Claus Thor
Mitglied
LAND´S END
VON
CLAUS THOR
Der Junge stand nahe an den Klippen von Lands End, während der Vater die großen starken Hände auf seinen schmalen Schultern liegen hatte, und blickte in den tosenden Atlantik. Dort wo sich, am westlichsten Zipfel Großbritanniens, die Felsen mehr als hundert Meter tief ins Meer stürzten.
Er drehte sich um und sah seinem Vater direkt in die Augen. Achtsam hielten seine Kinderhände das Gefäß, sodass er es nicht fallen lassen würde. Tränen befeuchteten sein zartes Gesicht. Er schniefte. Auch des Vaters Augen waren von Tränen gerötet. Dann fragte das Kind: “Soll ich jetzt den Deckel öffnen, Papa, und die Asche ausschütten?“ Dem großen Mann entrann ein stockendes Ja.
Das feine grauweiße Pulver ließ sich vom Winde, in länglichen Schlieren, über die wilde Küste tragen. Sie standen noch lange da, die Blicke auf das tiefblaue Meer gerichtet in dem die Überreste einer einstmals schönen und lebensfrohen Frau und liebevollen Mutter versanken.
„Sie liebte diesen Landstrich, sie hätte es so gewollt!“ Die Worte des Vaters hallten in ihm und vermischten sich mit dem Rauschen und Brechen der Wellen.
Dieses Ereignis lag nun mehr als fünfzehn Jahre zurück und doch wollte die Schwermut, die seit dem auf Franks Seele lastete, nicht weichen. Frank wurde Schriftsteller, mit großem Erfolg, was einige seiner Preise und Auszeichnungen eindrucksvoll bestätigten und über die er gar nicht gerne sprach. Er reiste durch die Welt und nirgends hielt es ihn lange am Ort. Frank wohnte stets abseits des Trubels; wenn er dann abends, im Mietzimmer, auf dem Bett lag und die Decke anstarrte, fiel aller Stress seiner Lesungen und Vorträge und Autogrammstunden und der ganze Trubel um seine Person, von ihm ab.
Wenn er an einem Buch schrieb, mietete er sich ein Haus oder eine Hütte, möglichst einsam und fernab von Menschen. Frank mochte es allein und zurückgezogen zu leben, und so entstanden die Meisten seiner Bestseller.
Für eine Vorlesungsreihe durch Großbritannien kam er auch nach Canterbury und die Ereignisse von damals stürzten auf ihn ein. Um dies zu verarbeiten, fuhr er wieder auf der kurvenreichen Landstraße zwischen den grünen Hügeln entlang, auf dem er mit seinen Eltern schon sooft gereist war, zu den Sehenswürdigkeiten dieser Küste. Mit ihnen hatte er die Steinkreise von Stonehenge gesehen, die seit mehr als Viertausendachthundert Jahren dort standen und immer noch Rätsel aufgaben. Die Türme der gotischen Kathedrale in Canterbury. Und wie einst seine Mutter liebte er das mediterrane Flair der Region. Die durch den Golfstrom bedingte milde Temperatur ließ vielerorts Palmen sich über den Strand beugen. In Shaftsbury kam er in einer Privatpension unter.
Der junge Mann war früh auf den Beinen und genoss trotzdem ein reichhaltiges Frühstück. Während er aß, machte er sich Notizen. Eine Disziplin die man als Autor beherzigte um später darauf zurückgreifen. Man glaubt es kaum, was alles in Vergessenheit gelangt. Er blickte nur einmal kurz auf und sah eine junge Frau frühstückend am Tisch, einen Fensterplatz gegenüber, und es schien ihm, dass sie ihn beobachtete. Sie lächelte verlegen und nahm einen Schluck aus der Teetasse, welche sie so hielt, als wolle sie ihre Hände daran wärmen.
