Lenas blaue Uhr

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kleinerprinz

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Das Ganze geht jetzt schon fünf Jahre so. Es ist immer das Gleiche. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat. Immer das Gleiche. Viele würden, wenn sie an meiner Stelle wären, verrückt werden. Aber ich bin daran gewöhnt. Es ist ja immer das Gleiche. Mich kann nichts mehr überraschen, weil es immer das Gleiche ist. Jeden Morgen und jeden Abend. Es gibt keine Veränderung. Es muss und soll alles so bleiben, wie es ist. Gleich. Und es ist besser so. Die Minuten, Stunden, Tage sollen sich nicht ändern. Sie müssen so bleiben. Es muss gleich bleiben, sonst würde man verlieren. Aber ich habe gewonnen. Das ist meine Welt. Ich habe sie gewonnen. Das ist alles, was ich habe. Das ist schön. Es ist immer das Gleiche, zum Glück, immer das Gleiche. Es hat lange gedauert, bis ich das verstanden habe, aber dennoch habe ich gewonnen. Ich bin der Kämpfer und doch ist es immer das Gleiche.
Ich habe mir das hier alles nicht ausgesucht. Ich muss es machen, weil es mir hilft. Ich muss hier sein, weil es mir hilft. Es würde mir helfen, hat man mir gesagt, weil ich dann besser leben kann. Ob sie Recht haben, weiß ich nicht. Ich denke nicht. Es ist gut, wie es ist. Ich bin hier und das ist gut. Ich will keine Veränderung. Ich will keine Hilfe. Ich weiß, dass sie mir nicht helfen können. Mir kann keiner mehr helfen. Der Zug ist abgefahren. Schhh. Nur ich kann mir noch helfen. Ich kann alles zerstören, wenn ich nicht aufpasse. Aber ich passe auf und helfe mir. Stück für Stück. Ich bin vorsichtig, aber trotzdem ist es schwer, weil es eben immer das Gleiche ist. Aber das macht es auch so einfach. Man gewöhnt sich daran. Man muss sich daran gewöhnen, denn dann kann man damit leben. Es ist ja immer das Gleiche. Im Grunde ist es wie das Morgens-Sein-Bett-Herrichten, Zähneputzen oder U-Bahnfahren. U-Bahnfahren? Ja! U-Bahnfahren.
Stellen Sie sich vor: Sie sitzen in einer U-Bahn. Spüren Sie dieses samtweiche, harmonische, beruhigende und trotzdem monotone Ruckeln des Wagens? Stellen Sie sich das Rauschen vor, wenn die Bahn zentimeterdicht an der Wand entlang fährt. Schhh. Metertief unter der Erde. Und immer dieses Ruckeln. Immer dieses Rauschen. Bis zum nächsten Bahnhof. Und dann? Und dann, fragen Sie sich? Ja, dann geht es glücklicherweise wieder von vorne los.
Ich liebe U-Bahnfahren. Dieser Moment des Anfahrens der Bahn. Dieser Ruck und dann das Schhh. U-Bahnfahren ist Freiheit. Durch die ganze Welt. Schhh. Und noch viel weiter. Es gibt nichts Schöneres auf der Welt, als mit U-Bahnen durch die Stadt zu fahren. U-Bahnen sind einfach. Sie sind nicht kompliziert. Man steigt ein, beruhigt sich und steigt wieder aus. Schhh. U-Bahnfahrer zu sein, muss der schönste Beruf der Welt sein. Man muss sich so frei und mächtig fühlen. So mächtig. Mit einem kleinen Pedal führt man hunderte Tonnen von Stahl durch die Schächte. U-Bahnfahrer sind Kämpfer. Ich war nie ein U-Bahnfahrer, aber ich würde U-Bahnfahren, wenn ich könnte. Tag und Nacht. Nacht und Tag.
Warum ich es nicht kann? Ich bin hier. Warum ich hier bin? Ich muss hier sein. Es sei besser für mich, hat man mir gesagt. Man würde mir helfen, damit ich wieder leben kann, damit ich wieder U-Bahnfahren kann. Ich bräuchte Hilfe, hat man mir gesagt. Nein, ich bin ein Kämpfer, ich brauche keine Hilfe. Schhh.

Es war vor exakt 352 Tagen. Der 1. April. Meine einzige Chance hier rauszukommen und mir zu helfen war, die 23 Sekunden zu nutzen. Die 23 Sekunden. Meine 23 Sekunden.
Jeden Morgen um 9 Uhr 15 kommt der Speisewagen, der uns das Essen liefert, das wir uns dann in der Küche zubereiten können. Jeden Morgen um 9 Uhr 15 müssen vier von uns das Essen ausladen. Am 25. März war ich an der Reihe. Eine Woche lang musste, nein, durfte ich das Essen ausladen. Ich nutzte diese Woche um meine Flucht zu planen. Die Tage verliefen immer gleich:
Das Große Tor öffnete sich. Der Wagen fuhr ein. Er wendete. Es war ein blauer Kleinbus. In der Zwischenzeit war das Tor wieder zu. Dann durften wir auf den Hof und die Behälter in die Küche schleppen. Jeder nahm einen Behälter. Jeder musste zweimal gehen. Ich wollte immer der Letzte sein, der den Behälter wegbringen musste. Wenn wir zweimal gegangen waren, kamen wir auf unsere Zimmer, also nicht mehr auf den Hof. Nachdem sich das Tor geöffnet hatte, fuhr der Wagen wieder los, und das Tor blieb 23 Sekunden offen. Meine 23 Sekunden.
Wir standen in einer Reihe in der Küche. Ich war der Letzte in der Reihe. Vor uns lag die zweiflüglige braune Stahltür, die zum Hof führte. Die Tür wurde geöffnet. Wir gingen in Reih und Glied in sehr kleinen Schritten zum Auto. Der Fahrer stand hinter seinem Kleinbus und sah auf die Uhr. Wir blieben in unserem Rhythmus. Jeder von uns nahm sich eine Kiste aus Edelstahl. Wir machten uns auf den Rückweg zur Küche. Die Abstände waren größer geworden, da man einige Sekunden brauchte, um in den Kleinbus zu steigen und sich einen Behälter zu nehmen. Das Gleiche wiederholte sich jetzt ein weiteres Mal, wobei die Abstände zwischen uns noch größer geworden waren.
Ich stand also hinter dem Kleinbus. Die anderen brachten schon zum zweiten Mal ihre Behälter in die Küche. Der Fahrer war wie immer sehr nervös, weil er weiter wollte. Wir waren ihm wie immer zu langsam. Ich kletterte ein letztes Mal in den dunkeln Wagen. Mein Gewicht drückte das Auto nach unten. Ich nahm den letzten Behälter in die Hand. Ich stieg aus dem Auto und der Wagen erhob sich wieder. Mit dem letzten Behälter in der Hand stand ich hinter dem Kleinbus. Etwa fünfzehn Meter vor mir war der bewachte Eingang zur Küche. Ich machte mich langsam auf den Weg. Schritt für Schritt. Der Fahrer startete den Wagen, also musste sich das Tor öffnen. Ich ging noch einen Schritt. Schhh. Noch sechs Meter bis zur Küche. Das Tor öffnete sich. Meine 23 Sekunden begannen.
Ich warf den Behälter zur Seite, drehte mich um und rannte los. Noch 22 Sekunden. Es waren zweiundfünfzig Meter bis zum Tor. Der Wagen fuhr vor mir. Es waren sieben Meter bis zum Kleinbus. Noch 18 Sekunden. Ich kam dem Auto immer näher und auch dem Tor. Ich war auf der Höhe des Wagens, der besonders langsam zu fahren schien. Noch 15 Sekunden. Oder ich war besonders schnell. Man sah, dass ich fliehen wollte, und rannte mir hinterher. Noch 10 Sekunden. Sie versuchten das Tor schneller zu schließen. Meine 23 Sekunden. Der Kleinbus gab Gas und war auf der Höhe des Tores. Ich war direkt hinter dem Wagen. Noch höchstens 5 Sekunden. Ich rannte. Der Wagen stoppte. Ich fiel.

Jetzt bin ich allein. Natürlich haben sie mich gekriegt. Jetzt darf ich noch nicht einmal das Essen ausladen. Das ist meine Strafe, aber es hilft mir ja. Sie haben Recht. Ich brauche Hilfe. Ich brauche Hilfe, hier rauszukommen. Alleine schaffe ich das nicht, das weiß ich. Aber ich habe mich damit abgefunden. Und es ist besser so. Schhh.
Und es ist besser so. Und es ist besser so. Was dieser Satz alles bewegen kann. Und es ist besser so. Meine Lena, ja ich liebe und ich werde auch geliebt, sagte diesen Satz ständig. Jeder hat seinen eigenen Satz. Sie sagte: ,,Und es ist besser so.“ Sie sagte diesen Satz zu jeder Gelegenheit. Und es ist besser so. Er drückt ihre Gleichgültigkeit aus, zu allem, was sie sieht und empfindet. In meiner Gegenwart sagte sie diesen Satz ständig. Ich hasse diesen Satz. Wenn ich sonst nichts hasse, aber diesen Satz hasse ich. Er konnte, wenn er aus ihrem Mund kam, alles zerstören. Sie wusste, dass sie mich mit diesem Satz umbringt. Aber es war dann doch anders. Und es ist besser so.

