Lauter liebe Leute (Schreibaufgabe März)

Lauter liebe Leute

Der Zeiger sprang auf die volle Stunde um: acht Uhr. Mit einem leisen Quietschen öffnete sich die Tür. Fidelis Steinhart, Kriminalassistent bei der Sigmaringer Kripo, musste nicht aufblicken, um zu wissen, wer ins Zimmer trat. Seine Vorgesetzte, Kommisarin Grünwald, war für ihre Pünktlichkeit nachgerade berüchtigt. Und um Schlag sechs Uhr am Abend würde sie Feierabend machen. Mittagspause war täglich von zwölf bis um zwei.
"Morgen, Fidelis."
"Morgen, Frau Grünwald."
"Schon was erreicht heute Morgen?" Franziska Grünwald legte ihre Aktentasche in eines der Regalfächer mit den Leitz-Ordnern, hängte den cremefarbenen Blazer, den sie häufig trug, ordentlich an den Garderobenhaken und machte es sich auf ihrem Bürostuhl bequem. "Hab den Wirt heute Morgen schon getroffen", begann der junge Mann seinen Bericht. "Und, was sagt der Kneipenwirt?" Steinhart zuckte mit seinem typisch lausbubenhaften Lachen die Schultern. "Was soll der schon gesagt haben, Frau Grünwald. Der Tobias Waldinger hat den ganzen lieben Donnerstagabend die Freundin von diesem Carstens angebaggert. Dem wurde die Sache zu blöd, die beiden Kerle gingen vor die Tür und haben sich dort die Nasen poliert. Nach ner halben Stunde waren Beide verletzt. Das Mädchen hatte genug davon, rief auf der Wache an zwecks Entsorgung ihrer unnützen Verehrer. Die kamen auch nach zehn Minuten, haben für den Carstens den Krankenwagen gerufen, den Waldinger zuerst vernommen und dann nach Hause geschickt." Franziska Grünwald nickte verstehend. "Dann hat also der Carstens ein Alibi." "Das kann man wohl sagen", bestätigte Fidelis Steinhart, "der Typ wurde noch am gleichen Abend operiert; die Nase war gebrochen. Den ganzen Freitag und den halben Samstag über war der viel zu fertig, um irgend jemandem ein Messer ins Kreuz zu rammen. Der ist die Ätschkarte los."
"Und das Mädchen? Nur der Vollständigkeit halber." "Die? Soweit ich rausgekriegt habe, ist die am Sonntag schon mit nem Neuen losgezogen."
Die ganze Zeit über, während der junge Mann erzählte, blätterte Franziska Grünwald in ihren eigenen Unterlagen. Suchte nach einem bestimmten Blatt, fand es, schob es unter den versteinerten Ammoniten, den sie als Briefbeschwerer benutzte. Ein zweites Blatt schob sie rüber zu ihrem Assistenten. "Hier, zum Abheften." "Der zweite Nebenbuhler?" Die Kommissarin grinste. "Das Gleiche am Freitagnachmittag. Waldinger junior hat bei den Vorbereitungen für einen Polterabend geholfen. Natürlich die Braut angemacht. Der Bräutigam verbrachte die Nacht im Polizeigewahrsam, weil er den Tobias mit einer Schusswaffe bedrohte. Das Ding ist schwarz und wurde gleich eingezogen. Erst am anderen Morgen hat die liebe Verwandschaft den Burschen abgeholt. Wurde dringend auf dem Standesamt gebraucht."
Aber damit war auch schon Schluss mit heiter und lustig. Am frühen Freitagabend hatte das Opfer noch bei seiner Schwester vorbeigeschaut. Die Küchenspüle war kaputt. Laut Charlotte Waldinger tauchte ihr Bruder am frühen Abend auf, erledigte was zu erledigen war und verabschiedete sich wieder. Die junge Frau Waldinger hatte nach eigenen Angaben das Wochenende damit verbracht, die Küche zu tapezieren. Zeugen gab es keine; außer, dass am Montagmorgen eine Nachbarin vorbeischaute und die frisch renovierte Küche pflichtschuldigst bewunderte. In der Restmülltonne, so besagte Nachbarin, befand sich haufenweise alte Tapete, Folie und was sonst noch so anfällt.
Danach verschwand Tobias Waldinger.
"Sie wollten noch mit Jansen sprechen, Frau Grünwald." Wenn es um Termine und Kleinkram ging, war auf den jungen Mann Verlass. Keine noch so altgediente Sekretärin konnte da mithalten.
Die Kommissarin hatte alle Blätter durchgearbeitet und säuberlich auf zwei dünne Stapel sortiert. Machte dabei ein zufriedenes Gesicht, so als läge der Täter griffbereit zwischen all dem Papier. An den Wachtmeister dachte sie offenbar gar nicht.
Fidelis Steinhart warf einen neugierigen Blick darauf, tippte auf das oberste Blatt mit einem amtlich aussehenden Briefkopf. Von einem Notar? Seine Chefin gab ihm das Fax. "Lesen Sie mal, Fidelis, und dann sagen Sie mir, was Sie von der ganzen Sache halten." Neugierig geworden griff der junge Mann nach dem Blatt, las den kurzen Text halblaut vor: "Sehr geehrte Frau Grünwald, wie Ihnen sicher bekannt sein dürfte, unterliegt meine berufliche Tätigkeit völlig der Verschwiegenheitspflicht. Ich kann und darf weder bestätigen noch dementieren, ob und wann ich von Mitgliedern der Familie Waldinger einen Auftrag erhalten habe oder konsultiert wurde, ehe ich nicht von den von Ihnen genannten Personen von meiner beruflichen Schweigepflicht entbunden wurde."
