Lenny - Neufassung 04

Buffy

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Lenny

Lenny
© 2004 by KW <Buffy>


Das Rad des Schicksals drehte sich. Es nahm seinen eigenen Lauf.

Nervös lief Lenny in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Den Blick starr auf den Revolver gerichtet, der auf dem Tisch lag. Er zitterte vor Kälte. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
Würde man ihn vermissen? Was würde geschehen, wenn niemand den Schuss hörte? Würde er auf dem Wohnzimmerteppich verwesen? Einfach zu Staub zerfallen? Würde man seine Abwesenheit erst merken, wenn der Verwesungsgeruch bis ins Treppenhaus drang?

Lenny hatte nicht gewusst, dass Mutter einen Revolver hatte. Den hatte er erst nach ihrem Tod gefunden. Durch Zufall. Als er Mutters Sachen ordnete, um ihre Habseligkeiten einer Organisation zu übergeben. Lenny spürte den Hass auf seine Mutter körperlich. „Hast du ein Glück alte Hexe, dass ich die Waffe nicht schon eher gefunden habe! Ich hätte dir schon längst eine Kugel durch deinen verdammten Schädel gejagt“, murmelte ich voller Verbitterung. Er dachte an all die Jahre, die er mit ihr in der kleinen Wohnung verbracht hatte. Hatte noch den Geruch ihres Zimmers in seiner Nase. Den Gestank von Kot und Urin, der aus dem Toilettenstuhl kam. Ihren abstoßenden Körpergeruch, der dringend nach Wasser und Seife schrie. Die abgestandene Luft, weil Mutter es nicht erlaubte, wenn er das Fenster zum Lüften öffnen wollte. Mit Grauen dachte er an die verletzenden Worte, die aus ihrem Munde kamen. Diese schrille, hasserfüllte Stimme, wenn sie sich über sein Stottern amüsierte. Die sich über ihn lustig machte, wenn er sich mit einer Frau verabredete. Ihre bösartigen Worte verunsicherten Lenny so sehr, dass sein Stottern in Gegenwart von Frauen immer schlimmer wurde. Wenn er es bemerkte, verstärkte sich sein Schamgefühl. Fast fluchtartig beendete Lenny dann diese Verabredungen. Seine Scheu vor Frauen nahm zu und bald machte er einen großen Bogen um sie.
Mutter hatte wie immer gesiegt. Sie hatte ihren Sohn für sich allein. Einen besseren kostenlosen Pfleger und Dienstboten konnte sie nicht finden. Lenny fragte sich oft, wann es Mutter gelungen war, seinen eigenen Willen zu brechen?
Oder hatte er nie einen besessen?
Wann hatte er angefangen, wie ein Roboter kalt und gefühllos zu handeln? Wann hatte er aufgehört, in dieser Person seine Mutter zu sehen? Wann hatte er erkannt, dass sie nur eine bösartige, egoistische, alte Frau war?
An seinen Vater konnte sich Lenny nicht erinnern.
Doch er erinnerte sich genau an den Tag, als die Nachricht kam, dass er im Krieg gefallen war.
Lenny, hatte Mutter vor 35 Jahren gesagt, Lenny, mein Sohn, dein Vater wird mich jetzt holen. Ich warte auf ihn. Danach setzte sie sich in einen Stuhl und stand nur noch auf, um ins Bett zu gehen, oder den Toilettenstuhl zu benutzen. Anfangs hatte Lenny sie gebeten, mit ihm nach draußen zu gehen. Dann wurde Mutter wütend. Aus Angst, sie könnte nicht in ihrem Zimmer sein, wenn Vater sie holen würde. Sie verließ ihr Zimmer nie mehr. Damals hatte er nicht gewusst, was es für ihn bedeuten würde. Doch als er es bemerkte, war es bereits zu spät. Mutter war so gut, wie gelähmt. Sie war ein Pflegefall geworden. Und er? Er sortierte in den frühen Morgenstunden die Post für die Briefträger. Danach begann sein Dienst bei Mutter, die das Wort "Danke" nie ausgesprochen hatte.