Es fing alles ganz harmlos an und blieb es auch. Bis sie mich eines Tages verlassen hat. Sie hat mich einfach verlassen. Ich konnte es nicht verhindern und will es auch gar nicht mehr rückgängig machen. Ich bin froh, dass sie mich verlassen hat, denn so kamen wir uns näher. Sie wollte mich verlassen und im Prinzip half ich ihr dabei. Es war nicht einfach. Nicht für sie und nicht für mich, aber sie wollte es so.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Es war der zweite Dienstag im April. Ich kam gerade von meiner Arbeit nach Hause und stieg in die U-Bahn. Die U-Bahn war wie immer überfüllt mit Menschen, die es zu eilig hatten und nach Hause wollten. Ich saß auf meinem Platz und genoss die Fahrt und konnte mich erholen. Am meisten liebte ich es, die Stationsansagen mitzusprechen: ,,Lichtenberg. Übergang zum DB-Fernverkehr, zum Regionalverkehr, zur S-Bahn und zur Straßenbahn.” Und wenige Sekunden später: „Ausstieg links.” Es war immer der gleiche Platz, auf dem ich saß. Es war immer die gleiche Handlung, die sich wiederholte:
Ich saß auf meinem Platz und las ein Buch. Oft genug war es einer dieser Groschenromane, die niemand schrieb und niemand las. Es ging um nichts. Eigentlich nur um Liebe. Die Geschichte war immer die gleiche. Ich weiß nicht, warum ich diese Hefte las, aber ich war fasziniert von den Personen, die sich liebten und immer zusammen kamen, wenn sie einander nur in die Augen schauten oder einander berührten. Es war eine wunderbare Welt, die erzählt wurde. Ich las in diesen Geschichten und schlug das Buch am Bahnhof Magdalenenstraße zu. Die Bahn fuhr an. Ein letztes Mal wollte ich diesen Moment erleben. Schhh. Die Bahn fuhr. Ich packte das Buch in meine braune Tasche, die ich einst von meinem Vater zur Jugendweihe geschenkt bekam. Ich saß auf meinem Platz und wartete auf die Stationsansage. „Lichtenberg. Übergang zum DB-Fernverkehr, zum Regionalverkehr, zur S-Bahn und zur Straßenbahn.“ Wieder dieses kurze Verschnaufen. „Ausstieg...“ Ich erhob mich. „...links.“ Und ging zu der Tür. Der Zug fuhr ein. Schhh. Ich stieg aus und ging noch genau 12 Minuten zu meiner Wohnung.
Ich mochte diesen Weg nicht. Er war nicht lang, aber hässlich. Es gibt schöne und hässliche Wege. Meiner war hässlich. Die Wege, die man tagtäglich geht, werden, je öfter man sie benutzt, immer hässlicher. Sie können nichts dafür, aber es ist so. Man kann es nicht ändern, weil man einfach alles kennt. Man kennt die Namen an den Hauseingängen. Man kennt die Verkäufer der Dönerbuden. Man kennt die Graffitis an den Wänden und man will alles nicht mehr sehen. Wege beginnen einen zu langweilen, weil sie sich nicht verändern. Es war immer das gleiche Geschehen, das ich sah, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, und immer der gleiche Weg, der mich von der U-Bahn nach Hause führte.
Doch damals war es anders. Mir war alles so bekannt, aber doch so fremd. Ich entdeckte meinen Weg ganz neu. Es standen Bäume an den Straßen, die mir zuvor nie bewusst geworden sind. Es waren Menschen auf den Straßen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Es war alles so fremd. Auch die Farben schienen sich zu verändern. Die Graffitis an den Wänden leuchteten in grellen Farben, so dass sie einen gleich in die Augen sprangen und auch die Stufen zu meiner Wohnung im 4. Stock waren blau und nicht mehr grün. Sie waren jahrelang grün gewesen. Jeden Tag sah ich dieses abgelatschte grüne Linoleum. An diesem Tag war es anders. Ich konnte mir die Andersartigkeit nicht erklären und wollte es auch nicht. Und es ist besser so. Vielleicht hätte ich alles verhindern können. Vielleicht hätte sich alles geändert. Vielleicht hätte meine Lena mich nicht verlassen. Nein. Sie hätte mich bestimmt verlassen. Aber anders. Sie hätte mich nicht verlassen müssen. Sie wäre freiwillig gegangen. Aber sie hatte keine Wahl. Was hätte sie auch tun sollen?

Wir lernten uns in einem Theater kennen. Lena und ich. Ich bin Schauspieler. Ich spiele den Mephisto in Goethes „Faust“ und sie machte die Maske. Jeden Abend außer montags stand ich auf der Bühne:

Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mir Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, dass es zugrunde geht;
Drum besser wär's, dass nichts entstünde.
So ist den alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.

Sie machte mir geduldig die Haare und puderte mein Gesicht weiß. Ich liebte es, wenn sie mit ihren zarten Händen meine Haare zu einem Zopf zusammen band. Ich liebte das Gefühl, wenn sie mit ihrem Pinseln meinem Gesicht eine Maske aufsetzte. Ich liebte sie. Lena sprach, wenn sie arbeitete, nicht viel. Sie puderte mich liebevoll. Bevor ich auf die Bühne ging, strich sie mit ihrem Zeigefinger über meinen Mund. Sie ist eine so wunderbare Frau.

Ich stand vor meiner Tür und suchte meinen Schlüssel, der sich wie immer in der untersten Ecke meiner Tasche, die ich einst von meinem Vater zur Jugendweihe geschenkt bekam, befinden sollte. Doch an diesem Tag war er nicht da. Er war verschwunden. Ich konnte mich auch nicht erinnern, dass ich den Schlüssel am Morgen eingesteckt hatte. Es war mir ein Rätsel. Mein Schlüssel war verschwunden. Ich musste ihn wohl am Vortag verloren haben. Anders konnte ich mir die Situation nicht erklären. Ich war beruhigt, dass sich die Andersartigkeit des ganzen Tages darin auflöste, dass mein Schlüssel verschwunden war. Ich klingelte bei unseren Nachbarn, die von uns, gerade für diese Situationen, einen Schlüssel bekommen hatten und ging mit dem Schlüssel in der Hand zur Tür. Ich stand wieder vor der Tür, doch war da mehr, als ich hätte ahnen können. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss. Diese unbewusste Handlung wurde mir bewusst. Meine ganze Energie steckte in dem Schlüssel, der nun die Aufgabe hatte, sein Loch zu finden. Der Schlüssel steckte. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Die Zeit, die ich so sehr bewunderte, fiel mir in den Rücken und blieb stehen. Ich wusste nicht, was als Nächstes geschehen würde. Schhh. Ich war sehr angespannt und drehte den Schlüssel langsam um und öffnete die Tür.

Lena ist so leicht zu begeistern. Das finde ich bezaubernd. Sie freut sich über alles. Sie lacht über alles. Sie hat einen fabelhaften Humor. Sie ist, wie ich nie sein konnte. Ich habe die Welt nie verstanden. Sie steht immer im Mittelpunkt. Sie lacht und unterhält alle um sich herum. Man wird, wenn man mit ihr zusammen ist, immer kleiner und kleiner, weil sie immer so aktiv ist. Man steht immer in ihrem Schatten, weil sie eine Kämpferin ist.

Jeden Abend nach dem Theater gingen wir in ihr Lieblingscafé. An diesen Ort, den ich stets zu vermeiden suchte. Es war ein grauenhafter Ort, der noch heute Ekelgefühle bei mir weckt. Dieses Café war so fade und wässrig wie der Kaffee, den sie dort servierten. Wenn ich auch sonst nichts hasse, aber diesen Laden hasse ich. Aber sie liebte ihn. Der ganze Raum stank nach Rauch und es war dunkel. Das Café war eine größere Abstellkammer. Sie liebte ihre Abstellkammer. Sie liebte die Leute, die sich dort jeden Abend trafen. Und sie liebte die Musik. Ich hasste ihre Abstellkammer. Ich hasste die Leute, die sich dort jeden Abend trafen. Und ich hasste die Musik. Aber ich liebte Lena.
Jedoch war es bezaubernd, wenn wir an unserem Tisch saßen und ihr Gesicht im Kerzenschein leuchtet und sie ihre Erlebnisse des ganzen Tages erzählte. Sie war immer so voller Energie, wenn sie erzählte. Sie ist die eigentliche Schauspielerin. Sie ist die wahre Kämpferin. Sie redete und redete. Sie holte kaum Luft. Ich kam nie zu Wort. Ich hörte ihr nur zu und wollte nichts sagen. Ich saß da und schaute sie nur an. Das war das Schönste. Ich saß da und schaute sie nur an.

Ich öffnete die Tür und schaute sie nur an. Ich stand da, wie angewurzelt. Ich hielt die Türklinke in der rechten Hand und schaute sie nur an. Ich konnte mich nicht bewegen. Am liebsten wäre ich umgefallen und hätte alles vergessen, was ich sah. Aber ich hielt mich zu stark fest. Ich schaute sie nur an und mir wurde gar nicht bewusst, dass ich sie anschaute. Sie hing vor mir und regte sich nicht.
Ich schloss die Tür und ging in die Küche. Ich setzte mich an den Küchentisch und nahm mir einen Apfel. Ich aß den Apfel und sah aus dem Fenster. Ich sah aus dem Fenster und aß meinen Apfel. Ich sah aus dem Fenster und sah, dass ich meinen Apfel aß. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Küche saß und meinen Apfel aß. Es muss Stunden gedauert haben. Schhh.
Der Mond strahlte mir ins Gesicht und ich saß immer noch vor dem Fenster. Ich war müde. Lena war sicher auch müde, daher stand ich auf, nahm sie vom Strick und legte sie in mein Bett.