Frank gab ihr ein freundliches Lächeln zurück und sagte: “Guten Morgen, wie ich sehe, sind sie auch Frühaufsteher.“
Es dauerte eine kleine Weile, bis die junge Frau antwortete. „Guten Morgen.“ Es klang verlegen. Frank schien es, als sei sie es nicht gewohnt mit Fremden zu reden, dennoch sagte sie: “Sie sind sicher auf der Durchreise – stimmst?“
„Ja, sie haben recht. Sieht’s man mir an?“
„Nun – ich kenne so ziemlich jeden im Dorf, und sie sind fremd.“ Die Frau begann jetzt kampflustig zu werden, denn es kam etwas bissig rüber. „Dazu noch Deutscher ...“
„Ich bin nicht als Tourist unterwegs. Deutsch – nur halb, meine Mutter kam aus Brighton, mit ihren Eltern hatte sie in Braunschweig gelebt, aus der mein Vater stammt.“
Frank stand auf, die Tasse Tee in der Hand, und schritt hinüber zur ihr. „Sie erlauben - ich darf mich doch zu ihnen an den Tisch setzen, oder ...? So unterhält es sich leichter.“
Er setzte sein gewinnbringendes Lächeln auf, mit dem er schon so manches Eis zum Schmelzen gebracht hatte. „Mein Name ist Frank Bowers.“
Sie stellte sich als Ann McPherson vor und war die Lehrerin im Ort. Man war es gewohnt von ihr, dass sie im Golden Hill, wie die Pension hieß, frühstückte. Für die Kinder, welche sie unterrichtete, hatte sie immer ein offenes Ohr, war aber im Allgemeinen sehr verschlossen und zurückgezogen. Ein guter Beobachter hätte bemerkt, wie unwohl sich Ann fühlte, als Frank Platz genommen hatte. Doch es faszinierte sie, einen Schriftsteller kennenzulernen, dessen Bestsellerromane sie gelesen hatte. Ann las gern und viel, man könnte behaupten: Bücher waren ihre Welt.
„Ich habe einige ihrer Bücher gelesen ...“
Frank räusperte sich. Bevor er antwortete, und ihr dabei tief in die Augen blickte, und das verlegende Blinzeln richtig deutete: ja, er, Frank Bowers, gefiel der Lehrerin gut – und er musste es sich eingestehen – ihm erging es nicht anders.
„Hoffentlich waren sie nicht allzu langweilig.“
Ann lächelte.
Nach dem Frühstück entschlossen sie sich, noch gemeinsam spa-zieren zu gehen.
Vorbei, an liebevoll restaurierte Häuser, gingen sie die schmale gepflasterte Straße abwärts, vertieft im Gespräch über Literatur, Persönliches und Liebe. Man stellte viel Gemeinsames fest, war aber auf das Wahren der Zurückhaltung bedacht, um sich näher zukommen.
Als Frank Ann fragte, ob sie vielleicht Lust hätte, einen Tagesausflug nach Lands End mit ihm zu machen, willigte sie spontan ein, obwohl es nicht ihrer Art entsprach. Aber bei Frank hatte die Lehrerin ein gutes und sicheres Gefühl.
Während der Triumph Spitfire mit ihnen durch das Dartmoor fuhr, eine verträumte, leicht hügelige Heide – und Moorlandschaft. Vorbei an Dartmouth, dem kleinen Fischerort. Erzählte Ann wie angetan sie war, als sie zum ersten Mal die Kathedrale von Canterbury sah. Für die Anglikanerin war das Gotteshaus ebenso bedeutend wie für die Katholiken der Petersdom in Rom. Ann fühlte sich wohl neben Frank und das löste in ihr den Knoten, sodass sie ihn mit ihrem Redeschwall überflutete, aber er ertrank nicht in den Fluten, sondern badete in ihren Wellen und sie nahmen Frank mit in die Vergangenheit. So sah er sich zurückversetzt in jene Zeit, als seine Mom noch so redete, während Dad fuhr. Und Ann berichtete, genau, wie ehemals seine Mom es zu tun pflegte, dass dieser Ort so gut an der Küste versteckt gewesen sei, dass vor achthundert Jahren, die gerissenen Seebären Probleme hatten, den Hafen zu finden, eine richtige Piratenbucht.
Sie fuhren schließlich die britische Riviera entlang. Das romantische Küstenstädtchen Looe, das sich an die Steilküste schmiegte, tauchte auf.
