Leise Schritte...

von Sir Charles Blackwood


Während ich mich leise stöhnend auf die vom Morgentau genäßte Bank niederlasse, den Sitzplatz habe ich vorher mit einem Taschentuch trocken gewischt, geht mein Atem schon etwas ruhiger. Der Anstieg auf die Höhe war für meine müden Knochen beschwerlich, doch ich mag so gerne auf dieser - meiner Bank den frühen Tag genießen.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, daß es kurz nach sechs ist. Auf meinen Rücken treffen die ersten Sonnenstrahlen, wärmen zögerlich. Auf diesen Moment habe ich gewartet, ihn förmlich herbeigesehnt. Wie verzaubert scheint das Tal auf einmal vor mir zu liegen. Die Sonnenstrahlen brechen im Morgentau. Milliarden von funkelnden Blitzen, die in allen Regenbogenfarben leuchten, blenden meinen Blick, lassen mich blinzeln.
Von unten aus der Aue quält sich, getrieben von einem leichten Westwind, langsam und zäh der Frühnebel über den Tannenwald, fällt hinunter auf die, von wilden Kräutern und Blumen bewachsene, Wiese. Die Blumen, deren Blüten fest geschlossen sind, scheinen noch zu schlafen, werden langsam, ich möchte sagen - behutsam vom Wind geweckt.
Doch da erblicke ich einzelne Blüten, die, mir gleich, die frühe Morgensonne atmen zu scheinen, sich langsam, zögerlich öffnen. Ein tiefes Brummen trifft mein Ohr, läßt meinen Blick nach rechts schweifen. Eine dicke Hummel, die diese ersten sich öffnenden Blüten sucht, um den reinen, frischen Nektar mit ihrem Rüssel aufzusaugen, schwebt, scheinbar schwerelos, mit ihren behaarten, kugeligen Körper an mir vorbei.

Braucht sie den Nektar für ihre Brut? Oder hat sie selber Hunger? Diese, an sich lapidare, Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich greife in die Jackentasche und nehme den Schokoriegel heraus. Wie diese Gedanken meinen Magen geweckt haben – witzig. Während ich mir die Stärkung schmecken lasse, wandert mein Blick weiter durch das vertraute Tal, sucht bekannte und neue Eindrücke zu finden. Ich lehne mich zurück und betrachte wieder den Morgennebel, der jetzt, durch den etwas auffrischenden Morgenwind, die Wiese hinauf in meine Richtung treibt. Langsam, behutsam, nimmt er Besitz von der Natur, läßt die Sonne nicht mehr durch. Die Farben der Natur, vorher noch, strahlend glitzernd, verzaubernd, verblassen matt – verstummen.

Der Nebel erreicht mich, hüllt mich in seine kühle Feuchtigkeit, läßt die Wärme in meinem Rücken, hervorgerufen durch die frühen Strahlen der Morgensonne, verstummen. Doch ich mag nicht aufstehen, den Platz wechseln. Sicher wird in wenigen Minuten die Sonne stark genug sein, um das unangenehme Grau zu vertreiben. Und so sitze ich weiter auf meiner Bank, schließe die Augen und lasse meine Ohren, denen der Nebel egal ist, Eindrücke sammeln. Der Nebel, die Feuchtigkeit der Luft – sie scheinen die Geräusche noch zu verstärken, lassen mich Töne lauschen, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Während meine Ohren den Ruf des Amselmännchens erkennen, das leise Rauschen des leichten Windes, der den Nebel über die Aue treibt, die Gräser leicht wiegend aneinander reiben läßt, vernehmen, scheine ich der Realität immer weiter zu entrücken. Meine Gedanken, meine Erinnerungen erwachen, während meine Ohren den Geräuschen folgen, immer neue hören und erkennen.

Auf einmal vermeine ich leise Schritte zu hören. Sie scheinen von rechts zu kommen. Leise, tapsende Schritte, wie sie wohl von einem Kleinkind stammen. Meine Gedanken gehen zurück in die eigene Kindheit, holen einzelne Eindrücke aus der Erinnerung hervor, lassen mich schmunzeln. Aber auch ein klein wenig Wehmut ergreift mich.
Die Schritte nähern sich langsam. Irgendwie muß ich mich wohl getäuscht haben. Sie sind doch nicht so unsicher. Sie sind kräftiger, ungestümer. Schritte, wie die eines Schulkindes, daß den Weg hinauf auf den Berg zur Schule hinauf rennt. Der erste Schultag zieht an mir vorbei. Ich erinnere mich, als wäre es erst gestern gewesen. Ich kann die große Schultüte kaum halten, bin aufgeregt, der Tornister, für meinen Rücken ungewohnt, drückt.
Die Schritte, weiterhin leise, aber anscheinend doch näher kommend, hören sich stark, selbstbewußt an – wissen, wie und wohin sie gehen müssen. Sie erinnern mich an meine Zeit der Karriere, lassen Eindrücke erwachen, die längst vergessen schienen.