Es war die schönste Nacht in meinem Leben.
Es war eine Mitternachtsvorstellung. Wir alle waren müde und wollten nach Hause oder in eine der vielen Abstellkammern. Das Publikum war begeistert. Ich stand auf der Bühne und schrie: „Her zu mir!“. Das war der letzte Satz, den ich zu sagen hatte. Ich riss Faust an mich und wir beide verschwanden hinter einer großen Nebelwolke. Die Bühne war jetzt ganz leer. Das Licht ging aus. Es dauerte einige Sekunden und das Publikum begann zu klatschen. Es war wie jeden Abend begeistert. Es war 24 Uhr 32, als ich ein letztes Mal auf die Bühne ging und mich verbeugte. Ich mochte es nie, mich allein auf die Bühne zu stellen und mich feiern zu lassen. Man fühlte sich so nackt und beobachtet. Es ist ein grauenhaftes Gefühl, wenn man von achthundert Augen beobachtet wird. Vielleicht waren es noch mehr, aber das mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich war erschöpft und froh, dass ich nun nach Hause gehen konnte.
Ich ging von der Bühne in die Maske um mich abschminken zu lassen. Es war Lena, die neben meinem Stuhl stand und mir sorgfältig die weiße Schminke aus dem Gesicht rieb. Ich war sehr überrascht ein neues Gesicht an unserem Theater zu sehen. Sie sagte nur: ,,Ich bin neu hier.“ Ich sah in ihre rehbraunen Augen und wusste, dass sie neu hier war. Solch wunderschöne Augen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sie waren bezaubernd und ließen einen nicht mehr los, wenn sie einen erst einmal erblickt hatten. Es war kein Starren, sondern vielmehr ein interessiertes Betrachten. Ich schaute ihr sehr lange in die Augen und merkte gar nicht, dass sie schon längst fertig war. Ich saß in dem Stuhl und schaute in ihre Augen, die mich nicht verunsicherten. Ich fühlte mich nicht nackt oder beobachtet. „Fertig“, meinte sie. Sie ist anders als die anderen. Die Art und Weise wie sie mich abgepudert hatte, war so erregend, dass ich ihr ...

Es war die furchtbarste Nacht in meinem Leben.
Ich konnte nicht schlafen, da ich nicht müde war. Ich lag in meinem Bett und betrachtet Lena, aber sie rührte sich nicht. Ich strich mit meinem Zeigefinger über ihren Mund. Sie lag da und schien zu schlafen. Ich beneidete sie. Nein, ich hasste sie. Ich lag neben Lena und erinnerte mich an unsere Zeit und ich begann mich wieder in Lena zu verlieben.

Heute weiß ich, dass es besser ist, wenn man keine Erinnerungen hat. Es bringt nur Probleme, wenn man sein Herz an unwichtige Dinge hängt. Leider gibt es keine wichtigen Dinge. Die Erinnerungen machen einen fertig. Sie sind nicht schön und auch nicht wichtig. Sie sind abscheulich und unwichtig. Sie lassen einen nicht mehr frei, wenn sie sich der Gedanken bemächtigt haben. Ich hätte alle meine Erinnerungen zerstören sollen. Schh. Erinnerungen zerstört man, indem man an nichts erinnert wird. Manchmal will man einfach Veränderungen. Und man braucht sie immer.
Viele Wohnungen verstecken sich hinter Andenken und Mitbringseln. Im Grunde sind sie ein Nichts. Die einzige Aufgabe der Souvenirs ist es einzustauben, und das tun sie ziemlich gut. Ich habe sie nie richtig verstanden. Ich verstand, dass sie Geld kosten und rumstehen. Aber das Warum verstand ich nie. Oft erinnern sie nur an einen Urlaub, den man sowieso vergessen will, an ein Ereignis, das das Schrecklichte im Leben war oder an eine Liebe, die längst vergangen ist. Erinnerungen werden im Laufe der Zeit immer schlimmer. Erst sind sie schön und man kann nicht genug von ihnen bekommen. Aber irgendwann nehmen sie so viel Platz ein, dass man nicht mehr atmen kann. Es ist ein grauenhaftes Gefühl und ich erinnere mich nur schmerzlich.
Als ich noch zur Schule ging, war ich Buchstabier-Schulmeister. Pokale und Urkunden zierten mein Zimmer. Ich war immer der Beste. Ich stand gern in meinem Zimmer und sah mir die Urkunden an. Ich freute mich sie zu sehen. Heute bekomme ich sie nicht mehr aus meinem Kopf. Sie werden mich wohl ein Leben lang verfolgen, obwohl ich heute kein Buchstabier-Schulmeister mehr bin. Außerdem interessiert es heute keine Sau und es hat damals auch keine Sau interessiert, dass ich Schulmeister war. Es war und ist sinnlos. So ist es mit allen Gegenständen in Wohnungen. Sie haben keine Bedeutung und müssen weg. Es gibt Tage, da muss man einfach alles ändern. Man will neue Tapete an den Wänden. Man will Farbe und Leben. Man will den Nagel aus der Wand ziehen, an dem schon seit Jahren kein Bild hängt. Man will den dreckigen Teppich nicht mehr sehen und auch nicht die Flecken, die man immer versuchte abzudecken, indem man Blumentöpfe draufstellte. Der ganze alte Schrott muss verschwinden. Der ganze Rotz muss ein für alle mal aus allen Wohnungen, aus allen Häusern, aus der ganzen Welt verschwinden. Schhh.
Ich liebe das Nichts. Man wird nicht abgelenkt und hat seine Ruhe. Shhhh. Hier habe ich meine Ruhe. Man muss sich von den Erinnerungen trennen. Man muss kämpfen. Die Erinnerungen machen einen fertig. Ich weiß das. Jeder Gegenstand erzählt doch nur seine Geschichte, die niemand hören will. Man fühlt sich so eingeengt, in der Enge der Gedanken.
Ich mochte es früher, mein Zimmer aufzuräumen. Es war immer sauber. Jedoch fiel es mir immer schwer, Andenken oder Geschenke wegzuwerfen. Diese ganzen Gegenstände, die man bekam oder kaufte und eigentlich nicht wollte und auch nicht brauchte, waren nur im Weg und ließen sich nicht zerstören. Man will und kann die Marzipan-Rose aus Lübeck, die schon jahrelang im Schrank liegt, nicht mehr sehen. Man hasst Marzipan, man hasst Rosen und man hasst Lübeck. Aber trotzdem muss man sich überwinden das Scheißteil endlich in den Müll zu hauen. Jedoch spätestens am nächsten Morgen kramt man die Rose wieder aus dem Müll und alles bleibt beim Alten. Zu den vielen Gedanken und Gefühlen, die sich um die Rose hegen, gesellt sich nur noch das Schuldgefühl, weil man sie einst wegwerfen wollte. Die Rose liegt wieder im Schrank, man hat verloren und hasst sie noch mehr. Der Rose ist es egal und mir auch. Ich musste mich von allem trennen, was mir lieb war und ich bin froh darüber. Ich wurde von allem getrennt. Auch von Lena.

Jetzt habe ich Angst. Schhh. Sie finden das komisch? Nein, das ist es nicht. Ich meine es Ernst und das ist es auch. Aber ich habe Angst. Ich habe schon immer Angst gehabt. Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man vor allem und jedem Angst hat. Ich meine nicht die Angst-vor-Spinnen-Angst oder Höhen-Angst. Man fühlt sich unsicher und allein. Ich denke, es war die Einsamkeit, die mich immer begleitet. Die Einsamkeit hat mir Angst gemacht. Nachdem ich sie verlassen musste, war ich wieder allein und hatte Angst. Hier habe ich Angst. Schhh. Lena war die einzige, die mir meine Angst nahm. Nein. Sie machte mir meine Ängste erträglicher, denn bei ihr bekam ich eine andere Angst. Eine, die mich nicht ständig verfolgte, sondern nur in ihrer Gegenwart. Es war wie ein Tausch. Es war kein guter Tausch, aber da ich mit Lena zusammen sein wollte, blieb mir nichts anderes übrig. Bei ihr hatte ich diese Ich-Darf-Mich-Nicht-Blamieren-Angst. Immer, wenn wir uns trafen, wurde ich fast verrückt. Mein Herz schlug wie wild und ich vergaß alles um mich herum und war glücklich. Sie stand im Mittelpunkt und ich bewunderte sie. Ich wollte auf mich aufmerksam machen. Um meine Angst zu verstecken, redete ich viel. Ich wollte, dass sie mir zuhörte, aber gesagt hatte ich nichts. Ich war immer darauf bedacht, nicht peinlich zu sein und ich denke, dass es mir nicht gelungen ist.
Nein. Es kann mir gar nicht gelungen sein. Warum? Ich bin zu verliebt. Ja. Ich bin verliebt. Und das war das Schlimmste, was mir passieren konnte. Nicht, dass ich nicht glücklich war, aber diese Angst, die mich auf Schritt und Tritt verfolgte, zerstörte alles. Das klingt verrückt und das ist es wohl auch.