Frank erzählte von seiner Schulzeit, von dem Wirrwarr der engen Gassen der Altstadt in Brighton und den lauschigen Plätzen, die zum Verweilen einluden. Er erzählte weiter, wie glücklich er mit seinen Eltern dort lebte. Dort, nachdem er Ann gestanden hatte, nie eine Frau wie sie kennengelernt zu haben, mit ihr auf dem Palace Pier zu flanieren, wie zu der Zeit damals, da er glücklicher war wie nie, wäre jetzt in diesem Augenblick das Größte.
Und jetzt genau hier in dem engen Font des Sportwagens, als vom Straßenrand aus Schafe über den Asphalt trippelten und sie an blökten und in ihren Autoscheinwerfer glotzten, beugte sich Ann zu Frank und gab ihn einen Kuss auf die Wange. Aber im gleichen Moment schämte sie sich für diesen Gefühlsausbruch und ihr Gesicht lief rot an. Es hatte sie so plötzlich und unerwartet übermannt.
Zwei Stunden später standen sie an den spektakulären Klippen von Lands End. Frank erzählte Ann die Geschichte seiner Mutter und wie er ihre Asche in das Meer geschüttet hatte. Sein Gesicht wirkte versteinerte und er wusste, dass er nicht mehr weinen konnte, denn zu viele Tränen hatte er deswegen schon vergossen, sodass er jetzt keine Tränen mehr hatte. Und Ann sah, wie er mit seinem Leid kämpfte, und es wurde ihr ganz übel von dem, was sie noch nicht wagte, ihm zu erzählen. Sie umarmte ihn. Dann standen sie da, eng umschlungen, vor dem beeindruckenden Bild eines tosenden Atlan-tik und ihre Gefühle schienen sie zu zerreißen. Ann löste sich aus dem Griff von Frank und rannte – weg von ihm – von seiner Liebe und seiner Leidenschaft. Er holte sie ein und hielt sie am Arm und drehte sie zu sich, und sie sagte, mit von Tränen erstickender Stimme: oh, Frank – Frank. Ich kann nicht ...“
„Was kannst du nicht?“ fragte er aufgewühlt.
„Wir dürfen uns – nein, du darfst dich nicht in mich verlieben.“ Sie wirkte verzweifelt, und Frank wusste nicht, was mit ihr geschah, und was er tun könnte. Er sah sie aus seinen weit aufgerissenen Augen an, unfähig zu verstehen.
„Ich – ich habe so lange auf dich ... auf jemanden wie dich gewar-tet; da ich dich jetzt – gefunden habe, möchte ich dich nicht wieder verlieren!“
Frank merkte nicht, dass er laut schrie, und sie fest, zu fest am Arm hielt, sodass Anne vor Schmerz stöhnte. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu entwinden, aber es gelang ihr nicht.
„Oh, Frank“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Ich liebe dich auch. Vom ersten Augenblick an, als ich dich im Golden Hill sah und wir miteinander redeten, wusste ich, dass du der Richtige wärest, aber ...“
Mit einem Ruck riss sie sich los und stürzte. Sie schlug sich das Knie, auf dem Schotterweg, blutig und weinte. Frank war bei ihr und hielt sie. Er wickelte ein Taschentuch um ihr verletztes Knie. Dann schaute er ihr in die Augen und sagte:“ aber wir können es nicht mehr rückgängig machen. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Lass es uns wenigstens versuchen!“
Annes Blick wurde ganz traurig, und Frank schluckte, er spürte, dass jetzt die große Wahrheit kam. Einmal im Leben kam immer der Augenblick dieser Wahrheit und so etwas würde ein – nein, zwei Leben verändern.
„Frank Bowers ich kann und darf dich nicht lieben.“ Sie zitterte am ganzen Leib und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. „Unsere Liebe hätte keine Zukunft. Du ahnst nicht, wie nah wir schon dem Ende sind, noch bevor es einen richtigen Anfang gibt. Und glaub mir, nachdem ich dein Leid gespürt habe, wäre es nicht fair.“
„Was – was redest du? Ich kann dich nicht verstehen.“ Er presste seine Lippen, auf die ihren, aber sie drückte, ihn von sich.
