Leichtsinnvoll

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Der bärtige Alte mit dem vollen grauen Haupthaar war ihm schon im Rückspiegel aufgefallen, als Harald Sehnlich vor der Kneipe problemlos in eine enge Lücke einparkte. Das gelang ihm seit einige Jahren sonst nur mit mehreren Versuchen.
Kurz starrte der Bärtige auf das Heck von Haralds Auto, lächelte und verschwand hinter der Kneipentür.
Irgendwie kam er Harald bekannt vor. Allerdings musste es Jahre her sein, als er ihn zum letzten Mal gesehen hatte, obwohl er ihm zugleich irgendwie vertraut war.
In der kleinen Gaststätte, die den frommen Namen „Zum ewigen Licht“ führte, setzte Harald sich an den Nebentisch mit dem Rücken zu dem bärtigen Graukopf.
Der unterhielt sich mit einem anderen allerdings glatzköpfigen Alten und meinte mit herrischem Tonfall: „Totgesagte leben eben länger.“
„Sie leben wirklich länger!“ bestätigte der Glatzkopf nickend, und wischte sich mit einem bunten Taschentuch über sein haarloses Haupt. „Und fürs Überleben musste in unseren Lebensjahren schon verdammt viel Vorsicht walten lassen.“
„Ach was!“ Der bärtige Alte schüttelte den Kopf, wies mit der Hand einmal in die Runde. Und von allen besetzten Tischen nickten ihm alte Männerköpfe zu. Einige riefen: „Genau, Heinrich.“

Harald war nicht wieder in dieser Kneipe gewesen. Dennoch fielen ihm die Alten und besonders Heinrich oft wieder ein. Und jedes Mal kam er ihm dabei bekannter vor. Nicht selten träumte er nachts sogar von ihm.
Auch Harald will einfach noch keiner dieser alten Feiglinge sein, die nur noch mit einem großen Aufwand an Vorsichtsmaßnahmen durch ihr Leben stolpern, nein, spähend und tastend schleichen.
Je häufiger er Gleichaltrigen begegnet, desto mehr sehnt er sich nach grenzenlosem Übermut, nach jenem unvernünftigen Wagemut, den er sich als Kind trotz aller Warnungen seiner nicht gerade mutigen Eltern heimlich herausnahm. Weder sein Vater noch die Mutter haben ihn zu seinem Glück jemals dabei erwischt, wenn er auf Bäume kletterte und ausprobierte, wie sehr er dünnere Äste belasten konnte, wenn er von hohen Mauern oder im Sommer in unbekannte Gewässer sprang.
Als Junge war er kaum in Todesgefahr, hatte er doch elastische Knochen und die notwendige Unbekümmterheit trotz aller einschränkenden Vorsicht seiner Eltern, die ihn eher in Gefahr brachte, als ihn davor zu retten.
Sein Großvater, mit dem er viel Zeit verbrachte, da er wegen einer Zinkvergiftung Invalidenrente bekam, die er sich als Schiffbauer auf der Werft zuzog, traute ihm mehr zu. Und das, obwohl sein Sohn Harry im Krieg gefallen war und Harald dem verwaisten Vater als Ersatzsohn diente.
Gute fünfzig Jahre näher am Abgrund hat er jetzt mehr Mühe, das Gleichgewicht zu halten, das ihn vor dem endgültigen Absturz bewahrt.
Immer noch versucht er diese Balance und immer noch heimlich. Nachts.
Zum Glück hat seine Frau Elke einen festen Schlaf.