In einem Anflug von Neugier will ich die Augen öffnen, den Blick in die Richtung der leisen Schritte richten, doch ich verharre, höre sie jetzt hinter mir. Sie scheinen vertraut und doch so fremd. Sie bleiben nicht stehen, gehen weiter. Jetzt langsamer, behutsam, doch genauso leise und unwirklich. Sie erwecken den Eindruck eines alternden Menschen, der zwar seinen Weg kennt, ihn jedoch nicht mehr so fest gehen kann.
Ein leichtes Seufzen, beim Gedanken an meiner selbst, entfährt meinen Lippen. Nicht wehmütig oder leidend, nein, einfach so, als wollte der Druck aus einer Seltersflasche entweichen.
Die Schritte entfernen sich jetzt langsam. Doch jetzt ist etwas anders. Sie werden leiser, wollen mir sagen: Komm, alter Junge – folge mir!

Auf einmal, so ganz ohne mein wissentliches Dazutun, scheine ich aufzustehen. Als ich in meine Schritte in die Richtung der starken, kraftvollen Schritte lenken will, scheinen meine Beine wie gelähmt zu sein. Es gelingt mir nicht. Doch in die Richtung der immer leiser werdenden Schritte, da wollen sie hin, scheint ihnen der Weg vertraut – vorbestimmt.
Und so gehen sie wie von selbst in diese Richtung. Vergessen der Morgennebel, vergessen die frühe, wärmende Sonne, die lockenden, vergnüglichen Stimmen der Vögel, nur noch getrieben von dem Gedanken, diese leisen, immer vertrauter scheinenden Schritte zu erreichen. Immer weiter entrückt die Bank. Nur der Nebel scheint sich zu verdichten. Doch je dichter er wird, um so heller scheint er zu werden. Das düstere, bedrohliche Grau weicht einer strahlenden, anheimelnden, um nicht zu sagen - anziehenden Helligkeit.
Fast habe ich die Schritte erreicht…


„Fritz, laß uns hier kurz rasten!“ Lena keuchte, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn. ‚Meine Kondition ist zum Teufel’, dachte sie bei sich. „Warte doch endlich! Ich kann nicht mehr! Bleib endlich stehen!“
Ihr Mann, zehn Meter vor ihr, unterbrach den leichten Trab und drehte sich um. „Was ist Frau Doktor?“ Er lachte. „Immer nur im OP stehen. Das bringt deine Kondition auch nicht in Schwung.. Los weiter!“
“Komm, da vorne ist eine Bank. Da sitzt sogar schon jemand und ruht sich aus.“
“Na gut, du Weichei!“ Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Dann wollen wir eine kurze Pause machen und dann die Runde fertig drehen. Das Frühstück, der starke Kaffee, warten schon auf uns.“ Sie gab ihm einen Kuß und wischte sich mit dem Handtuch nochmals über die nasse Stirn.

„Hallo! Guten Morgen! Genießen sie auch die Morgensonne?“ Fritz Müller, ebenfalls im Krankenhaus beschäftigt, jedoch nicht als Arzt, sondern in der Verwaltung, begrüßte den Mann und setzte sich mit seiner Frau daneben auf die Bank.

„Ist der Ausblick nicht himmlisch?“ Lena deutete auf das Tal. Die Sonne ließ die Natur erwachen, alles erschien so sauber und rein. „Ich habe es nie so gesehen. Wir laufen die Strecke doch nun schon fast ein Jahr, Tag für Tag.“ Während sich den Ausblick genoß, nahm sie den Monolog wieder auf. „Was sagen Sie dazu, mein Herr?“
Ihr Blick schien erstmalig den Mann näher zu fixieren. ‚Er lächelt’, dachte sie bei sich. ‚Irgendwie komisch seine Züge’. Aus der Joggerin Lena wurde in Sekundenbruchteilen „Frau Dr. Lena Wundstein“.
„Fritz!“ Ihre Stimme war auf einmal bestimmend, ernst. „Fritz, schau einmal.“ Während sie ihren Mann, der zwischenzeitlich einige Schritte vorgetreten war, um den Ausblick besser genießen zu können, hinzurief, machte sie einige routinemäßige Untersuchungen, fühlte Puls und schaute in die starren Pupillen.
“Fritz, ich glaube, du solltest dein Handy hervorholen und die Polizei anrufen. Der Mann ist tot!“
“Wie tot?“
„Ja, mausetot! Aber noch nicht lange. Er ist noch warm.“
“Verarsche mich nicht, Lena. Er sitzt doch da ganz friedlich und lächelt.“
“Ich mache keinen Spaß, Fritz. Er ist hier vor, ich denke, ein, zwei Stunden gestorben.“

Nachdem Fritz den erforderlichen Anruf gemacht hatte, setzte er sich neben seine Frau, um auf die eintreffenden Wagen der Polizei und des NAW zu warten. Er betrachtete den Fremden, der gar nicht tot aussah. Eher friedlich schlafend, verträumt schmunzelnd. Er schätzte ihn so auf ende siebzig, Anfang achtzig Jahre.


„Lena, wenn der Tod doch immer so friedlich käme…“
„Ja Fritz. Er scheint wirklich friedlich und ruhig eingeschlafen zu sein. Und seine letzten Gedanken waren sicher sehr schön. Ich würde mich freuen, wenn es mich auch einmal so treffen würde.“
In diesem Moment brach die Morgensonne mit aller Gewalt durch das Dach der Bäume und ließ ihre Strahlen mit aller Macht auf die friedliche Szene fallen.

„Der Himmel wartet auf dich, alter Mann!“ dachte sie bei sich. „Meine Gedanken sind bei dir und begleiten dich auf den Weg hinauf.“ Sie nahm ihren Mann in den Arm und lehnte sich stumm an ihn…
 



 
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