Leben

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Eisengel

Ich betrachte meine Nägel. Ganz unauffällig unter dem Tisch und ich zähle in Gedanken die Unterschiede meiner beiden Hände auf. Eigenartig, dass mir das vorher nie aufgefallen ist: der rechte Ringfinger ist ganz schief, dafür sind die kleinen Finger gebogen. Ich strecke sie aus und es kostet mich relativ viel Kraft, was mich überrascht.
Dann bemerke ich, dass du immer noch da bist. Und redest. Ich kann dir nicht folgen.
Mein Blick trifft deinen und ich erschrecke mich vor der plötzlichen Nähe, stelle meine Augen unscharf, was mich anstrengt, mich aber wieder in sichere Distanz bringt. Du merkst es nicht und das beruhigt mich.
Als es Zeit ist, zahlst du und deine Bewegung zieht mich mit sich, weg vom Tisch, raus in die Kälte. Erst als du dich von mir löst, um dir eine Zigarette anzuzünden spüre ich deinen schweren Arm auf meinen Schultern.
Ich weiß nicht mehr, woher ich dich kenne und warum du bei mir wohnst. Ich weiß nicht, ob du bei mir wohnst oder ich bei dir, mir fetzen Gedanken und Namen durch den Kopf, deiner ist nicht dabei, verdammt noch mal, vielleicht sind wir verlobt.
Ich verstehe dich nicht, aber einen Klang aus deinem Mund kann ich vernehmen, es scheint dich zu interessieren und natürlich wichtig zu sein, was du da redest.
Du redest, glaube ich, sowieso relativ viel. Aber vielleicht weiß ich es nicht besser, denn ich kann mich nicht erinnern, jemals einen anderen sprechen zu hören als dich.
Gefährlich knistern unsere Schritte im Schnee, dichte, schwere Schneeflocken fliegen mir in die Wimpern und verknüpfen sich zu einem Netz, ich stolpere und blinzle unbeholfen. Ich will mich in den Schnee fallen lassen und nie wieder aufstehen, zu einem Eisengel gefrieren und schweben und die Welt vorbeiziehen lassen ohne von ihr gefangen zu sein, alles wissen und gar nichts wissen müssen und Frische fühlen und leicht sein und woanders hier sein und dein schwerer Arm muss tiefe Mulden in meine weichen Schultern drücken, als du mich zu dir ziehst und etwas sagst.
Ich muss mich fragen, ob ich dir jemals antworte, vielleicht ohne dass ich es weiß oder macht es dir nichts aus, ganz alleine zu reden, willst du mich nicht hören? In mir ist so viel, so viel, dass nicht raus kann, dass sich nicht von mir in die Kälte ziehen lässt, dass dich nicht zum schweigen bringen kann. Wusstest du, dass meine Finger gebogen sind, wusstest du, dass ich nicht ein Wort mehr weiß, dass deinen fremden Mund verlässt, wusstest du , dass ich vergessen habe, wer du bist, wusstest du, dass ich nur weiß, dass du redest und nicht hörst, das wusstest du bestimmt nicht, aber du weißt es auch jetzt nicht. Ich will, dass du mich hörst, aber ich habe keinen Mund mehr, ich weine, ich schreie, ich kämpfe, ich kämpfe bis zur Besinnungslosigkeit, aber da ist kein Ton außer deiner in der Welt.
Überall Glas, ganz fest und starr und nicht klirrend wie die Kälte jetzt; oben, unter mir, hinter mir, vor mir, in dir, zwischen uns, zwischen mir und allem. Silbergrau und undurchsichtig, ich gehe durch die Zeit ohne mich zu bewegen.
Mein Kopf ist völlig leer und doch voller Gedanken, nichts kann ich fassen.
Jetzt liegst du still neben mir, schläfst und ich staune, dass das möglich ist, ich weiß nicht, ob ich auch schlafe. Ich kenne die Bedeutung, aber wie man es umsetzt weiß ich nicht sicher.
Später in der Nacht stehe ich auf, ich nehme den Hammer aus der Kommode und schlage gegen das Glas, so heftig, dass ich mich ansehe und Bewunderung verspüre, plötzlich Risse, das Glas splittert auseinander, wilde Zacken stehen heraus. Blut fließt aus meinen Fingern, als ich mir eine herausziehe und viel mehr, immer mehr jetzt aus meinem Körper, überall. Kein Schmerz mehr. Der Vorhang zieht sich auf, du mit offenem Mund neben mir entfernst dich immer mehr und die Welt um mich herum wird schärfer und schärfer, ich öffne meinen Mund wie einen nie benutzten Muskel, zum ersten Mal beansprucht, das ist mein Moment, das ist meine Geburt, mein Leben beginnt, ich bin frei und teilhaftig an allem, instinktiv forme ich meinen Mund, die Bänder, die Kraft, jetzt ich, jetzt – sofort alles unscharf, alles verliert seine Grenzen und löst sich auf, was habe ich getan, falsch gesprochen, es kam doch noch kein Ton aus mir, der Vorhang, der sich eben erhoben, fällt dumpf auf mich zurück, schließt sich, eine neue Strafe, ich verliere mein Bewusstsein und wenig später mein Leben.
 

Gandl

Mitglied
Hi heiligenschein,
willkommen!
Starker Text, mit dem du hier einsteigst. Beklemmend. Bedrohlich. Der Verlust der sog. „Realität“, das Rätsel der Wahrnehmung, das Abdriften, das Auflösen, das Verschwinden ... – das hast du mir glaubhaft rübergebracht.
LG
Gandl
 



 
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