Es fing alles ganz harmlos an. Wir trafen uns in Kneipen, die ich hasste, in Kinos, die ich liebte, und trafen uns immer wieder zufällig. Ehrlich gesagt, war es oft mehr als ein Zufall. Es war mein Drang sie zu sehen und bei ihr zu sein. Sie ertrug diesen Drang und klagte nie. Ich war immer glücklich, wenn ich mit ihr zusammen war. Sie merkte nie, dass ich oft ihr Schicksal in die Hand nahm. Sie wollte scheinbar so leben und musste es auch, denn ich konnte mich nicht von ihr lösen.
Sie konnte sich jedoch von mir lösen. Sie kündigte von heute auf morgen und verließ Berlin. Sie ging, soviel ich hörte, nach München. Ich war überrascht. Sie nahm mein Schicksal in die Hand. Ich hatte nie damit gerechnet, dass sie mich so im Stich lassen könne. Ich war enttäuscht von meiner Lena. Ich konnte es nicht verstehen. Ich wollte sie wiedersehen und nahm wieder ihr Schicksal in die Hand.
Es war kein Zufall, dass wir dreizehn Tage nach ihrer Flucht ein Gastspiel in München hatten. Ich setzte alle Hebel in Bewegung, damit ich mit einem richtigen Grund nach München kommen konnte. Eigentlich wollte ich alles vergessen, alles aufgeben, besonders Lena. Aber es gelang mir nicht. Ich hoffte, sie nie wieder zu sehen, aber wir ließen einander nicht frei. Mich zog es, als wir in München angekommen waren, durch alle Straßen, in alle Abstellkammern und quer durch die ganze Stadt. Die ganze Kraft für meine täglichen Expeditionen gab mir die Hoffnung, sie bald wiederzusehen und wieder mit ihr zusammen zu sein.
Nach zwei Tagen wusste ich, wo sie wohnte. Ihr neues Zuhause war aber mehr eine Art Notunterkunft, ein Bunker in einem nie endenen Krieg, der sie zwar schützte, aber der ihr nicht gefiel. Es war ein Neubau, der so klein war, dass sie sich sicher nicht wohlgefühlt hatte. Die Wohnung bot nicht genug Platz für ihre Energie, ihre Kraft und ihre Schönheit.
Jeden Tag lief ich die Straße vor ihrem Haus drei Stunden lang auf und ab, um ihr dort zufällig zu begegnen. Ich vermutete, dass sie wahrscheinlich sehr früh das Haus verlassen würde, denn sie schlief, genau wie ich, nicht sehr lang.
Wir gingen beide spät ins Bett und standen früh auf. Ich wusste viel über ihr Leben und ihre Gewohnheiten, weil sie ständig davon erzählte. Ich wusste, was sie in der Nacht trug und wann sie schlafen ging, obwohl wir nie miteinander geschlafen haben. Es kam einfach nicht dazu, und ich denke, dass ich mich auch nicht getraut hätte. An diesem Punkt, wenn ich uns beide zusammen in einem Bett sah, wurde meine Ich-Darf-Mich-Nicht-Blamieren-Angst am größten. Ich hatte wirklich Schiss vor ihr zu versagen, daher ließ ich es nie dazu kommen. Dieser eine Akt war mir nie so wichtig gewesen. Ich habe nie verstanden, warum dieser eine Augenblick, der so schön und doch so eklig ist, das sein soll, wofür man lebt. Es ist schön, aber nicht das, was ich von ihr will. Ich fand es viel schöner, neben ihr aufzuwachen, aber auch dazu kam es nie. Ich habe es aber geschafft, dass ich sie am fünften Tag zufällig vor ihrer Haustür antraf.
Sie war überrascht. Und dieser Blick, wenn sie überrascht ist, ist das Schönste an ihr. Ihre rehbraunen Augen werden groß, sie zieht die Augenbrauen nach oben, richtet ihren Kopf ein Stück nach rechts und dann lächelt sie. Sie fiel mir in die Arme und schien sichtbar glücklich. Sie war glücklich jemanden zu sehen, den sie kannte. Die Erinnerung an mich machte sie glücklich. Und mich auch. Ich genoss es, von ihr umarmt zu werden. Und merkte schon damals, dass sie unglücklich war in dieser Stadt voller Chaoten, die auch sie nicht verstanden. Sie floh vor mir aus ihrer Heimat, aus ihren Wurzeln und konnte nicht mehr leben, da ihr der Antrieb fehlte. Sie vegetierte nur vor sich hin. Sie hat mir nie gesagt, dass ich die Ursache war, aber im Grunde habe ich nie daran gezweifelt. Warum auch sonst hat sie mir nie gesagt, dass sie weg will. Sie hätte alles mit mir besprechen können, aber sie tat es nicht. Sie haute einfach ab.
Ich dachte, dass ich sie ändern könnte, aber das kann man nicht. Man kann keine Menschen ändern, jedenfalls nicht so, wie man sie haben will. Man erreicht immer das Gegenteil.
Aus Liebe zum Theater sprang sie für die neue Frau der Maske ein, die auf der Zugfahrt nach München krank geworden war und nun das Hotelzimmer hüten musste.
Es war wie ein Traum. Ich war glücklich. Es war ein Zeichen, denn alles war so wie früher. Es war alles so vertraut und so glücklich. Wieder fuhr sie mit ihren Händen durch meine Haare und machte mir einen Zopf, wieder puderte sie mir das Gesicht und wieder setzte sie mir eine Maske auf wie sie es hunderte Male zuvor gemacht hatte. Doch diesmal war es viel kühler als sonst. Das Gefühl und die Liebe fehlten. Sie war kalt und mechanisch. Sie gab nur vor mich zu mögen, das spürte ich, aber ich spürte auch, dass sie mich liebte. Ich hoffte es.

Ich hoffe es immer noch. Ich weiß es nicht, weil es jetzt zu spät ist und ich es nie erfahren werde, warum sie mich liebte, warum sie mich hasste, warum sie wegging, warum sie wiederkam, denn sie kam wieder nach Berlin.
Ich sitze hier stundenlang und weiß es nicht. Über uns haben wir nur selten gesprochen. Eigentlich war immer alles klar und es gab nichts zu besprechen. Sie machte, was sie wollte, und ich machte alles für sie. Wir nähern uns immer mehr an, aber sie wird mir immer fremder. Ich weiß es nicht. Es entstand ein Ungleichgewicht zwischen uns, das wir nicht ausgleichen konnten. Aber so ist das in der Liebe. Die Liebe kann nicht jeden zufrieden stellen. Ich weiß nicht, wie das gehen soll.
Man wird dumm hier. Wenn man hier ist, ist man nicht dumm, man ist es, wenn man wieder rauskommt, wenn man je wieder rauskommt, was nur den Wenigsten gelingt. Es ist immer das Gleiche. Immer das Gleiche, das ist das Schlimme. Es wird sich nichts ändern. Schhh. Eigentlich hat hier jeder seine eigene kleine Welt. Hier kann jeder für sich Gott sein, denn man kann selbst bestimmen, was geschehen soll. Man herrscht über sich, über seine Gedanken, seine Wünsche, seine Erinnerungen, sein Ich. Jeder weiß, dass nach dem Frühling der Sommer folgt, nach dem Sommer der Herbst und nach dem Herbst der Winter und dann geht es wieder von vorn los. Es ist auch in der richtigen Welt immer das Gleiche. Manchmal sind die Winter wärmer und die Sommer kälter, als der Lebende es gewohnt ist. Aber man muss sich nur anpassen. Ich habe mich hier auch angepasst und es hat ihr und mir gut getan. Wir fanden wieder zueinander. Wir näherten uns wieder an. Ich rief sie an und traf sie. Ich passe mich ihr an, damit sie nicht wieder flieht. Ich wollte bei ihr sein und sie beschützen. Sie sollte keine Angst haben. Hier ist es auch so, ich muss mich nur anpassen, dann ist alles gleich und ich kann leben. Ich weiß, was ich tue, mir ist es bewusst, was nicht bei jedem der Fall ist. Man muss für sich kämpfen.

Wir hatten uns also wiedergefunden, Lena und ich. Wir gingen wieder nach Berlin. Sie kam wieder mit, weil Bayern einfach nicht ihr Klima sei, wie sie sagte. Ich wusste, dass sie nur wegen mir wieder zurückkam. Sicherlich haben wir diesen Abstand gebraucht. Wir brauchten die drei Monate, die wir uns nicht sahen. Jetzt war alles so wie früher und ich war glücklich. Ich hatte für sie gekämpft und hatte gewonnen. Ich bin ein Kämpfer. Das wusste ich schon immer.

