Leni W.

lilli

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Leni blickte um sich. Sie beharrte innerlich darauf, dass sie blickte. Nicht umherschaute. Auch wenn alles um sie herum und in ihr so tief gesunken und verdorben war.
Sie beharrte auf einen Rest von – ja von was ? Irgendwo da in ihr fühlte sie es noch ganz leicht und zaghaft. Vor langer Zeit, genauer: vor einem Monat noch hatte sie Bildung, Kultur, Freunde und ein Leben in immerwährender Zukunft gewußt. Jetzt wollte sie nicht dieses zarte Gefühl aufgeben, das in ihren Gedärmen, vor allem aber in der Nähe des Herzens noch wärmend zu spüren war. Auch wenn das Wissen darüber sich schon als fern dahingleitende Seifenblase gebärdet – zum Hohne nicht geplatzt, sondern schillernd, verlockend und vor allem fern.
Jetzt war Schmutz, Angst und Haß um sie, hüllte sie ein wie ein schmutzigstaubiger Kartoffelsack. Ihre feine, zarte, glatte Haut war gerötet, mit Pusteln überzogen und juckte ohne Unterlass. Die Fußsohlen mit erstarrtem Schmutz, Schrunden aufgerissen und eingewickelt in Stofffetzen.
Sie beobachtete diese Füße, wie sie Treppe um Treppe hochstiegen. Sie waren ihr fremd, wie all die anderen Füße, die nah an ihren die Treppe hochstiegen.
Da war es wieder, dieser Wunsch es als hochsteigen zu bezeichnen, wo es doch eher ein schlurfen und schleppen war.
All die Füße, notdürftig geschützt auf hartem Granit, nahe dem Gefrierpunkt. Noch ein paar Tage und sie würde auf Schnee und Eis stapfen; immer noch in Behelfsmittel, anstelle von Schuhen. Wenn nicht irgendetwas geschah, etwas erhofftes, ja; auch etwas ersehntes, ja; aber erwartetes, nein.
Plötzlich wogte die Füßemenge zur Seite. Da war jemand gestolpert einige Reihen vor ihr. Verdammt, Leni wankte, der schwere Granit in ihren Armen zog sie nach unten und sie sank in die Knie. Sie krampfte sich zusammen, machte sich steif, bloß nicht weiter nach rechts kippen. Da war der Abgrund. Sicher an die zwanzig Meter unter ihr das tiefe, dunkle Loch des Sees. An den Rändern die grauen Menschen, die die Steine klopften. Material für die nächsten Aufstiege. Leni starrte in das dunkle Auge des Sees. Sie vermeinte ein Zwinkern zu erkennen – die Wimpernmenschen zuckten auf; in bangem Erwarten, dass wieder jemand von oben auf sie herabstürze. Das Zwinkern rief sie an „komm herunter zu mir, dann ist es vorbei für dich“.