Er starrte auf die Waffe. Poliert und glänzend lag das schwarze Gehäuse auf dem Tisch. Frisch geladen, zum Schuss bereit. Er ging zum Tisch, und nahm sie in die Hand. In seiner verschwitzten Handfläche fühlte die trockene Kühle des Revolvers.
Sein Körper zitterte vor Aufregung. Das Herzklopfen spürte er in den Schläfen.
Angst und Faszination.
Leben und Tod.
Ihm wurde schwindelig. Schnell legte er die Waffe zurück auf den Tisch. Erschöpft ließ er sich in den Sessel fallen und schloss die Augen. Er fühlte seine Ohnmacht. Seine Hilflosigkeit. Lenny hatte noch das Bild vor Augen, wie Norma mit ihren Koffern die Wohnung verließ. In seinen Ohren das Echo ihres letzten Satzes, typisch Muttersöhnchen und stinklangweilig bis zum Gehtnichtmehr. Dann das
Zuschlagen der Wohnungstür.
Ihr Zeichen für Endgültigkeit.
Er schluckte, fühlte Tränen hinter seinen geschlossenen Lidern. Nichts hatte sie gelassen, außer Schmerz und Demütigung.
Vorbei!
Resigniert schaute er auf die Waffe.

Wehmütig dachte Lenny an den Tag, als er Norma auf dem Friedhof kennengelernt hatte. Er hatte Mutters Grab besucht, um nach dem Rechten zu sehen. Es hatte an jenem Tage stark geregnet. Auf dem Rückweg überholte er mit eiligen Schritten eine Frau, die ohne Schirm die gleiche Richtung hatte. Erst wollte er einfach weiter gehen. Doch dann zögerte er. Verlangsamte seinen Schritt. Als sie auf gleicher Höhe waren bot er ihr seinen Schirm an. Erst als er bemerkte wie durchnässt ihre Kleidung war, so dass ihr Körper vor Kälte zitterte, fand er den Mut, sie in das nahe liegende Cafe einzuladen.
Das sie sein Angebot dankend annahm, verwirrte ihn. Unsicher schaute er sie an. Die Frau war kleiner als Lenny. Etwas rundlich geraten. Ihre roten Haare waren kurz schnitten. Sie ist jünger als ich. Mitte Vierzig vielleicht, dachte er. Er erinnerte sich daran, dass er im Cafe geredet hatte wie ein Wasserfall.
Sein Stottern hatte er vergessen. In ihrer Gegenwart fühlte er sich frei und unbeschwert. Fast seine gesamte Lebensgeschichte hatte er ihr offenbart, dass es ihn selbst erstaunt hatte. Schließlich war sie eine Fremde. Doch sie hatte nur gelächelt. Hatte ihm zugehört. Hatte ab und zu kurze Fragen gestellt. Lenny war so glücklich, dass er immer weiter und weiter erzählte.
Bei dem Gedanken, dass er sich damals mit seinen fast sechzig Jahren benommen hatte wie ein pubertierender Teenager, bemerkte er, dass sein Schamgefühl ihn erröten ließ.
Danach waren sie noch einige Male ausgegangen. Kurz darauf beschloss Norma zu ihm zu ziehen. In Mutters kleine Wohnung. Lenny hatte sie gewähren lassen. Konnte er es kaum fassen, dass es jetzt in seinem Leben eine Frau gab die ihn, Lenny, liebte. Er hätte sie am liebsten sofort geheiratet, aber sie wollte nicht. Weißt du, wegen der Rente, war ihr Argument gewesen.