Unverhofft, aber mühsam wird er wieder einmal wach. Elke schnarcht dezent. Nicht nur beim Schnarchen ist sie dezent.
Harald fühlt jene Benommenheit, die er seit Jahren von seinen Unterzuckerungen gewohnt ist. Die Zuckerkrankheit gibt er ungern zu und den Reiz seiner nächtlichen halbbewussten Wanderungen behält er daher für sich.
In den letzten Monaten war er oft unterzuckert. Das lässt ihn inzwischen sogar gewollt auf dem schmalen Grat zwischen Noch-Bewusstsein und Schon-Koma wandeln.
Harald träumt und träumt schon nicht mehr.
Es geht ihm gut. In diesem Zwischenzustand kann ihm weder das reale Leben noch der reale Tod etwas anhaben.
Benommen und verschwitzt bleibt er erst einmal unter seiner Daunenbettdecke liegen. Elke schnarcht dezent. Lautlos versucht er aufzustehen, um sich, ohne zu frieren, langsam durch die nächtliche und kalte Wohnung zu bewegen. Die Heizung schaltete sich automatisch nach vierundzwanzig Uhr aus.
Drei Mal schlägt die alte Standuhr. Vor dem Haus schimmern – von einem blassen Halbmond beschienen – Schneeflächen. Der Baum vorm Haus bewegt sich. Leise heult ein kräftiger Wind. Von irgendwoher zieht es. Elke mag es nicht, wenn alle Fenster geschlossen sind.
Haralds warmer Schlafanzug schützt ihn außerhalb des Bettes eigentlich nicht gegen die winterliche Kälte. Dennoch friert er nicht.
Eigentlich müsste er Traubenzucker einnehmen, um der Unterzuckerung zu entgehen.
An vielen Stellen der Wohnung liegen Schachteln mit dem zu kleinen weißen Quadern gepresstem Stoff, der ihn im Notfall überleben lassen soll.
Lieber genießt er jetzt das leichte Schwindelgefühl vor dem drohenden Koma, schwankt, tastet sich voran, entdeckt den phosphorisierenden Lichtschalter, verzichtet darauf die Wohnzimmerlampe anzuschalten. Nur keine grelle Helligkeit. Dann wäre alles zu wirklich. Viel zu wirklich.
Tastend nähert er sich dem Schrank, in dessen Schublade ein Päckchen mit Traubenzucker wartet. Er schwankt, umklammert den Schubladengriff, atmet tief durch.
Am Fenster erkennt er die Umrisse des Ohrensessels, den er, als sein Großvater starb, von ihm erbte. Ebenso wie das kolourierte Porträtfoto. Es zeigte seinen Opa als jungen wilhelminischen Gardesoldaten.
Bild und Sessel nahm Harald als Erinnerungsstücke mit in seine Wohnungen. Schon einige Male war er umgezogen, weil er es liebte, an neuen Wohnorte von vorn zu beginnen.
Seine Hand umkrampft den Griff an der Schublade, dann lockert die Hand sich. Harald wankt hinüber zum Sessel, lässt sich fallen. Weich fängt ihn das alte Sitzmöbel auf. Er will sich wieder aufrichten, schnappt nach Luft, schließt die Augen, sinkt zurück, holt noch schnappend Luft, stützt sich mit beiden Händen auf den Sessellehnen ab, drückt sich hoch, steht, schwankt, macht einen halben Schritt. Die Knie wollen nachgeben. Harald nicht.
Jetzt gerade nicht. Im Zustand zwischen den Welten.
Vorsichtig lässt sich erneut in den Sessel fallen.
„Pass auf, Junge…!“ knurrt der Großvater, greift ihm um den Leib und hält ihn auf seinem Schoß fest. Der Bart des Opas kitzelt ihn im Nacken.
„Lass mich los…“, will Harald sagen. Er sitzt gern auf diesem Schoß. Früher schon, als der noch wärmte.
„Ich brauche Traubenzucker.“
Der Großvater hält ihn fest. „Deine Mutter wollte schon immer son Zeugs in dich hineinstopfen. Das is nix für Männer. Mein Sohn hat das auch nie geschluckt.“
Und dann kommt wie immer, wenn er von seinem im Polenfeldzug vermissten Sohn spricht, der Satz: „Hätte Hitler den Krieg nicht angefangen!“ Er schluckt. „Ja, dann würde Harry heute ein glückliches Leben leben. Der hatte Mut und Spaß am Leben.“
Harald versucht, sich aus den noch kräftigen Armen des alten Mannes zu befreien. Kurz ringen die Beiden miteinander. „Totgesagte leben länger“, knurrt der Großvater und lässt schließlich los.
Harald fällt nach vorn, kriecht zum Schrank, erreicht ihn auf Knien, findet die Schublade, öffnet sie, tastet nach der Traubenzuckerschachtel, bekommt sie zu fassen, kann sie aufmachen, legt sich auf den Boden, kippt sich Traubenzuckerstücke in den geöffneten Mund, zerkaut sie und schluckt.
Eine Zeit lang bleibt er liegen. Dann kriecht er zum Sessel zurück. Setzt sich hinein.
Fängt an zu frieren, wartet, beginnt zu zittern, steht auf und schleicht ins Schlafzimmer zurück.
Elke unterbricht ihr Schnarchen. „Was ist?“ will sie wissen und dreht sich zu ihm um.
„War leicht unterzuckert. Und der Alte ist mir begegnet.“
„Welcher Alte?“
„Der aus der Kneipe. Von dem ich dir neulich erzählte.“
Elke nickt, dreht sich um und beginnt dezent zu schnarchen.
 
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Gast
Hallo Karl, eine interessante Geschichte.
Ich folge als Leserin dem Erzählstrang im Zickzack: erst die Begegnung mit dem Bärtigen, dann Kindheitserinnerungen, dann nächtliches Umherwandern im heimischen Umfeld...und fände einen gradlinigeren Weg der Erzählung leichter: eine Begegnung und was sie auslöst, wenn LyrIch des Nachts auf Wanderschaft ist: Kindheitserinnerungen und die Sehnsucht nach den freien, unbekümmerten Kindertagen.
Und die Ahnen, die leise winken...
Da bedarf es keiner Gattin, die "dezent schnarcht" oder Gespräche am Kneipentisch, finde ich. Wenn LyrIch ganz bei sich bleibt, bleibt auch der geneigte Leser/In ganz bei ihm, seinen Erinnerungen und Sehnsüchten.
 



 
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