Und während die letzten Strahlen der Sonne die schroffe Felsenlandschaft blutrot färbte, sah sie Frank direkt in die Augen und sagte: „Ich – Frank – ich werde sterben.“ Anne machte eine kleine Pause, als würde das Schweigen die Last der Bedeutung ihrer Worte anders gewichtet und es ertragbarer machen für ihn. Dann, als Frank nichts sagte oder nichts sagen wollte, fuhr sie fort: „Man gibt mir noch drei – höchstens sechs Monate ...“
Hinter Franks Stirn schien es heftig zu arbeiten, denn er ließ einige Falten entstehen und wieder vergehen. Er wirkte etwas blass um die Nase, mit so was hatte er wohl nicht gerechnet, ausgerechnet jetzt, wo es aussah, als könne er wieder glücklich werden.
„Okay“, sagte er dann, strich eine Haarsträhne von der Stirn und nahm sie in den Arm und küsste sie, warm und herzlich. „Bestenfalls sechs Monate. Gut. Es sollen die Schönsten werden in unserem Leben, dass schwör ich die, Liebes.“ Und er drückte sie an sich mit Kraft, so als wolle er sie nie mehr hergeben. Mit seiner Entschlossenheit steckte er Anne an und ließ all ihre Bedenken davon fliegen.
Dies lag jetzt zehn Monate hinter ihm. Er hatte sein Versprechen war gemacht und unvergessene Zeiten beschert, in denen zwei Menschen nicht glücklicher hätten seien können.
Etwa hundert Meter tief vor ihm brandeten die Wellen des mächtigen Atlantiks, schwarz und tosend. Er ließ die Asche aus der Urne fließen und spürte die starken Hände seines Vaters auf seine Schultern. Sein alter Herr räusperte sich und sagte:“ Gott legt jeden die Bürde auf, die der jenige auch tragen kann – nicht mehr, mein Sohn. Aber dich traf es hart und ich wüsste nicht, ob ich dieses Leid hätte tragen können.“
Und während der Wind die Asche mit sich trug, sagte Frank voller Stolz: „Anne, ich werde dich immer lieben.“
Ende
VON
CLAUS THOR
Der Junge stand nahe an den Klippen von Lands End, während der Vater die großen starken Hände auf seinen schmalen Schultern liegen hatte, und blickte in den tosenden Atlantik. Dort wo sich, am westlichsten Zipfel Großbritanniens, die Felsen mehr als hundert Meter tief ins Meer stürzten.
Er drehte sich um und sah seinem Vater direkt in die Augen. Achtsam hielten seine Kinderhände das Gefäß, sodass er es nicht fallen lassen würde. Tränen befeuchteten sein zartes Gesicht. Er schniefte. Auch des Vaters Augen waren von Tränen gerötet. Dann fragte das Kind: “Soll ich jetzt den Deckel öffnen, Papa, und die Asche ausschütten?“ Dem großen Mann entrann ein stockendes Ja.
Das feine grauweiße Pulver ließ sich vom Winde, in länglichen Schlieren, über die wilde Küste tragen. Sie standen noch lange da, die Blicke auf das tiefblaue Meer gerichtet in dem die Überreste einer einstmals schönen und lebensfrohen Frau und liebevollen Mutter versanken.
„Sie liebte diesen Landstrich, sie hätte es so gewollt!“ Die Worte des Vaters hallten in ihm und vermischten sich mit dem Rauschen und Brechen der Wellen.
Dieses Ereignis lag nun mehr als fünfzehn Jahre zurück und doch wollte die Schwermut, die seit dem auf Franks Seele lastete, nicht weichen. Frank wurde Schriftsteller, mit großem Erfolg, was einige seiner Preise und Auszeichnungen eindrucksvoll bestätigten und über die er gar nicht gerne sprach. Er reiste durch die Welt und nirgends hielt es ihn lange am Ort. Frank wohnte stets abseits des Trubels; wenn er dann abends, im Mietzimmer, auf dem Bett lag und die Decke anstarrte, fiel aller Stress seiner Lesungen und Vorträge und Autogrammstunden und der ganze Trubel um seine Person, von ihm ab.
