinem jämmerlichen kleinen Schwert da besiegen kannst? Du könntest damit nicht einmal mein Fell durchdringen. Ich weiß, du willst mich provozieren, damit ich dich direkt töte. Aber ich werde dich am Leben lassen. Du wirst bei uns bleiben, in Lucanta, als einer von uns. Für alle Ewigkeit...\"
\"Eher töte ich mich selbst\", knurrte Wolf wütend. \"Wer zur Hölle bist du? Oder - was zur Hölle bist du?\"
Die Bestie lachte hallend. \"Willst du das wirklich wissen? Nun gut, dein letzter Wunsch soll dir gewährt werden!\" Inmitten der jetzt im Abstand von wenigen Sekunden herabzuckenden Blitze richtete das Monstrum sich auf die Hinterläufe auf. Eine grauenvolle Verwandlung ging mit ihm vor. Als das Zucken der Blitze verebbte, stand ein riesenhafter, hagerer Mann neben Morrigan. \"Ich bin Ashred, Lord der Nacht.\"
Ashred breitete die Arme aus und deutete auf die Wölfe, die inzwischen zu Dutzenden aus den Seitenstraßen strömten und sich um ihren Meister sammelten. \"Dies alles sind meine Geschöpfe. Viele von ihnen habe ich selbst geschaffen, andere wurden durch einen Biss von ihnen in unsere große Familie aufgenommen. Auch du wirst bald dazu gehören. Sträube dich nicht, es ist gar nicht schlimm - im Gegenteil. Du wirst erleben, was wahre Macht bedeutet: Ewiges Leben. Ewige Jugend. Und die wahren, unverfälschten Instinkte der Natur. Wir sind die Dunkelheit, und die Dunkelheit wird immer siegen.\"
\"Dann bist also du es, bei dem die Blutlinie aller dieser Werwölfe zusammenläuft?\" fragte Wolf.
\"Werwölfe!\" Ashred spuckte das Wort geradezu aus, als handle es sich dabei um eine Obszönität. \"Sie sind die Kinder der Nacht. Und ihre Zahl wächst ständig. Der Tag wird kommen, an dem unsere Zahl groß genug ist, um das degenerierte Menschengezücht vom Antlitz der Erde zu tilgen.\"
\"Ich glaube, du wirst diesen Tag nicht mehr erleben\", schüttelte Wolf den Kopf. Lautlos ließ er den Griff des schweren Jagdmessers, das er im Ärmel trug, in seine Hand gleiten.
\"So?\", höhnte Ashred. \"Sogar du wirst ihn noch erleben - an unserer Seite!\"
\"Das glaube ich nicht!\" zischte Wolf und schleuderte den Dolch mit aller Kraft. Die Klinge traf Ashred direkt zwischen die Augen und drang bis zum Heft in seine Stirn ein. Der Lord der Nacht zuckte zusammen, seine Hand wanderte hoch zur Stirn und fühlte nach der versilberten Klinge, die ihm plötzlich wie ein Horn aus der Stirn ragte. Im gleichen Moment begann sein Körper zu rauchen, als ob er innerlich verbrenne. Ashred taumelte, seiner Kehle entrang sich ein fürchterlicher, nicht mehr menschlich klingender Schrei. Dann brach er zusammen, wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hat, und blieb rauchend im Schlamm liegen, wo er sich langsam auflöste.
Wolf sah sich hastig um. Er hatte völlig die anderen Wölfe vergessen. Doch sie stellten keine Gefahr mehr für ihn da. Taumelnd schleppten sie sich hin und her, um schließlich zuckend zusammenzubrechen. Die Blutlinie war gebrochen. Mit Ashreds Tod hatte der Fluch ein Ende gefunden.
Wolf brauchte einige Sekunden, bis er die zweite Veränderung bemerkte. Das Unwetter hatte sich verzogen, es hatte aufgehört zu regnen, und ein aufkommender, reinigender Wind blies die letzten düsteren Gewitterwolken vom Antlitz des Mondes weg.
Wolf ließ seinen Blick über die ehemaligen Wölfe wandern, die langsam wieder ihre menschliche Gestalt annahmen. Er entdeckte auch Morrigan. Ihre alte, runzlige Gestalt lag, von ihrem langen, wallenden weißblonden Haar umrahmt, im Schlamm neben Ashreds Leichnam, von dem inzwischen nur noch ein bleiches Gerippe in einer düsteren Kutte übrig geblieben war.
Wolf fragte sich traurig, wie viele Jahre sie unter dem Fluch gelebt hatte, der sie mit ewiger Jugend versorgt hatte. Die meisten anderen Werwölfe hatten ihre Rückverwandlung ebenfalls nicht lebend überstanden. Im Augenblick ihrer Rückverwandlung zeigte sich ihr wahres Alter, und lockte Gevatter Tod auf den Plan.
Hier und da lagen noch einige von ihnen halb besinnungslos im Schlamm. Wenn sie wieder zu sich kamen, war der Fluch für sie Vergangenheit. Wie sie mit der Erinnerung zurechtkamen, war eine andere Sache. Doch es war nicht Wolfs Angelegenheit, sich darum Gedanken zu machen.
Er wischte sein Schwert ab, zog seinen silbernen Dolch aus Ashreds skelettiertem Schädel und machte sich auf den Weg. Er sah nicht zurück, als er das Dorf der Verlorenen endgültig hinter sich ließ...
 

Andreas E

Mitglied
Hallo Richard,

deine kleine Geschíchte gefällt mir wirklich gut. Du hast mit schönen und präzise gesetzten Worten ein stimmiges Ganzes geschaffen, das durchaus überzeugen kann. Gerade in der Detailbeschreibung der Handlungsorte liegen die Stärken in deiner Ausdrucksweise. Ich fand nur schade, das der Obewolf am Ende relativ unspektakulär sein Leben ausgehaucht hat. Man sollte doch meinen, dass jemand, der in der Lage ist zig Menschen über Jahre hinweg in seinem dämonsichen Bann zu halten, sich nicht einfach so ein Messer in den Kopf werfen läßt.
Aber im Großen und Ganzen doch sehr schön und vor allem technisch auf einem hohen Niveau, wie ich finde.
 



 
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