LISA IM KLEID

Lisa tänzelt über die Wiese. Sie trägt ein Sommerkleid. Wir sind in den Fünfzigern. Schon gibt es ein Haus, einen Garten, einen Swimming-Pool, eine Teppichstange und einen Beeren-Dschungel. Auch eine Waschküche gibt es und lange Staubsaugerfahrten hinter der Glasfront. Im weiträumigen Keller können die Kinder mindestens zweimal die Woche unbeobachtet beklemmend aufregenden Doktorspielen nachgeben. Wäscheklammern, die zwicken, gibt es in Hülle und Fülle. Das war Lisas Einfall gewesen und darf nur bei Martina, der gleichaltrigen Freundin von gegenüber, geschehen.

Lisas Mutter ist oft fröhlich, aber auch ungeduldig. Im Gegensatz zu Martinas Mutter ist sie berufstätig, als Sachbearbeiterin beim Jugendamt. Jetzt ist Oma da, die mit ihrem Mundwerk andere Frauen gern von ihren häuslichen Pflichten abhält. Ihre Enkelin ist, von gelegentlichen Wutausbrüchen abgesehen, ein ruhige und williges Kind. Kurz: ein braves Mädchen. In einer sauberen Familie. Obwohl der Vater nur ein Arbeiter ist, hat sich die Familie doch langsam und stetig ihrer akademisch begrünten Umgebung angepaßt. Oft gibt es Kaffee und Kuchen, Nesquick und Schokolade, organisierte Kindergeburtstage mit Sonntagskleidern, Luftschlangen, "Blinde Kuh", "Topfschlagen" und nicht ganz versehentlichen "Kitzelschauern". Auch ein Fernsehgerät ist vorhanden, das mit Werbung, "Rin-tin-tin" und "Lassie" Lisa bis in's zwölfte Lebensjahr begleitet. So IST DIE FAMILIE EINE FAMILIE. Und funktioniert bis in den kleinsten Winkel. Großen Wert wird zum Beispiel auf anständigen Umgang gelegt. Das betrifft nicht nur Lisas willkommene oder vollkommen abgelehnte Freundschaften, sondern auch das Vermeiden jeglichen "Jargons". Das Auftreten einer Fäkalsprache zum Beispiel würde in diesem Hause unvorstellbare Explosionen, angefeuert von der Mutter, hervorrufen. Jargon kann es von ihr aus bei den Halbstarken im Kino geben. Bei denen, die ohne Führung sind, in Baracken hausen und Rabeneltern haben, die anstatt zu arbeiten, dem Alkohol verfallen sind. Oder bei den Zigeunern. Aber die hat es eh nur vor mehr als hundert Jahren gegeben, als alles noch Wildnis war und die Mädchen keine Kleider auf dem Leib trugen. Weil das so Sitte ist bei den schwarzlockigen Mädchenfressern. Hat Oma gesagt. Und die muß es schließlich auch wissen.

Lisa steht auf der Treppe und läßt sich fotografieren. Sie lächelt und schaut adrett aus in dem Kleid, das weiß ist und große, gelbe Tupfen hat. Aber in Wirklichkeit ist das gelogen. Das sind nämlich die Kleckse der Margeriten, die sich in der Sonne aufblähen, verrutschen, sich gegenseitig anstoßen, zu übertrumpfen suchen, weil jede als erste in's Bild möchte. - Halt, du drängst dich nicht vor! . Und schon ist die Hand darüber, drückt die eitle Ungeduldige zurück in die Falte, und das Kind achtet von nun an sorgfältiger auf die anderen und denkt: Hoffentlich hat es keiner gemerkt... - Das Kleid hat Mama genäht. Was eine richtige Frau ist, die schneidert selbst." Das haben sie in der Zeitung gelesen, von einer, die es wissen muß. "Was die Kinder heute alles aufschnappen." sagt die fremde Frau, die eigentlich Lisas Oma ist. Danach lächelt sie mit gespielter Verlegenheit in die Kaffeerunde, die aus sitzengelassenen Frauen besteht, deren Männer irgendwo und undurchsichtig für den Wohlstand sorgen; für das Glück ihres Rückgrates", wie eine Nachbarin mal spaßeshalber bemerkt haben will.

Aber davon versteht Lisa nichts. In ihrem Margeritenkleid, das unaufhörlich rutscht, sich aufbläht über dem frisch gemähten Gras wie ein Baldachin der Hölle, wo Zigeuner hausen, Halbstarke verhungern, Kaffeerunden flüstern, Rabeneltern saufen und - der Gardasee plätschert, davor Lisa "ihre Tage" bekommen wird. Das erste Mal: Ein roter Schwamm zwischen zwei welken Blüten, die nicht mehr aneinanderstoßen können, nie mehr, auf diesem selbstgeschneiderten Baldachin des stillen, totgetret'nen Lebens unter ihren Füßen.


(11.09.1987)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
alle achtung!

bin erschlagen von dieser starken geschichte. ist es erinnerung, ein traum oder ausgedacht? jedenfalls sehr gut erzählt, rundherum eine gute geschichte. ganz lieb grüßt
 
Einen wunderschönen guten Morgen, liebe Marion

- und danke für deine Antwort. Die Geschichte entstand zum größten Teil aus meinen Erinnerungen und Empfindungen (vorher/nachher) und aus einem kleinen Teil fiktiver "Assoziationen".

Es freut mich, daß sie dich angesprochen hat.

Mit liebem Gruß

Birgit
 

Chrissie

Mitglied
Toll!

Vor allem den surrealistischen 'Einschlag' am Ende finde ich höchst gelungen.
Die Welt, die nicht so ist, wie sie scheint...

Liebe Grüße
*Chrissie*
 
Ja, liebe Chrissie, die Welt ist wirklich nicht, wie sie scheint, ist immer surreal, denn was ist schon real - unser Hoffen und Streben etwa? Dann wär's ja auch schon wieder langweilig, eines unter vielen, niemals unser Eigenes. Das Kindsein vielleicht könnte etwas Reales in sich tragen, dann, wenn es noch unbeschadet bleibt - doch wie lange bleibt ein Kindsein unbeschadet, unbefrachtet von dem Hoffen und Streben Anderer, einfach frei im Sein? Nun andererseits hat das Surreale ja auch sein Gutes, wir können uns darin täuschend entfalten, Grenzen überschreiten, Rollen spielen, mal Komödie, mal Tragödie, wie es uns beliebt. Wir können aber auch darin selbstzerstörerisch untergehen und das wäre dann ein Drama im klassischen Sinne.

Ich wünsch dir weiterhin viel Kraft, noch mehr viel Liebe in deinem Tun und auch in deiner Zielrichtung.

Liebe Grüße

Birgit
 



 
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