Wenn er an einem Buch schrieb, mietete er sich ein Haus oder eine Hütte, möglichst einsam und fernab von Menschen. Frank mochte es allein und zurückgezogen zu leben, und so entstanden die Meisten seiner Bestseller.
Für eine Vorlesungsreihe durch Großbritannien kam er auch nach Canterbury und die Ereignisse von damals stürzten auf ihn ein. Um dies zu verarbeiten, fuhr er wieder auf der kurvenreichen Landstraße zwischen den grünen Hügeln entlang, auf dem er mit seinen Eltern schon sooft gereist war, zu den Sehenswürdigkeiten dieser Küste. Mit ihnen hatte er die Steinkreise von Stonehenge gesehen, die seit mehr als Viertausendachthundert Jahren dort standen und immer noch Rätsel aufgaben. Die Türme der gotischen Kathedrale in Canterbury. Und wie einst seine Mutter liebte er das mediterrane Flair der Region. Die durch den Golfstrom bedingte milde Temperatur ließ vielerorts Palmen sich über den Strand beugen. In Shaftsbury kam er in einer Privatpension unter.
Der junge Mann war früh auf den Beinen und genoss trotzdem ein reichhaltiges Frühstück. Während er aß, machte er sich Notizen. Eine Disziplin die man als Autor beherzigte um später darauf zurückgreifen. Man glaubt es kaum, was alles in Vergessenheit gelangt. Er blickte nur einmal kurz auf und sah eine junge Frau frühstückend am Tisch, einen Fensterplatz gegenüber, und es schien ihm, dass sie ihn beobachtete. Sie lächelte verlegen und nahm einen Schluck aus der Teetasse, welche sie so hielt, als wolle sie ihre Hände daran wärmen.
Frank gab ihr ein freundliches Lächeln zurück und sagte: “Guten Morgen, wie ich sehe, sind sie auch Frühaufsteher.“
Es dauerte eine kleine Weile, bis die junge Frau antwortete. „Guten Morgen.“ Es klang verlegen. Frank schien es, als sei sie es nicht gewohnt mit Fremden zu reden, dennoch sagte sie: “Sie sind sicher auf der Durchreise – stimmst?“
„Ja, sie haben recht. Sieht’s man mir an?“
„Nun – ich kenne so ziemlich jeden im Dorf, und sie sind fremd.“ Die Frau begann jetzt kampflustig zu werden, denn es kam etwas bissig rüber. „Dazu noch Deutscher ...“
„Ich bin nicht als Tourist unterwegs. Deutsch – nur halb, meine Mutter kam aus Brighton, mit ihren Eltern hatte sie in Braunschweig gelebt, aus der mein Vater stammt.“
Frank stand auf, die Tasse Tee in der Hand, und schritt hinüber zur ihr. „Sie erlauben - ich darf mich doch zu ihnen an den Tisch setzen, oder ...? So unterhält es sich leichter.“
Er setzte sein gewinnbringendes Lächeln auf, mit dem er schon so manches Eis zum Schmelzen gebracht hatte. „Mein Name ist Frank Bowers.“
Sie stellte sich als Ann McPherson vor und war die Lehrerin im Ort. Man war es gewohnt von ihr, dass sie im Golden Hill, wie die Pension hieß, frühstückte. Für die Kinder, welche sie unterrichtete, hatte sie immer ein offenes Ohr, war aber im Allgemeinen sehr verschlossen und zurückgezogen. Ein guter Beobachter hätte bemerkt, wie unwohl sich Ann fühlte, als Frank Platz genommen hatte. Doch es faszinierte sie, einen Schriftsteller kennenzulernen, dessen Bestsellerromane sie gelesen hatte. Ann las gern und viel, man könnte behaupten: Bücher waren ihre Welt.
„Ich habe einige ihrer Bücher gelesen ...“
Frank räusperte sich. Bevor er antwortete, und ihr dabei tief in die Augen blickte, und das verlegende Blinzeln richtig deutete: ja, er, Frank Bowers, gefiel der Lehrerin gut – und er musste es sich eingestehen – ihm erging es nicht anders.
„Hoffentlich waren sie nicht allzu langweilig.“
Ann lächelte.