Doch da meldete sich wieder dieses kleine, warme Gefühl um ihr Herz. Das, welches sie daran erinnerte, wer sie noch immer war. Wer sie war vor diesem Tage, als man kam und sie und ihre Familie aus der wunderschönen, großen Wohnung holte. Aus dem warmen Zimmer, das ihres war. Weg von ihren Büchern, Kleidern und ihrer sicheren Höhle.
Sie wurden in den Zug verfrachtet, nicht dass sie einstiegen und wie gewohnt die Sitze erster Klasse besetzten. Nein, sie wurden in Viehwagons gezwängt, so viele, dass sie keine Möglichkeit hatten, sich zu setzten. Sie erinnerte sich, dass sie sich an ihren Vater drängte, an ihre Mutter und an ihre kleine Schwester. Verängstigt und verwirrt hatten sie sich aneinander gedrängt. Vater hatte eine beruhigende Miene aufgesetzt, mit leiser, beruhigender Stimme auf sie eingeredet. Sie wußte nicht mehr, was er sagte, wußte nur mehr, dass sie den Klang seiner Stimme irgendwo in ihrem Kopf suchen musste, denn wenn sie auch diese verlor, wie konnte sie dann diesen kleinen warmen Knoten in ihr halten.
Als sie vom Bahnhof in das Lager gehen mussten wurden sie getrennt, Männer da, Frauen dort. Sie als vierzehnjährige musste bei den jungen Mädchen gehen, ihre kleine, fünfjährige Schwester Sara blieb bei Muttern.
Noch war sie neugierig, zusätzlich zu ihrer Angst. Sie beobachtete die uniformierten Männer, deren Gesichter. Sie beobachtete die Menschen, die hinter den Vorhängen hervorlugten, offenbar auch recht verunsichert. Sie dachte, wenn sie alles genau beobachten würde, könnte sie vielleicht auch etwas verstehen und irgendetwas machen. Sie war doch sonst so geschickt und ihr fiel doch immer etwas ein, so dass Vater, Mutter und ihre Onkeln und Tanten, ja auch die Lehrer sie immer wieder lobten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es wichtig war, dass ihr etwas einfiel. Aber es war nur noch das eine vorhanden – „irgendetwas habe ich wohl falsch gemacht.“ Nicht nur sie, auch ihr Vater, ihre Mutter, all die anderen, die in diesem langen Marsch nach irgendwohin waren. Auf dem Weg irgendwohin, wo keiner wirklich wußte, was da wäre; aber alle ahnten, dass es für sie bedrohlich war.
Ein Uniformierter fing an zu schreien und trat mit seinen Stiefeln gegen Marmeladebrote. Was taten diese roten Marmeladebrote auf der Straße. Lenis Magen hatte daraufhin zu grollen angefangen, stimmte ja – sie hatten schon lange nichts mehr zu essen bekommen. Sie waren ja direkt vom Frühstückstisch weggeholt worden. Leni sah die Brotscheiben, die Butter, die Tassen mit dampfender Milch. Als sie zu der Stelle kam, wo das nun zermantschte Marmeladebrot lag, bückte sie sich und nahm verstohlen ein Stück. Ein harter Schlag in ihr Gesicht und gegen ihre Hand schleuderte das Stück weg. Da wußte sie, dass jetzt alles anders würde. Da war es nicht mehr ein Gefühl der Angst, es wurde zum Wissen.
Als sie das Lager erreichten und aufgeteilt wurden, musste sie Schuhe, Mantel, Handschuhe und Tasche mit ihren hastig gepackten innigsten Dingen abgeben.
Vater war nur mehr hinter einem hohen Zaun zu sehen und dann, wenn die Gruppen für das Steinetragen ausgetauscht wurden. Dann konnten sie sich manchmal auch ganz leicht berühren – mit den Augen. Jedesmal erschreckte es Leni mehr, sie waren so tieftraurig und hoffnungslos. Und sie, Leni wollte nicht wahrhaben, dass ihr großer Papa immer mehr schrumpfte. Jedesmal wieder dachte sie, dass er kleiner geworden wäre und sehnte sich nach seiner Größe und Stärke. Jedesmal schloß sie die Augen und holte sich die Bilder von der Zeit vor dem Tag, so wie er da gewesen war. Genau so, wie sie ihr eigenes Bild holte: so wie sie gewesen war in der Zeit vor dem Tag.
Mutter und Sara waren mit den anderen Frauen und Kindern zu einem eigenen Platz gebracht worden. Es hieß, dass sie nach einer Dusche in ein anderes Lager gebracht worden wären. Sie sehnte sich nach dem Lächeln ihrer Mama. Nach den witzigen Bemerkungen, die sie machte, wenn Leni aufgebracht war über die gemeinen und ungerechten Hänseleien ihrer Mitschüler, so als wären sie plötzlich nicht mehr normale Menschen. Mutter hatte gelächelt und ihr gesagt, dass sie ja auch in manchen Dingen anders wären und dann immer wieder kleine Witze erzählt.
Leni sehnte sich nach Saras wilder Unbekümmertheit, danach von ihr gestoßen zu werden und umgeworfen. Auch wenn es ihr vor diesem besagten Tag manchmal noch zuviel gewesen war, jetzt wollte sie Sara hochnehmen, sie tragen und herumwirbeln.


Leni starrte in das zwinkernde dunkle Seeauge, welches sie da zu sich rief. Sie sah auf ihre Hände und den an sich gedrückten Stein. Die Kälte kroch von den Fingerspitzen, den Füßen bis hin zu dem letzten Rest Wärme an ihrem Herzen und bis hin zu dem letzten Klang der Stimme ihres Vaters.
Sie betrachtete die Stein umklammernden Finger, die wunden Füße und erkannte, dass dies gar nicht sie war, denn sie konnte sich ja betrachten, ohne sich zu fühlen. Ganz langsam wurde die warme Kugel bei ihrem Herzen kleiner, bis nur noch ein Punkt übrig blieb – den wollte sie sich in jedem Fall behalten, den wollte sie nicht auch verlieren. Instinktiv erkannte sie, dass sie diesen Punkt füttern musste mit allen Bildern von vor jenem Tag.

Sie erhob sich und drängte mit den anderen die Treppe hoch. Sie sah nicht mehr in das tiefe Auge des Sees, das so verlockend gezwinkert hatte.
Als sie an der Männergruppe, die ihnen entgegenkam, vorbeigingen, blickte Leni nicht auf, sie schaute auf den Boden, auf ihre schreitenden Füße.
Sie sah nicht die suchenden Augen ihres Vaters, wollte sie nie wieder in ihrem Leben sehen.

Eine halbe Ewigkeit später schreckt Elisabeth zitternd, fibrierend und irritiert auf. Noch ganz benommen murmelt sie: „Verzeih mir Papa, ich will dir auch verzeihen“.
Verwundert fragt sie sich, warum sie so sehr danach verlangt hatte sich zu entschuldigen. Für was eigentlich, für wen und wieso?
Sie friert, sie spürt alle Knochen toben bis aufs Mark. Dann steht sie auf, dreht die Heizung hoch und macht sich Kaffee. In ihr ist immer noch Leere, aber auch Erleichterung und eine ganz leichte Ahnung, warum sie gerade hier geboren wurde, lange nach dieser Zeit. Sie blickt auf den Fluß, läßt das Glitzern der Sonne ihr Herz wärmen, fühlt sich frei von Zeit; der vergangenen, der kommenden und der, in der sie steht und zum ersten Mal in ihrem Leben eine Ahnung von Versöhnung erfährt.
 



 
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