Leipziger Straße
Der Novemberwind trieb den Nieselregen durch die Leipziger Straße. Eisig, dachte der ältere Herr, viel zu kalt für Mitte November! Darauf haben sie nicht geachtet, als sie diese Hochhäuser bauten. An den Wind. Von den Häusern wird der Wind auf die viel zu breite Fahrbahn gelenkt. Er trat einen Schritt zurück unter das schützende Dach der Bushaltestelle. Wiederaufbau! Er musste plötzlich laut lachen. Gut, dass niemand da war. Man hatte das damals den Wiederaufbau der Leipziger Straße genannt.
In einem Wind wie diesem verstand er seine Frau. Die hatte nach seiner Pensionierung zurückgewollt an die Mosel. Von Bonn war man in anderthalb Stunden in Cochem gewesen. Die Wohnung dort gehörte ihnen immer noch. Berlin ist spannend, sagte er, wenn sie von der Mosel sprach. Mit dem Regierungsumzug waren sie nach Berlin gekommen. Neunziger, phantastische Zeit in Berlin zu sein, fand er. Er selber kam aus Magdeburg, dreiundfünfzig war die Familie rübergegangen. Bonn war ihm nie wirklich Heimat geworden.
Der haltende Bus riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand vor der sich öffnenden Tür, vorne. „Entschuldigen Sie!“ fragte er, „fahren Sie zum Alexanderplatz?“
„Können Sie nicht lesen?“ blaffte der Fahrer und machte eine Handbewegung nach vorne. Für Sekunden herrschte Stille. Er schaute den Busfahrer an, mit halbgeöffnetem Mund. Hatte er richtig gehört? Die Tür schloss sich. Er war nicht eingestiegen. Der Busfahrer hatte seine Frage nicht beantwortet. Oder war das die Antwort gewesen?
Er stand einige Zeit reglos, dann sah er auf einem orangefarbenen Mülleimer eine dieser Sprechblasen, mit der die Stadt neuerdings für sich warb. Sie fiel ihm erst jetzt auf. „Sei Herz, sei Schnauze, sei Berlin.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. Ich habe es mir überlegt, sagte er beim Abendessen, wir sollten nach Cochem ziehen.
© Ulrich Schroeter, 2009
Der Novemberwind trieb den Nieselregen durch die Leipziger Straße. Eisig, dachte der ältere Herr, viel zu kalt für Mitte November! Darauf haben sie nicht geachtet, als sie diese Hochhäuser bauten. An den Wind. Von den Häusern wird der Wind auf die viel zu breite Fahrbahn gelenkt. Er trat einen Schritt zurück unter das schützende Dach der Bushaltestelle. Wiederaufbau! Er musste plötzlich laut lachen. Gut, dass niemand da war. Man hatte das damals den Wiederaufbau der Leipziger Straße genannt.
In einem Wind wie diesem verstand er seine Frau. Die hatte nach seiner Pensionierung zurückgewollt an die Mosel. Von Bonn war man in anderthalb Stunden in Cochem gewesen. Die Wohnung dort gehörte ihnen immer noch. Berlin ist spannend, sagte er, wenn sie von der Mosel sprach. Mit dem Regierungsumzug waren sie nach Berlin gekommen. Neunziger, phantastische Zeit in Berlin zu sein, fand er. Er selber kam aus Magdeburg, dreiundfünfzig war die Familie rübergegangen. Bonn war ihm nie wirklich Heimat geworden.
Der haltende Bus riss ihn aus seinen Gedanken. Er stand vor der sich öffnenden Tür, vorne. „Entschuldigen Sie!“ fragte er, „fahren Sie zum Alexanderplatz?“
„Können Sie nicht lesen?“ blaffte der Fahrer und machte eine Handbewegung nach vorne. Für Sekunden herrschte Stille. Er schaute den Busfahrer an, mit halbgeöffnetem Mund. Hatte er richtig gehört? Die Tür schloss sich. Er war nicht eingestiegen. Der Busfahrer hatte seine Frage nicht beantwortet. Oder war das die Antwort gewesen?
Er stand einige Zeit reglos, dann sah er auf einem orangefarbenen Mülleimer eine dieser Sprechblasen, mit der die Stadt neuerdings für sich warb. Sie fiel ihm erst jetzt auf. „Sei Herz, sei Schnauze, sei Berlin.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. Ich habe es mir überlegt, sagte er beim Abendessen, wir sollten nach Cochem ziehen.
© Ulrich Schroeter, 2009