Nach dem Frühstück entschlossen sie sich, noch gemeinsam spa-zieren zu gehen.
Vorbei, an liebevoll restaurierte Häuser, gingen sie die schmale gepflasterte Straße abwärts, vertieft im Gespräch über Literatur, Persönliches und Liebe. Man stellte viel Gemeinsames fest, war aber auf das Wahren der Zurückhaltung bedacht, um sich näher zukommen.
Als Frank Ann fragte, ob sie vielleicht Lust hätte, einen Tagesausflug nach Lands End mit ihm zu machen, willigte sie spontan ein, obwohl es nicht ihrer Art entsprach. Aber bei Frank hatte die Lehrerin ein gutes und sicheres Gefühl.
Während der Triumph Spitfire mit ihnen durch das Dartmoor fuhr, eine verträumte, leicht hügelige Heide – und Moorlandschaft. Vorbei an Dartmouth, dem kleinen Fischerort. Erzählte Ann wie angetan sie war, als sie zum ersten Mal die Kathedrale von Canterbury sah. Für die Anglikanerin war das Gotteshaus ebenso bedeutend wie für die Katholiken der Petersdom in Rom. Ann fühlte sich wohl neben Frank und das löste in ihr den Knoten, sodass sie ihn mit ihrem Redeschwall überflutete, aber er ertrank nicht in den Fluten, sondern badete in ihren Wellen und sie nahmen Frank mit in die Vergangenheit. So sah er sich zurückversetzt in jene Zeit, als seine Mom noch so redete, während Dad fuhr. Und Ann berichtete, genau, wie ehemals seine Mom es zu tun pflegte, dass dieser Ort so gut an der Küste versteckt gewesen sei, dass vor achthundert Jahren, die gerissenen Seebären Probleme hatten, den Hafen zu finden, eine richtige Piratenbucht.
Sie fuhren schließlich die britische Riviera entlang. Das romantische Küstenstädtchen Looe, das sich an die Steilküste schmiegte, tauchte auf.
Frank erzählte von seiner Schulzeit, von dem Wirrwarr der engen Gassen der Altstadt in Brighton und den lauschigen Plätzen, die zum Verweilen einluden. Er erzählte weiter, wie glücklich er mit seinen Eltern dort lebte. Dort, nachdem er Ann gestanden hatte, nie eine Frau wie sie kennengelernt zu haben, mit ihr auf dem Palace Pier zu flanieren, wie zu der Zeit damals, da er glücklicher war wie nie, wäre jetzt in diesem Augenblick das Größte.
Und jetzt genau hier in dem engen Font des Sportwagens, als vom Straßenrand aus Schafe über den Asphalt trippelten und sie an blökten und in ihren Autoscheinwerfer glotzten, beugte sich Ann zu Frank und gab ihn einen Kuss auf die Wange. Aber im gleichen Moment schämte sie sich für diesen Gefühlsausbruch und ihr Gesicht lief rot an. Es hatte sie so plötzlich und unerwartet übermannt.
Zwei Stunden später standen sie an den spektakulären Klippen von Lands End. Frank erzählte Ann die Geschichte seiner Mutter und wie er ihre Asche in das Meer geschüttet hatte. Sein Gesicht wirkte versteinerte und er wusste, dass er nicht mehr weinen konnte, denn zu viele Tränen hatte er deswegen schon vergossen, sodass er jetzt keine Tränen mehr hatte. Und Ann sah, wie er mit seinem Leid kämpfte, und es wurde ihr ganz übel von dem, was sie noch nicht wagte, ihm zu erzählen. Sie umarmte ihn. Dann standen sie da, eng umschlungen, vor dem beeindruckenden Bild eines tosenden Atlan-tik und ihre Gefühle schienen sie zu zerreißen. Ann löste sich aus dem Griff von Frank und rannte – weg von ihm – von seiner Liebe und seiner Leidenschaft. Er holte sie ein und hielt sie am Arm und drehte sie zu sich, und sie sagte, mit von Tränen erstickender Stimme: oh, Frank – Frank. Ich kann nicht ...“
„Was kannst du nicht?“ fragte er aufgewühlt.