Er schloss die Augen und dachte an die vergangenen Wochen. Norma hatte sich verändert. Immer öfter schmollte sie. War hektisch, übellaunig und ungeduldig.
Seine Gedanken verfingen sich, blieben an Normas Sprunghaftigkeit hängen. Diese irritierten ihn, machten ihn unsicher. Auf der einen Seite war sie in seinen Augen sehr leichtsinnig, besonders wenn es ums Geld ging. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, wie man an einem Nachmittag fast einen halben Monatslohn für Kleidung oder Kosmetik ausgeben konnte. Norma war doch mit ihren fast 53 Jahren kein Teenager mehr. Doch sie liebte Discos, Open Air Konzerte, Reisen und jede Art von Unternehmungen. Hauptsache, sie war unter Menschen. Am Anfang hatte Lenny versucht, ihren Wünschen gerecht zu werden. Fand aber kein Vergnügen daran. Er hatte Norma verschwiegen, dass er Angst vor Menschenmassen hatte. Tanzen hasste. Reisen überflüssig fand und von zu lauter Musik Kopfschmerzen bekam.
So suchte er immer öfters nach glaubwürdigen Ausreden, nur um Norma nicht begleiten zu müssen. Er stellte bald fest, dass er direkt froh war, wenn Norma dann allein ausging.
Er gönnte es ihr von Herzen, vertraute ihr und freute sich, wenn sie ihm später ausführlich von ihren schönen Abenden erzählte.
Auf der anderen Seite war sie das genaue Gegenteil.
Sie zog sich zurück. Wollte nicht mit ihm reden, nicht ausgehen. Konnte sich für nichts begeistern. Er durfte sie nicht stören. Lenny hatte in dieser Zeit immer ein komisches Gefühl. Einerseits war er froh, dass Norma dann nicht zur Arbeit ging, und er sie so richtig verwöhnen konnte. Andererseits waren ihre Launen in diesen Phasen unerträglich. Nichts, aber auch gar nichts konnte er ihr recht machen. An allem hatte sie was auszusetzen.
Dann dachte er immer an Mutter. Daran, wie ähnlich sich die Beiden waren. Auch Norma hatte in ständig mit ihren hohen Ansprüchen auf Trab gehalten.
Jetzt war sie fort. Sie hatte ihn einfach allein gelassen.


Lenny stand auf. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Die Leere der Wohnung und die Leere in seinem Herzen waren kaum zu ertragen.
Er nahm den Revolver und ging zügig ins Badezimmer.
Schluss! Aus! Vorbei!
Er betrachtete sich im Spiegel, während er diese Worte monoton wiederholte. Er spürte in sich hinein. Doch er fühlte nichts. Er stand nur da. Geschockt! Gefühllos! Gedankenlos. Er starrte sein Spiegelbild an. Sah, wie er langsam den Arm mit der Waffe hob. Den Lauf des Revolvers an seine Schläfe führte. Ihn dann in Richtung Stirn bewegte. Wie hypnotisiert sah er zu, wie sich die Waffe seinem Mund näherte. Er öffnete die Lippen und schob sich den Lauf in den Mund. Der Gedanke, dass es ein tödliches Spiel war, dass er spielte, durchzuckte ihn. Es erinnerte ihn an russisches Roulette. Er zitterte bei dem Gedanken.
„Verdammt! Abdrücken musst du!“ Lennys Stimme überschlug sich fasst. Er verfluchte seine Feigheit. Sein Spiegelbild fluchte zurück. Eilig verließ er das Bad. Den Revolver legte er im Flur auf die Kommode, gleich neben der Garderobe.
Es ist nur ein böser Traum, nur ein Alptraum, dachte er. Norma kommt bestimmt zurück. Doch innerlich wusste er es besser.

