Lesen formt

Warui

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Ich las gerade einen Text.
Obwohl moment, das ist eigentlich schon falsch, denn wenn ich lese, dann würde nur ich das als lesen bezeichnen, jeder Andere als aufmerksames Wachkoma. Nundenn, ich saß also gerade temporär im angeregten Wachkoma, meine Umwelt versank in der Bedeutungslosigkeit, um schließlich ganz zu verschwinden. Das wäre also geklärt!
Doch was stand eigentlich in diesem Text? Zuersteinmal muss man wohl erwähnen, dass es nicht einfach nur ein Text war, sondern ein prosaisches Werk, allgemein auch als Kurzgeschichte bekannt. Dero gibt es ja nun mehr als genug und doch beginne ich sie immer mehr zu lieben:
Wo das Haiku ein Glühwürmchen im Park, da ist das Gedicht der Schmetterling, der sich einem auf die Wange setzt, während man in der Abenddämmerung im feuchten Gras liegt. Ein unvergesslicher Moment in der Tat, doch auch unheimlich fragil, ich möchte ihn beinahe blau nennen. Jedoch wenn man nach Hause gegangen ist, schon aufgehört hat, dem Nachtfalter nachzutrauern, ja ihn bereits vergessen hat, da kommt der liebgewonnene Zaungast vorbei, und damit meine ich keinen Nachbarn, die gibt es im dritten Stock nämlich gar nicht. Zumindest nicht hinter Zäunen. Nein, ich rede tatsächlich von dem Vogel, der zu meinem Fenster rüberfliegt, von wo auch immer, wenn ich mich herauslehne, schon ein paar Samenkörner in der Hand. Ich weis inzwischen gar nicht mehr, wann wir damit angefangen haben, aber es ist irgendwie tröstlich, irgendwie niedlich ... nunja.
Aber ich weiche vom Thema ab.
Der Text an sich handelt von einem Versager. Jedenfalls behauptet er das von sich selbst. Als Leser lächele ich ein wenig, man ist ja nachsichtig mit den etwas Schwächeren, ihnen soll doch angeblich das Himmelreich sein, wenn es denn mal kommt, da will man es sich doch nicht mit ihnen verderben! Seis drum, ich sammele ein wenig VorSympathie für die arme Seele, die da ihr Leid klagt, um mich dann gewappnet gegen die vielfältigen Widrigkeiten des reflektierten, fiktiven Lebens in den Solidaritätskampf zu stürzen. In der Tat ein tragisches Schicksal, das die arme Kreatur hat schielend zur Welt kommen lassen. Die erzieherischen und ärztlichen Maßnahmen folgen natürlich auf dem Fuß, man hat doch schließlich verständnisvolle Eltern. Bedauerlich nur, wenn diese zuerst mal ihre eigenen Agressionen und Phobien austoben müssen, und das in selbstverständlichster Art und Weise an einem der wenigen Wesen, das oft genug in ihrer Nähe ist. Wie jedes Drama hat auch dieses ein ein etwas hüstelndes Ende, der Vater verschwindet auf Nimmerwiedersehen und die Mutter widmet sich mit neuem Fleiß neuen Traumata. Diese bringen sie (der Lauf des Schicksals scheint tatsächlich manchmal dem Pfad der Logik und Menschlichkeit zu folgen, oder nicht?) auch mehr früher als später hinter GummiGitter und der Rest der Familie darf sich an dem Kind austoben.
Neben den privaten Komödien und Dramen bahnen sich nun auch die staatlichen an, eine Lehrerin, die ihr Heil lieber mit einem anderem Lehrer als mit ihrem Schüler sucht, und ähnlichen Episoden. Ich als Leser kann in solchen Fällen natürlich humanerweise noch ein wenig mehr Mitleidsdosen aufmachen und meinen Vorrat langsam der Neige zugehen lassen. Man fühlt sich ein wenig besser, man schnauft etwas auf, es gibt tatsächlich welche, die hat es noch ärger erwischt. Die haben neben den Bombenkratern in Küche und Wohnung auch noch einen beachtlichen Haufen an ungewaschener Wäsche. Ich kann mich nur zum Kauf meiner Waschmaschine beglückwünschen. Das macht einen etwas zufriedener und weil ich davon selten genug kriegen kann, lese ich auch begierig das Ende, um zu erfahren, dass der Protagonist es noch nicht einmal als Problem empfindet. "Danke, ich kann nicht klagen", sagt er. Und er ist auch noch von der Wahrheit dieser Aussage überzeugt. Sie scheint sogar wahr zu sein. Er "kann es einfach nicht".
Und irgendwie verblasst der Glanz um mich herum und ich bekomme Gänsehaut und auch ein wenig Angst vor der Zukunft und dem Leben an sich. Und ich brauche ein Taschentuch.

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Falls das für den Leser interessant ist, die Kurzgeschichte, die Anstoß und Inspiration war, ist von freifrau von löwe und auf ihrer Homepage nachzulesen ("Liebe und andere Peinlichkeiten")

Mata ne
Warui
 



 
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