„Wir dürfen uns – nein, du darfst dich nicht in mich verlieben.“ Sie wirkte verzweifelt, und Frank wusste nicht, was mit ihr geschah, und was er tun könnte. Er sah sie aus seinen weit aufgerissenen Augen an, unfähig zu verstehen.
„Ich – ich habe so lange auf dich ... auf jemanden wie dich gewar-tet; da ich dich jetzt – gefunden habe, möchte ich dich nicht wieder verlieren!“
Frank merkte nicht, dass er laut schrie, und sie fest, zu fest am Arm hielt, sodass Anne vor Schmerz stöhnte. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu entwinden, aber es gelang ihr nicht.
„Oh, Frank“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Ich liebe dich auch. Vom ersten Augenblick an, als ich dich im Golden Hill sah und wir miteinander redeten, wusste ich, dass du der Richtige wärest, aber ...“
Mit einem Ruck riss sie sich los und stürzte. Sie schlug sich das Knie, auf dem Schotterweg, blutig und weinte. Frank war bei ihr und hielt sie. Er wickelte ein Taschentuch um ihr verletztes Knie. Dann schaute er ihr in die Augen und sagte:“ aber wir können es nicht mehr rückgängig machen. Das Schicksal hat uns zusammengeführt. Lass es uns wenigstens versuchen!“
Annes Blick wurde ganz traurig, und Frank schluckte, er spürte, dass jetzt die große Wahrheit kam. Einmal im Leben kam immer der Augenblick dieser Wahrheit und so etwas würde ein – nein, zwei Leben verändern.
„Frank Bowers ich kann und darf dich nicht lieben.“ Sie zitterte am ganzen Leib und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. „Unsere Liebe hätte keine Zukunft. Du ahnst nicht, wie nah wir schon dem Ende sind, noch bevor es einen richtigen Anfang gibt. Und glaub mir, nachdem ich dein Leid gespürt habe, wäre es nicht fair.“
„Was – was redest du? Ich kann dich nicht verstehen.“ Er presste seine Lippen, auf die ihren, aber sie drückte, ihn von sich.
Und während die letzten Strahlen der Sonne die schroffe Felsenlandschaft blutrot färbte, sah sie Frank direkt in die Augen und sagte: „Ich – Frank – ich werde sterben.“ Anne machte eine kleine Pause, als würde das Schweigen die Last der Bedeutung ihrer Worte anders gewichtet und es ertragbarer machen für ihn. Dann, als Frank nichts sagte oder nichts sagen wollte, fuhr sie fort: „Man gibt mir noch drei – höchstens sechs Monate ...“
Hinter Franks Stirn schien es heftig zu arbeiten, denn er ließ einige Falten entstehen und wieder vergehen. Er wirkte etwas blass um die Nase, mit so was hatte er wohl nicht gerechnet, ausgerechnet jetzt, wo es aussah, als könne er wieder glücklich werden.
„Okay“, sagte er dann, strich eine Haarsträhne von der Stirn und nahm sie in den Arm und küsste sie, warm und herzlich. „Bestenfalls sechs Monate. Gut. Es sollen die Schönsten werden in unserem Leben, dass schwör ich die, Liebes.“ Und er drückte sie an sich mit Kraft, so als wolle er sie nie mehr hergeben. Mit seiner Entschlossenheit steckte er Anne an und ließ all ihre Bedenken davon fliegen.
Dies lag jetzt zehn Monate hinter ihm. Er hatte sein Versprechen war gemacht und unvergessene Zeiten beschert, in denen zwei Menschen nicht glücklicher hätten seien können.
Etwa hundert Meter tief vor ihm brandeten die Wellen des mächtigen Atlantiks, schwarz und tosend. Er ließ die Asche aus der Urne fließen und spürte die starken Hände seines Vaters auf seine Schultern. Sein alter Herr räusperte sich und sagte:“ Gott legt jeden die Bürde auf, die der jenige auch tragen kann – nicht mehr, mein Sohn. Aber dich traf es hart und ich wüsste nicht, ob ich dieses Leid hätte tragen können.“
Und während der Wind die Asche mit sich trug, sagte Frank voller Stolz: „Anne, ich werde dich immer lieben.“
Ende