Auch früher in der Schule. Nie hat jemand gewagt mich anzufassen oder sich mit mir anzulegen, weil sie genau wussten, dass ich ein Kämpfer bin und mich nicht unterdrücken lasse. Ich war noch nie abhängig von irgendjemandem, ich habe immer allein gekämpft. Jeden Tag aufs Neue habe ich meinen Mut und meine Stärke bewiesen. Und es ist mir immer gelungen. Ich war der Schüler, der den Lehrern sagte, dass sie Mist erzählen, ich war der Schüler, für den alle Mädchen schwärmten, ich war der Schüler, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte, ich war der Schüler, der immer die tollsten Ferien hatte und ich war der Schüler, den jeder seine Hausaufgaben und sein Taschengeld gab. Ich war der Held der Klasse, ich wurde von allen geliebt. Ich bin ein Kämpfer. Kämpfer sind so. Kämpfer müssen so sein.
Ich bin kein Kämpfer. Nein. Ich will Sie nicht belügen. Ich will Ihnen die Wahrheit erzählen. Schhh. Sie sollen von der Wahrheit wissen. Es war anders. Ganz anders.
Immer haben alle gegen mich gekämpft. Immer wurde ich geschuppst und gehänselt, nur weil ich ein guter Schüler sein musste. Es ist mir nie gelungen, meinen Mut und mein Stärke zu beweisen. Ich suchte immer Schutz bei den Älteren, die mich dann aber doch nur ins offene Messer laufen ließen. Ich bin der Schüler, der den Lehrern die Tafel wischte, ich bin der Schüler, der nie ein Mädchen geküsst hat, ich bin der Schüler, der nie was zu sagen hatte, ich bin der Schüler, der immer zu Hause saß oder mit seinen Eltern an den Wannsee fuhr und ich bin der Schüler, der jedem seine Hausaufgaben und sein Taschengeld gab. Ich war die Waise der Schule, alle hassen mich. Alles, was sie mir ließen, war die braune Tasche, die ich einst von meinem Vater zur Jugendweihe geschenkt bekam. Dafür zeigten sie kein Interesse. Zumindest beschränkte es sich darauf, dass sie die Tasche nie zerschnitten oder klauten wie sie es mit meinen Schuhen, Jacken und Turnbeuteln taten.
Wenn ich auch sonst nichts hasse, aber meine Eltern hasse ich dafür, dass sie mich so zur Schule gehen ließen. Ich war der letzte Trottel, der scheinbare Sohn von zwei Altkleidercontainern. Meinem Ansehen nutzte es auch nicht, dass ich immer der Beste war. Ich war wirklich nie schlecht. Ich war immer ein guter Schüler, fleißig und artig, nett und hilfsbereit. Dafür hasse ich meine Eltern. Ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Ich habe alles zerstört, was mich an sie erinnert. Das ist das Einfachste. Jetzt sind sie fort. Ich kenne sie nicht mehr. Sie haben mich immer gezwungen zu lernen, zu lesen und zu rechnen. Und ich habe nicht gekämpft. Ich war kein Kämpfer. Ich wollte immer einer sein, aber ich habe es nie geschafft. Man kann es auch nicht schaffen. Entweder man wird als Kämpfer geboren oder man stirbt.

Lena ist eine Kämpferin. Sie kämpft gegen mich. Das ist unser Spiel. Sie kämpft gegen mich, wie es jeder tut, der mich kennt oder nur auf der Straße sieht. Lena ist die beste Kämpferin, die ich je gekannt habe. Und ich habe viele Menschen gekannt. Damals. Damals, als alles noch besser war. Als alles noch freier und abwechslungsreicher war. Damals. Damals, als ich mit Lena stundenlang telefonierte, damals als wir zusammen ins Kino gingen, damals als wir die Stadt nach neuen besseren und größeren Abstellkammern absuchten, damals als ich noch nicht hier war.
Hier, hier ist mein Ende. Hier komm ich nicht raus. Hier bin ich und hier werde ich bleiben, bis die Zeit kommt, dass ich gehen darf. Die Zeit, die Lena schon längst eingeholt hat, aber mich noch nicht einmal bemerkt. Es kann wohl noch ewig dauern, aber ich werde kämpfen, denn heute bin ich ein Kämpfer. Ich werde es schaffen und die Wahrheit ans Licht bringen. Die Wahrheit, die uns alle angeht. Nicht nur mich und Lena. Wir wissen, was die Wahrheit ist, aber die Welt soll es auch wissen. Denn es ist nicht einfach mit einer Lüge zu leben. Das ist das Schwerste. Die Lüge. Ich bin ganz offen. Ich habe immer gelogen und werde immer lügen. Schhh. Aber nicht heute und nicht jetzt. Sie sollen die Wahrheit erfahren und in die Welt tragen. Ich kann es nicht, ich bin hier. Aber Sie, Sie sind frei, Sie können mit U-Bahnen fahren, wie ich es auch mit meiner Lena getan habe. Wir sind viel umhergefahren, einfach nur so. Es war der Ort der Ruhe und Erholung für uns beide. Dort konnten wir wir sein und einander lieben. Jeden Tag, außer montags, fuhren wir zusammen ins Theater. Jeden Morgen wartete ich auf sie. Sie wusste genau, dass ich auf sie warten würde, aber sie kam selten pünktlich. Ich musste immer warten. Wenn ich auch sonst nicht hasse, aber Menschen, die unpünktlich sind, hasse ich. Ich kann es nicht ausstehen, warten zu müssen. Ich hasse die Unpünktlichkeit. Schhh. Die Pünktlichkeit gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Unsicherheit verbreitet sich in mir, wenn ich warten muss. Diese Unsicherheit vermischt sich mit Hass.

Es war ein Sonntag im September. Lena und ich wollten auf eine Party gehen. Das heißt, eigentlich wollte nur Lena auf diese Party und ich wollte mit Lena zusammen sein. Es war eine der Partys, die sie so liebte und die so angesagt waren, dass man sie gar nicht verpassen durfte. Wir haben es dann aber doch geschafft. Ich stand auf dem Bahnhof und freute mich auf das U-Bahnfahren und auf Lena. Ich war wie immer dreißig Minuten früher am Treffpunkt und wurde dadurch unfreiwillig in die Rolle des Warters gedrängt. Ich war immer zu früh, weil ich nicht unpünktlich sein wollte und weil ich nicht in Hektik geraten wollte. Ich fand das Gefühl grässlich, das einem sagte, dass man noch zwanzig Minuten hat, aber dreißig braucht. Ich war pünktlich und wartete auf Lena. Natürlich war sie wie immer zu spät. Aber das störte mich bei ihr nicht. Ich wartete geduldig. 20, 30, 40, 50 Minuten. Nach einer Stunde kam sie und meinte sie hätte noch zu tun gehabt. Ich war froh sie zu sehen. Ich freute mich auf unseren gemeinsamen Abend. Ich freute mich auf Lena. Ich freute mich ihre Stimme zu hören. Ihre wunderbare Stimme, die mir dann sagte, dass sie doch wieder nach Hause müsse, weil sie sich nicht wohlfühle und weil sie so müde sei. Es war ein Abend, den ich nicht mochte. Es war ein grässlicher Abend. Es war ein Abend wie jeder andere. Ich fuhr wieder nach Hause und sie auch.
Sie hatte mich wieder geschlagen in unserem Spiel, in unserem Kampf, aber das ist mir erst heute bewusst. Damals war ich deprimiert, dass sie mir die Freude nahm. Ich konnte es nicht fassen, dass sie so gelassen war, dass sie sich nicht freute, dass es ihr immer egal war. Aber sie hatte mir gesagt, dass es ihr nicht gut gehe. Ich glaubte ihr. Es war wohl besser so. Am Ende eines solchen Abends war ich froh meine übrig gebliebene Vorfreude auf den schon längst vermasselten Tag noch zu haben, denn die konnte sie mir nicht nehmen. Aber ehrlich gesagt, war das Gefühl, das an die Stelle der Vorfreude trat, viel schlimmer. Ich war traurig und zweifelte an Lena, aber ich liebe sie.
Ich liebe sie auch dafür, dass sie mich am selben Abend anrief. Das war wohl auch das Besondere an diesem Abend. Es war das erste Mal, dass sie bei mir angerufen hatte, das erste Mal, dass sie meine Nummer wählte, das erste Mal, und auch das ist mir erst heute bewusst geworden, dass sie etwas von mir wollte, sie wollte den Kontakt zu mir, sie wollte meine Nummer wählen, sie wollte mit mir sprechen, sie wollte mich. Ich war glücklich und schockiert zu gleich. Ich konnte es nicht fassen, dass ich, nachdem ich den Hörer von der Gabel genommen hatte, ihre Stimme hörte. Es war ein wunderbares Gefühl und mein Herz begann sehr schnell zu schlagen. Ich bekam wieder die Ich-Darf-Mich-Nicht-Blamieren-Angst und wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schwieg. Ich schwieg wie immer, wenn wir miteinander sprachen. Ich war nicht darauf vorbereitet. Ich erfuhr nur, dass sie mit mir sprechen wolle. Es sei dringend, fügte sie hinzu. Ich wusste, dass ich endlich gewonnen hatte. Ihr war es nicht mehr egal, dass sie mich einfach stehen gelassen hatte. Sie wollte mich. Ich hatte gewonnen. Ich hatte meinen ersten Kampf gewonnen und war kein Verlierer mehr. Ich war der Gewinner und der glücklichste Mensch der Welt.
Noch Stunden nach dem Anruf zitterten meine Hände und ich bewegte mich nicht. Ich saß einfach nur in meinem Zimmer und wartete. Ich hatte alles erreicht. Sie liebte mich.
Mein Kopf war durchtränkt von Informationen, die immer unsinniger wurden, je länger ich darüber nachdachte. Ich dachte viel darüber nach, was sie mir erzählt hatte. Wollte sie mich um zehn, oder um elf, oder um zehn nach elf, oder elf vor zehn oder am 10. um elf sehen. Da wir aber den 28. hatten und es schon um zehn war, ging ich los, in der Hoffnung, dass sie mich heute um elf sehen wollte. Ich war wie immer schon halb elf da, und somit konnte ich nichts falsch machen. Ich freute mich auf Lena und unseren gemeinsamen Abend.
Lena hatte die Abstellkammer ausgesucht, in der wir auch jeden Abend nach dem Theater waren, wir und die anderen Schauspieler und Theatermenschen. Ich freute mich nicht auf die Abstellkammer und auch nicht auf die ganzen Menschen, aber ich wusste, dass wir diesmal allein sein würden, allein zu zweit, denn sie hatte mich angerufen und sie wollte mit mir sprechen, sie wollte mich sehen, sie wollte meine Nähe spüren.
Ich musste natürlich auf Lena warten, denn ich war der Warter und sie kam pünktlich, wenn es nach ihrer Uhr ging. Es war wohl auch besser so. Ich setzte mich an einen Tisch, der in der hintersten Ecke stand und hinter dem ein Fenster war. Ich setzte mich mit dem Rücken zu den Menschen, die sich dort aufhielten, schaute aus dem Fenster und trank mein Bier. Schluck für Schluck. Lena kam um zwölf.
Sie setzte sich an meinen Tisch. Sie schaute mich an. Ich war gespannt, wie sie mir sagen wolle, dass sie mich liebe und dass sie mit mir zusammen sein wolle. Ich lächelte sie an, doch sie reagierte nicht. Sie war wohl sehr aufgeregt und nervös, weil so ein großer Schritt vor ihr lag. Sie schaute mich an und sagte nichts. Dann holte sie Luft. Mein Lächeln wurde immer größer und im Prinzip wusste ich ja, was sie mir sagen wollte. Ich war ihr zum ersten Mal überlegen, weil sie meine Angst hatte, sie musste sich überwinden, sie wollte es mir sagen. Dafür liebte ich sie. Sie holte Luft und meinte, dass es aus und vorbei sei. Sie sagte, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wolle und dass ich sie endlich in Ruhe lassen solle. Dann holte ich Luft. Es war wie ein Schlag ins Gesicht, der mein Lächeln in Luft auflöste. Sie hatte wieder gewonnen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich saß da und schaute sie nur an. All meine Träume, all meine Hoffnung waren dahin und ich begann zu lachen. Sie hatte wirklich einen fabelhaften Humor. Ich lachte und lachte und liebte sie dafür. Sie war eine großartige Person. Ich konnte mich nicht mehr halten. Sie saß da wie versteinert und regte keinen Muskel ihres Gesichts. Ich lachte. Dann holte sie aus ihrer Tasche die Briefe, die ich ihr geschrieben hatte. Alle Briefe waren ungeöffnet. Sie gab sie mir zurück. Sie gab mir meine Liebe zurück. Sie gab mir mein Leben zurück, das ich ihr geschenkt hatte. Es war also endgültig. Das verstehe ich erst heute. Sie wollte wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben und sie hat sich von allen Erinnerungen getrennt. Sie hat an diesem Abend nicht mehr viel gesagt. Sie saß nur da und hörte mir zu. Sie hörte mir zu und schien sich auch für mich zu interessieren. Sie liebte mich also doch. Es war nur wieder ein neues Spiel von ihr. Sie hatte einen fabelhaften Humor. Sie hätte mir auch am Telefon sagen können, dass es aus sei. Sie hätte die Briefe wegschmeißen können, sie hätte wegziehen können aus Berlin, aber das tat sie nicht. Sie kam zu mir in ihre Abstellkammer und zeigte mir, dass sie mich liebte. Sie blieb sitzen und hörte mir zu. Sie interessierte sich für mich, für mein Leben, für meine Liebe. Es war einfach einer der schönsten Abende.
Die nächsten Wochen und Monate übertrafen alles. Jetzt, wo ich wusste, dass sie mich auch liebte, schrieb ich ihr noch mehr Briefe, ich rief sie täglich an, ich überraschte sie, wo ich nur konnte.