Er spürte Angst in sich. Die aufkommende Panik, die ihn zu ersticken drohte. Wut über sich selbst. Über seine eigene Dummheit. Seine Schwäche.
Lennys Gefühle kollabierten. Er wusste nicht wie ihm geschah. Der Drang, etwas kaputt zu machen, ließ sich nicht bremsen. Nicht kontrollieren.
Mit erschreckender Zerstörungswut, fing er an, aus seiner Wohnungseinrichtung Kleinholz zu machen. Was er auch in die Hände bekam, es musste zerstört werden. Er fühlte sich wie ein Staudamm, dessen Mauern erst Risse bekamen, um dann endgültig zu brechen. Es war wie ein Rausch.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er verfluchte Norma. Er verfluchte seine Mutter. Er fluchte über Gott und die Welt, bis er nicht mehr auseinander halten konnte, über wen er gerade fluchte. Je mehr er zerstörte, desto prächtiger fühlte er sich in seiner Raserei. Seine Rage verstärkte sich mit jedem lauten Fluch. Mit jedem unflätigem Wortschwall. Eine nie geahnte Lebendigkeit durchströmte ihn, nahm jeden Zoll seinen Körper wahr. So groß und stark hatte er sich noch nie gefühlt. Jeder Ton eines zerstörten Gegenstandes erfüllte ihn mit einem nie gekannten Glücksgefühl. Es machte keinen Unterschied mehr, was er in die Hand nahm. Dieses Machtgefühl, diese Zerstörung war überwältigend und ließ ihn innerlich triumphieren.
Zufrieden sah er auf sein Chaos.
Er war Lenny und einen Lenny verließ man nicht!
Wut! Verzweiflung! Ein unbändiger Hass brachte sein Adrenalin erneut zum Sieden.
Während er mit schnellen Schritten den Flur durchquerte, zog er sein Jackett an. Er griff nach dem Revolver. Steckte ihn in die Jackentasche. Fasst fluchtartig verließ er die Wohnung.
Während Lenny, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinunterraste, sah er sein Ziel vor Augen. Er überquerte den Hof mit schnellen Schritten. An seinem Wagen angelangt, holte er erst mal tief Luft. Er schloss die Wagentür auf, setzte sich hinter das Steuer und startete den Motor. Es herrschte wenig Verkehr, so dass er zügig durch die Innenstadt kam. Lenny fühlte eine diabolische Vorfreude. Als er die Innenstadt hinter sich gelassen hatte, nahm er die Ausfallstraße, die ihn direkt zum Altenheim führte. Als er das Heim sehen konnte, hätte er am liebsten gejubelt. Beim Einbiegen in die kleine Sackgasse einbog, pochte sein Herz hart gegen den Brustkorb.
Rasant fuhr er auf den Parkplatz für Besucher.

Seine Erregung wuchs, die Spannung nahm zu, er spürte sein Adrenalin. Seine Hand zog den Revolver aus seiner Hosentasche. Jetzt fühlte er wieder die lebendige Stärke, die Sicherheit in sich.
Einen Lenny verließ man nicht!
Er spürte den Schweiß auf seiner Haut. Spürte das Pulsieren in Halsschlagader.
Als der Portier ihn grüßte, schoss Lenny ohne zu zögern. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass der Portier zusammensackte. Pech Kumpel, niemand hält mich auf. Er stürmte wie im Wahn die Treppe bis zu dritten Etage hinauf. Das Zimmer 305 lag rechts von ihm. Kurzatmig riss er die Tür auf. Mit einem Blick erfasste er die Szene.
Lenny hatte sein Ziel erreicht.
Normas Mutter lag im Bett. Ihre Augen waren geschlossen. Sie schien zu schlafen. Auf dem Stuhl vor dem Bett, mit einem Buch in den Händen, saß Norma. Lenny sah sie an.
Er schoss.
Sein Blick erfasste ihre weit aufgerissenen Augen. Er hörte den markerschütternden Schrei. Ungläubig, wie in Zeitlupe, sah er das Buch aus ihren Händen gleiten. Ihr Körper sackte in sich zusammen und mit dem Stuhl fiel sie polternd zu Boden. Er starrte auf die sich bildende Blutlache. Sein Körper bebte vor Erregung. Als sein Blick auf die Greisin fiel, sah er, dass ihre Augen offen waren. Stumm und regungslos schaute sie ihn an. Er glaubte in ihnen eine stumme Anklage zu lesen. Lenny zielte auf ihre runzelige Stirn und schoss.
Lautes Stimmengewirr und eilige Schritte näherten sich dem Zimmer 305.
Lenny schloss die Augen.
Den letzten Schuss hörte er nicht mehr.
 



 
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