Der Kriminalassistent machte große Augen, Franziska Grünwalds Schweigen sprach Bände. Was wollten die Waldingers beim Notar? Hatte der Tote soviel hinterlassen? Gab es ein Testament? Komplikationen bei der Abwicklung des Nachlasses?
Ein kurzes, energisches Klopfen an der Zimmertür schreckte den jungen Mann auf. Mechanisch griff seine Rechte unter den Pullover. Im letzten Moment erst zog er seine Hand zurück. "Sachte, Fidelis, sachte. Weniger Actionstreifen im Nachtprogramm gucken, mehr schlafen. Sonst lieg ich hier eines Tages unterm Schreibtisch und hab ein Loch im Kopf. Wäre doch peinlich, für uns Beide." Der junge Mann lief knallrot an, Franziska Grünwald lachte leise.
"Herein wenn's kein Reporter ist." Wachtmeister Jansen trat ein, hangelte nach dem Besucherstuhl und machte es sich bequem. Guckte ganz selbstverständlich Richtung Kühlschrank, wo ein kleiner Tassenstapel auf seinen Einsatz wartete. Fidelis Steinhart verstand. Mit wenigen Handgriffen hatte er drei Teebeutel in die entsprechenden Tassen gelegt, aus dem Kühlschrank die Blechdose mit den Keksen gefischt und alles auf den alten Aktenbock gestellt, der als Kaffeetisch herhalten musste. Nur noch heißes Wasser.
"Was Besonderes, Frau Grünwald? Ich sollte doch bei Ihnen vorbeikommen, wenn ich im Haus bin." Wachtmeister Jansen inspizierte die Keksdose. Mandelmakronen, so wie er sie mochte.
"Ich wollte nur mal hören, Jansen, ob sie was Neues aus Steinbach gehört haben. Was erzählt man sich über die Waldingers?" Jansen schaute zu, wie der Kriminalassistent heißes Wasser über seinen Teebeutel goss. Es duftete ganz fein nach Vanille.
"Mein Gott, Frau Grünwald. Was soll schon los sein in Steinbach. Die Mutter läuft mit verheulten Augen durchs Dorf, der Alte macht ein verkniffenes Gesicht. Ist um Jahre gealtert, ich sah ihn gestern auf der Post. Wenn der nicht besser auf sich achtet, macht der das nicht mehr lange. Die Damenwelt von achtzehn bis achtundachtzig rätselt herum, mit wem der arme Tobias sein letztes Date hatte. Alle denken an eine Eifersuchtsgeschichte. Es geht auch das Gerücht von einem unehelichen Kind um." Die Kommissarin winkte ab. Hätte Tobias Waldinger wirklich Nachwuchs gehabt, so wäre der schon längst aufgetaucht. Alleine der Unterhaltsansprüche wegen.
"Auffälliges? Sind Fremde aufgetaucht oder Leute, die sich sonst nie blicken lassen?" Jansen verneinte. Steinfach war mehr als übersichtlich. Da wäre ihm nichts entgangen. Keine Fremden. Zur Beerdigung war natürlich die ganze Verwandschaft erschienen. Abordnungen von den örtlichen Vereinen, selbstverständlich. Aber sonst gab es nichts zu berichten.
"Wer kümmert sich denn jetzt um die Geschäfte, Jansen? Ist doch ein ziemlich großer Betrieb, wie man mir sagte." Jansen warf der Kommissarin einen verwunderten Blick zu. Um den Betrieb kümmerte sich die Schwester, so wie sonst auch. Gestern erst hatte er sie im Behördenhaus getroffen. Hatte sich beim Pförtner nach den Öffnungszeiten des Arbeitsamts erkundigt.
"Was wollte die Waldinger denn beim Arbeitsamt?" Fidelis Steinhart war misstrauisch geworden. "Machen die Waldingers den Betrieb dicht?" Jansen winkte ab. "Aber nein. Im Treppenhaus, ich hatte auch oben zu tun, erzählte mir die Charlotte Waldinger, dass sie dringend einen jungen Meister sucht für den Betrieb. Sie wollte über das Arbeitsamt versuchen, jemanden aus den neuen Bundesländern zu finden. Gerne auch eine Frau, die können ja mit alten Leuten und Hausfrauen besser umgehen, meint die Charlotte Waldinger. Hier gibt's ja weit und breit keine passenden Leute. Und der Vater ist ja schon zu alt für die vielen Montagefahrten. Die denken nicht ans dicht machen, Herr Steinhart. Da wird umgekrempelt."
"Und die Schwester selbst?" Die Kommissarin war auffallend still gewesen. "Was erzählt man sich in Steinbach über Charlotte Waldinger?" Jansen hatte mit flinken Fingern den letzten Keks aus der Dose gefischt. "Die Mutter hat der Postbotin erzählt, dass die Charlotte demnächst Prokura kriegen soll, damit sie dem Vater eine Menge Kleinkram abnehmen kann. Die Sachen halt, die der Tobias bisher gemacht hat. Sonst ist da nichts mit der Charlotte. Soll ich mich mal umhören?"
Franziska Grünwald verneinte. Nein, das war nicht mehr nötig. "Gute Arbeit, Jansen, wirklich. Ich denke, ich bin ein Stück weiter."
 



 
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