Sie überrascht mich auch. Sie überraschte mich, sie schockte mich mit einer Tat, die ich von ihr nie erwartet hätte. Das soll nicht heißen, dass ich mich darüber freue. Im Gegenteil, dafür hasse ich sie. Wenn ich auch sonst nichts hasse, aber Lena hasse ich für diese Tat. Nein, sie rief mich nie wieder an. Es war endgültiger als alles andere, schlimmer als alles andere und auch liebevoller als alles andere.
Es war dieser besagte Dienstag im April. Der Dienstag, als mein Schlüssel verschwand, der Dienstag, an dem sie vor mir hing und ich in der Küche saß und meinen Apfel aß. Der Dienstag, den ich nie vergessen werde, der Dienstag, der kein wirklicher Dienstag mehr ist, der Dienstag, der alles verändert hat, und der Dienstag auf den ein ungewöhnlicher Mittwoch folgte.
An diesem Mittwoch erwachte ich zum ersten Mal neben ihr. Meine Träume hatten sich endlich erfüllt, endlich schlief ich zusammen mit ihr ein, endlich wachte ich zusammen mit ihr auf. Ich erwachte als erster. Sie war immer noch eiskalt und hatte immer noch einen roten Hals wie am Abend davor. Sie schien sich nicht verändert zu haben. Sie lag friedlich in meinem Bett und schien glücklich zu sein. Und ich war es auch. Es sollte der schönste Mittwoch in meinem, in unserem Leben werden. Ich stand auf und wollte für uns Frühstück machen.
Ich hasse Frühstücke, weil sie keinen Sinn machen. Aber sie liebe sie. Am Liebsten saß sie in einer ihrer Abstellkammern und aß stundenlang Frühstück. Ich verstand es nicht zu frühstücken. Ich war kein Frühstücker. Ich war wie jeder normal Mensch, am Morgen müde und hatte keine Lust zu irgendwas. Ich wollte nur wieder schlafen und tat nur das Nötigste um am Leben zu bleiben und mich auf den Tag, auf den nächsten Kampf, vorzubereiten. Frühstücker sind wunderbare Menschen. Sie sind immer voller Energie. Sie brauchen keinen Schlaf, deshalb können sie auch stundenlang frühstücken. Sie nehmen die Energie aus den Brötchen, der Marmelade und dem Kaffee. Ich hatte nicht diese Energie. Ich war kein Kämpfer. Ich bin kein Kämpfer.
Trotzdem stand ich auf und machte für sie Frühstück. Ich stand nur in meiner Unterhose in der Küche und kochte Eier, Kaffee und schmierte Brötchen. Ich setzte mich an den Küchentisch um Schnittlauch zu schneiden, denn Rühreier sind nichts ohne Schnittlauch. Das wusste auch ich. Es war das Gesetz der Frühstücker, dass man Rühreier nur mit frischem Schnittlauch essen sollte. Das wollte ich nicht brechen. Am Tisch sitzend, sah einen braun gewordenen Apfel, der nur einmal angebissen wurde. Ich hatte wohl am Vortag vergessen, den Apfel aufzuessen. Als ich den Apfel auf dem Tisch liegen sah, kamen mir wieder die Erinnerungen, die ich heute alle vergessen will. Die ganzen Bilder vom Vortag kamen wieder zum Vorschein.
Ich sah, wie ich vor meiner Tür stand, wie die Stufen mir zu riefen, dass ich sie zulassen solle. Wie ich den Schlüssel in meiner braunen Tasche, die ich einst von meinem Vater zur Jugendweihe geschenkt bekam, suchte, wie ich den Schlüssel ins Schloss steckte, wie ich ihn umdrehte wie sich die Tür öffnete, wie sie vor mir hing, wie sie vor mir hing und sich nicht regte, wie sie vor mir hing. Es war schrecklich. Ich konnte nicht verstehen, was ich da sah. Es war grausam. Ich wusste, nicht, was sie an dem Strick suchte, warum sie dort hing, was sie mir sagen wollte.

Dann ging es ganz schnell. Meine Eltern fanden meine Lena in meinem Bett und riefen die Polizei. Als ich am nächsten Tag von der Arbeit nach Hause kam und mich freute meine Lena zu sehen, sah ich nur drei Polizisten in unserer Wohnstube sitzen. Meine Mutter saß rauchend auf der Couch und weinte. Mein Vater schaute aus dem Fenster und sagte nichts. Ich wusste nicht, was vorgefallen war. Ahnungslos grüßte ich die Polizisten und wollte meine braune Taschen, die ich einst von meinem Vater zur Jugendweihe bekam, in mein Zimmer stellen. Doch als ich die Tür öffnen wollte, hielt mich ein Polizist davon ab. Durch den Türspalt konnte ich erkennen, dass zwei Männer in weißen Anzügen mein Zimmer durchsuchten. Wonach sie suchten, wusste ich nicht. Ich hoffte nur, dass sie meine Lena nicht wecken würden, denn um diese Zeit schlief sie für gewöhnlich sehr lange. Sie schlief eigentlich immer, wenn ich nach Hause kam, aber auch, wenn ich das Haus verließ. Wir redeten, seit ich sie vom Strick nahm, nur sehr wenig miteinander. Sie schwieg. Ich erzählte ihr von meinem Tag auf der Arbeit, den Theaterauftritten und von meiner U-Bahnfahrt. Sie schwieg. Sie interessierte es scheinbar nicht, aber ich war glücklich, dass wir endlich zusammen waren.
Der Polizist, der mich von meiner Tür weggezogen hatte, führte mich in die Küche und deutete auf den Küchenstuhl, auf dem ich Platz nahm. Er stellte mir Fragen, über mich, über Lena und über die Tage, bevor ich Lena kennen lernte. Ich antwortete ihm und erzählte ihm die Wahrheit, so wie ich Ihnen die Wahrheit erzähle. Denn es liegt mir viel daran, dass Sie die Wahrheit erfahren. Ich habe sie nie erfahren dürfen, weil ich hier bin. Ich bin kein Lügner. Sie haben mich hierher geschickt, um mir zu helfen. Aber ich brauche keine Hilfe. Ich bin ein Kämpfer.

Nachdem ich die ersten Fragen des Polizisten beantwortet hatte, brachten sie mich ins Gefängnis. Sie trennten mich von meiner Lena. Sie trennten mich von allem, was ich besaß, und ich bin es noch immer. Ich bin immer noch getrennt. Isoliert von allem. Gefangen in diesem winzigen Raum, der meine Vergangenheit, der meine Zukunft ist, der mein Ich ist. Ich bin der Raum, der mir Stück für Stück die Wahrheit zeigt, der mir Stück für Stück zeigt, dass ich ein Kämpfer bin. Der Raum, in dem ich leben muss, der Raum, in dem ich leben kann, der Raum, in dem ich leben will. Hier geht es mir gut. Hier ist es einfach. Es ist alles gleich und nichts kann mich überraschen. Es ist, wie es ist. Hier kann ich glücklich sein, auch ohne meine Lena, die ich immer liebte und immer lieben werde. Hier bin ich geschützt vor den Fremden, die die Wahrheit nicht verstehen, die die Wahrheit beschmutzen und die mir Fragen stellen. Fragen, die ich nicht beantworten kann. Fragen, die ich nicht beantworten will. Fragen, die mich verunsichern, die mich zweifeln lassen. Fragen, die die Wahrheit zerstören. Aber ich will Sie nicht belügen. Ich will ehrlich sein. Schhh. Denn ich will, dass Sie die Wahrheit nach außen tragen.
Die Fragen, die sie mir am häufigsten stellten, war das Warum und das Wie. Mir war es klar, aber sie wollten es nicht verstehen. Sie wollten mir die Wahrheit nicht glauben. Ich erzählte immer wieder und wieder meine Geschichte. Die Geschichte von Lena und mir. Ich begann bei unserem ersten Treffen und endete bei unserer letzten Nacht. Sie verstanden nicht, wie sie zu mir gekommen war, oder sie glaubten mir nicht. Es war ganz einfach, das habe ich denen auch zig mal erklärt.
Lena kam zu mir, weil sie zu mir wollte. Sie wollte mich endlich sehen, sie wollte endlich mit mir zusammen sein. Ich freute mich an diesem Abend. Es war der Abend, bevor sie sich in unserer Wohnung erhängt hatte. Sie war nur kurz zu Besuch. Sie war nur kurz da und sagte, dass ich sie endlich in Ruhe lassen solle. Ich solle doch endlich aufhören, sie anzurufen, ihr zu schreiben, sie zu treffen, zu leben. Sie drohte mir, dass sie weggehen würde, wenn ich es nicht täte. Sie sagte, dass sie es nicht mehr aushalte. Ich verstand sie nicht. Ich wusste nicht, warum sie zu mir kam und mir das alles erzählte. Ich konnte es nicht verstehen. Sie stand in meiner Tür und erzählte und erzählte. Ich konnte ihr gar nicht richtig zuhören und ich weiß auch nicht genau, was sie mir erzählte, weil ich einfach so glücklich war, dass sie bei mir geklingelt hatte, dass sie vor meiner Tür stand und zu mir wollte. Sie kam auch kurz in unsere Wohnung. Meine Eltern waren nicht da und so konnten wir ungestört sein. Sie schien sehr nervös zu sein. Es schien, als suchte sie etwas. Ich wollte ihr Tee und Rosinengebäck anbieten, da sie das am liebsten aß. Aber sie wollte nichts. Sie erzählte und weinte. Sie weinte und erzählte. Ich wollte sie trösten und holte Taschentücher aus der Küche, um ihr die Tränen, die über ihr wunderschönes Gesicht rollte, zu stoppen. Als ich die Schublade öffnete, fiel die Haustür ins Schloss und Lena war verschwunden. Ich ging in den Flur und war allein. Sie war wieder fort. Sie war nicht mehr da. Ich sagte ihr noch, dass sie warten solle, dass alles besser werde. Aber jetzt war sie weg. Ich stand noch lange im Flur und starrte auf die Tür. Es roch nach Lena in unserem Flur. Ich stand da und atme tief, um den Geruch von Lena in mir aufzunehmen. Das ist alles, was mir von ihr blieb an diesem Abend. Als meine Eltern nach Hause kamen, stand ich immer noch im Flur und hielt die Taschentücher in der Hand. Lena war fort. Ich rief sie an, aber sie nahm nicht ab. Ich fuhr zu ihr, aber sie öffnete nicht. Lena musste wohl ihre Gefühle verarbeiten. Sie musste verstehen, dass sie mich liebt.
Wie sie in unsere Wohnung kam, weiß ich nicht. Wie sich sie dort erhängt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur das Warum. Und ich denke, dass es Ihnen auch klar ist. Ich habe der Polizei erzählt, dass wir einander lieben. Dass ich sie liebe und dass sie mich liebt. Das ist die Wahrheit. Sie tat es wohl aus Liebe. Aus Liebe gab sie mir ihr Leben. Sie konnte sich nicht anders ausdrücken. Sie war nicht so wie ich. Sie war anders. Sie war Lena. Lena, die ich liebe und für dich ich alles getan hätte. Sie fühlte wohl auch so. Sie hat alles für mich getan und schenkte sich mir. Sie gab sich auf, damit ich sie lieben konnte. Sie wollte nicht mehr die Kämpferin sein. Sie wollte meine Lena sein und das hat sie geschafft. Wir waren uns so nah. Ich hätte es auch getan, für Lena, aber sie liebte mich mehr. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so lang gezögert habe. Warum habe ich ihr nicht eher bewiesen, dass ich sie liebe? Sie war schneller und dafür liebe ich sie. Ja, ich bin schuld, aber sie hat sich dazu entschieden.
Ich bin schuld. Aber das weiß ich erst heute. Sie haben mir geholfen. Ich weiß, dass ich schuld bin, weil ich zu lang gewartet habe. Wir waren beide blind und haben zu lang gezögert. Ich habe verloren. Ich bin kein Kämpfer. Sie ist die Kämpferin und sie hat gewonnen, darum habe ich Schuld. Ich bin schuld an meiner Niederlage und an ihrem Sieg. Das vereint uns und das machte mich glücklich. Schhh.
Das machte mich glücklich, bis sie mir erzählten, dass ich sie nie wieder sehen würde. Nie wieder. Ich würde Lena nie wieder sehen. Ich wartete Monate, Jahre auf sie. Ich wartete und wartete, aber sie kam nicht. Ich blieb ruhig und dachte an sie, aber dass machte mich krank, dass machte mich wild. Ich wollte zu ihr. Ich wollte zu ihr mit der U-Bahn fahren. Ich wollte nicht an sie denken, obwohl ich sie liebe. Ich wollte sie vergessen, aber es ging nicht, darum wollte ich zu ihr. Ich wollte zu ihr und versuchte zu fliehen. Ich versuchte zu ihr zu kommen, aber es gelang mir nicht. Ich war wieder zu langsam. Ich verlor wieder. Ich bin kein Kämpfer. Es war vor exakt 352 Tagen, aber das wissen Sie schon. Jetzt bin ich hier und sie reden viel mit mir. Sie reden viel mit mir. Sie reden über Lena und mich, meine Eltern und mich und über alles, was ich Ihnen erzählt habe.
Heute warte ich noch immer auf Lena. Sie haben mir immer wieder und wieder erzählt, dass sie nicht kommen würde, weil sie tot sei. Ich glaube ihnen nicht. Wie kann meine lebendige Lena tot sein? Wie kann Lena, die ich liebe tot sein? Ich verstehe es nicht und glaube ihnen nicht. Lena hätte mich nie verlassen. Sie ist nicht tot. Sie ist nicht mehr da. Ich hatte sie gewonnen, aber sie ist nicht mehr da. Sie war mir so nah wie nie zuvor, aber doch so unerreichbar weit weg. Meine Lena haben sie mir weggenommen. Meine Lena, die mich liebt. Sie hatte mich schon immer geliebt und wird mich immer lieben. Und wird mich immer lieben müssen. Sie, die mir hier helfen wollen, versuchen meine Gedanken, meine Erinnerungen zu ändern und zu zerstören, aber das lasse ich nicht zu. Ich bleibe hier in meiner Welt und will Lena nicht vergessen. Ich kann und will mich nicht von ihr trennen. Wir gehören zusammen. Lena und ich. Das ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit, die ich Ihnen heute erzählt habe. Ich bin kein Lügner. Das sollen Sie wissen. Ich bin unschuldig. Ich bin hier, obwohl ich unschuldig bin. Aber keiner glaubt mir. Sie beachten mich nicht. Sie sehen mich nicht an. Sie hören mir nicht zu. Sie sind wie die Schüler in meiner Klasse. Es ist wie früher. Es hat sich nichts geändert, nur dass ich meine Lena verloren habe. Sie ist fort. Sie ist tot, wie sie sagen. Sie kommt nicht wieder. Sie kommt nicht wieder und ich bin hier. Ich habe mich von allem trennen müssen. Ich wollte mich von allem trennen. Erinnerungen sind schrecklich. Man sollte keine Erinnerungen haben, sie machen einem das Leben kaputt. Das einzige, was ich noch von meiner Lena besitze, ist der Geruch, den ich nie vergessen werde und ein Brief.

Den Brief fand ich, als ich ihr am Morgen, nachdem sie sich geopfert hatte, das Frühstück zubereitete. Der Brief lag auf dem Schuhschrank im Flur. Diesen Brief, den ich bis heute nicht geöffnet habe und vor allen versteckt gehalten habe, behielt ich als Erinnerung, obwohl ich mich dazu überwinden musste. Man sollte an nichts erinnert werden. Es ist schrecklich. Ich habe den Brief nicht der Polizei und auch nicht meinen Eltern gezeigt. Auch die Leute hier, wissen nichts von dem Brief. Der Brief, in dem sie mir ihre Liebe schildern wollte, in dem sie mir ihr Herz schenken wollte, war nur für mich bestimmt und für niemanden anderes. Der Brief war für mich, es war mein Brief. Heute werde ich ihn öffnen, denn Sie sollen die Wahrheit erfahren. Ich muss kämpfen. Schhh. Es ist schwer ihn zu öffnen, weil soviel Erinnerungen und soviel Wahrheit in ihm steckt. Ich weiß, was sie mir sagen wollte, aber auch Sie sollen die Wahrheit erfahren. Jetzt werde ich ihn öffnen. Sie schreibt:

Du hast gewonnen. Du kannst mich haben. Ich hasse dich!

Sie hat einen fabelhaften Humor. Drei Sätze, nicht mehr und nicht weniger. Sie ist so perfekt. Du hast gewonnen. Ich bin ein Kämpfer. Du kannst mich haben. Ich bin glücklich. Ich hasse dich! Sie liebt ... sie hasst mich. Sie hasst mich. Sie hat mich immer gehasst. Es ist kein Scherz. Sie meint es ernst. Sie hasst mich. Sie hasst mich. Wenn sie jemanden hasste, dann war ich es. Ich verstehe. Ich verstehe sie nicht. Wie kann sie mich hassen, wenn ich sie liebe? Ich begreife nicht, warum sie mir nie was gesagt hat. Warum hat sie mir immer was vorgemacht? Warum hasst sie mich? Warum hat sie mir nie gesagt, dass sie mich nicht liebt?
Ich wollte immer in ihrer Nähe sein, sie sehen, sie berühren, sie spüren, doch sie wollte das nicht. Sie wollte das einfach nicht. Sie wollte das einfach nicht. Doch so einfach war es nicht, weil ich es nicht verstand. Wir trafen uns, wir küssten uns, wir ... ja wir, waren nicht mehr sie und ich, sondern wir. Aber nur in meinen Augen, die sie dann nicht sehen wollten, wenn sie sich verschloss.
Und es ist besser so. Warum hasste sie mich? Warum konnte sie nicht lieben wie ich? Dazu waren wir doch zu verschieden. Es brachte nichts, sich für sie zu interessieren, sie zu bewundern, sie zu überraschen, sie zu lieben, denn sie hasste mich. Sie hasste mich aus tiefstem Herzen, weil ich sie liebte. Je näher ich ihr kam, je mehr ich von ihr wollte, desto mehr hasste sie mich. Die Gegensätze wurden immer größer. Die Gegensätze, die ich so liebte, brachten mich um den Verstand. Dann begann ich zu schreiben. Ich schrieb alles auf, was mir in den Sinn kam und schickte es ihr. Ich weiß nur, dass ich es für sie geschrieben habe. Und da fange ich schon wieder an, mich zu vergessen und mich zu verstellen. Es war wohl die Verstellung, die sie hasste. Kennen sie das, wenn eine Uhr verstellt ist? Das hasst man.

Uhren liebte ich, vielleicht mehr als Lena. Damals, als mein Zimmer perfekt aufgeräumt war, hingen viele Uhren an meinen Wänden. Ich begann eine Art Sammlung aufzubauen. Immer mehr und mehr Uhren, die sich der ganzen Wohnung bemächtigten, sammelte ich an meinen Wänden. Ich liebte das Gefühl von Ordnung und Disziplin in unserem Haus. Das fand alles Ausdruck in den Uhren, sie gingen alle gleich, auf die Sekunde genau. Es war ein Genuss den Uhren beim Ticken zu zuhören. Es war jedes Mal ein Hochgefühl, wenn die Zeiger der Uhren im gleichen Augenblick eine Minute weitersprangen und dies so genau und so rhythmisch taten, wie die U-Bahnen in die Bahnhöfe einfuhren.
Es soll Menschen geben, die genervt sind von dem Geräusch der Uhren und deren Exaktheit. Ich liebte die Uhren, bis auf eine. Diese eine große blaue Uhr hatte sich im Laufe der Zeit immer mehr und mehr verstellt, ohne dass ich es bemerkt hatte, da sie an einer Stelle hing, zu der man nur selten sah. Wenn man jedoch auf diese Uhr sah, und obwohl man wusste, dass sie falsch gehen würde, erschrak man jedes Mal darüber, dass es schon so spät sei. Wenn ich auch sonst nicht hasse, aber das hasse ich, wie Lena meine Verstellung hasste. Ich habe mich aber nie bemüht die Uhr richtig zu stellen, denn an dem Abend, als ich Lena das erste Mal sah, fiel mir auf, dass sie falsch ging, und ich hielt es für ein Zeichen. Ein Zeichen, das uns beiden zum Verhängnis wurde.
Meine Verstellung war mir nicht bewusst. Ich änderte mich immer mehr und mehr, und merkte es kaum. Die Sympathie, die sie für mich empfand, war immer da, aber ich war nicht mehr ich. Das habe ich erst heute verstanden. Heute, da es viel zu spät ist. Heute, da ich Uhren hasse, denn sie engen ein. Man muss frei sein. Uhren machen Druck und nerven. Uhren machen alles falsch. In diesem Punkt scheinen sie mir zu ähneln. Sie verkürzen die schönen Augenblicke und ziehen das Schreckliche in die Länge. Mit Uhren ist man nie zufrieden und auch nicht frei. Uhren sind grausam, genau wie die Ordnung. Alles habe ich vergessen. Alles habe ich geändert. Alles habe ich aufgegeben für sie. Doch sie hat mich nicht geliebt, das war das Schlimmste. Und sie hat die gerechte Strafe bekommen. Aber jetzt ist es zu spät. Für sie und für mich. Und es ist besser so.
Am Anfang nahmen wir uns in die Arme, wenn wir uns sahen, und das war, was ich wollte. Ich wollte ihre Nähe spüren. Sie spürte, dass es zu nah war und winkte nur noch. Später nickte sie nur noch und dann sah sie mich noch nicht einmal, wenn ich vor ihr stand. Das war das Ende. Ich war wie Luft. Aber sie, obwohl ein Mensch, brauchte mich nicht. Das war grässlich. Ich wollte mich befreien und dem auch ein Ende machen.
Sie hat mich immer gehasst. Schhh. Das verstehe ich jetzt. Sie haben mir geholfen. Sie haben mir geholfen, mir die Augen zu öffnen. Nun bin ich frei. Hier gefangen, aber doch frei. Der Brief hat mich befreit. Die Erinnerung hat mich befreit und in ein tiefes Loch gestürzt. Nichts ist mehr gleich. Alles ist anders. Ich verstehe nichts mehr. Schhh. Es ist alles anders, als es mal war. Alles steht Kopf und man weiß nichts mehr. Ich bin verwirrt. Schhh. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, aber ich weiß, dass ich nicht schuld bin, sondern sie. Sie ist schuld. Ich hätte es nicht verhindern können. Schhh. Ich bin hier, weil sie mir helfen wollten und nicht weil ich schuld bin. Lena, die mich nie geliebt hat und vielleicht habe auch ich sie nie geliebt, hat alles zerstört. Sie hat allem ein Ende gemacht. Sie hatte keine Kraft mehr. Sie hat das Spiel, den Kampf verloren. Sie ist keine Kämpferin.
Ich bin hier. Schhh. Gefangen und umgeben von Geistesgestörten, von Hassenden, von Lügnern, von Hilflosen, von Verlieren und von Mördern. Schhh. Ich bin anders. Ich bin freier. Ich bin falsch hier. Ich gehöre hier nicht her. Schhh. Sie müssen mich befreien. Sie müssen mich retten. Ich habe nichts getan. Ich will ein U-Bahnfahrer sein. Schhh.
Lena. Sie hat nur mit mir gespielt. Sie hat mich nie ernst genommen. Sie hat mich betrogen und sie hat mir das Leben genommen. Ich bin hier. Schhh. Ich bin tot. Schhh. Dabei habe ich sie doch nur gern gehabt. Schhh.
 



 
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