Letzte Momente mit Ilsa - Aus meinem Tagebuch

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Ich kenne Ilsa schon mein ganzes Leben lang. Soweit ich zurückdenken kann, ist sie da. Ich spielte mit ihr im Laufgitter, ging mit ihr in den Kindergarten, in die Schule, hatte meinen ersten Sex mit ihr, meinen ersten Trennungsschmerz und die erste Postbeziehungs-Freundschaft ebenso. Damals war sie hübsch. Heute bin ich sprachlos wenn ich sie sehe, sie ist wunderschön. Ich stehe ihr gegenüber und es ist, wie es damals war, als wir uns liebten. Doch Zeit vergeht nicht ohne Spuren. So sehr unsere Erinnerungen sich gleichen, so sehr sind unsere Seelen verschieden. Ihr Leben führte sie durch Stürme an den Rand des Suizids. Mich führte meines lediglich durchs selbstgeschaffene Jammertal. Wenn ich ihr heute schweigend in die Augen sehe, kann ich ihren Schmerz noch immer erkennen. Wenn sie spricht, höre ich ihre Zweifel und Ängste. Wenn ich sie berühre, fühle ich die Kälte. Sie benutzt noch immer das selbe Parfum. Ihre Haare riechen, wie sie vor Jahren schon rochen. Noch heute entführen mich diese Düfte in eine unendlich schöne Welt voller Liebe und Leidenschaft. Sie ist zweifelsohne die schönste Frau, die ich mir vorstellen kann. Wenn ich ihr gegenübersitze, will ich nur zuhören, getraue mich kaum, zu sprechen aus Angst, den Moment, der in seiner Vollkommenheit nur zerbrechlich sein kann, zu zerstören. Ihre Stimme…beruhigend und warm. Und doch, in ihren Worten klingt Traurigkeit mit. Ich meine, auf einem ruhigen Fluss segelnd, den Wasserfall zu hören, wie er in der Ferne in die Tiefe stürzt. Zu unserer Zeit gab es keine Wasserfälle, keine Stromschnellen oder Untiefen. Unser Wasser war der Ozean; grenzenlos und ohne Ende. Heute bin ich mit grossen Seen zufrieden, meide unbekannte Gestade, in der Angst, das Meer könnte sich als Sumpf entpuppen.
Ilsa ist wie ein geheimnisvolles Buch, das Erinnerungen an schreckliche Momente in sich birgt. Schon seit vielen Jahren ist dieses Buch selbst für mich verschlossen. Sie spricht, sie arbeitet, sie lebt, aber ihr Buch ist geschrieben. Was heute passiert, oder gestern geschah, egal, die Seiten sind voll, das Buch in seiner bedrückenden Verschlossenheit vollendet. Wenn wir von Zeiten sprechen, die längst vergangen sind, leuchten ihre Augen manchmal noch so, wie sie es früher taten. Dann wird ihre Stimme weicher und leiser, als könnte ein böser Geist erwachen, sie für ihr kurzes Glück zu bestrafen.
Und dann lächelt sie. Ich sehe sie nur an und beginne zu glauben; glauben an die Welt und die Schönheit, den Frieden und das Glück, das Gute und das immer währende, in diesen kurzen Momenten, in welchen Ilsa mir gegenübersitzt und lächelt.
Sie lebt alleine. Weit weg von mir und der Welt, die ihr so vieles tat. Mich hat das Leben in eine Ehe mit drei Kindern geführt. Gute Kinder, gute Ehe. Wie hätte ich gelacht, hätte ich mich vor zwanzig Jahren so gesehen. Ein Familienvater, ein lächerlicher. Tief in mir habe ich sie immer geliebt. Ich liebe sie heute noch. Liebe sie, wie ich überhaupt nur fähig bin zu lieben. Die wenigen Stunden mit ihr, vielleicht einmal oder zweimal im Jahr sind ausreichend, um mich am Leben zu erhalten. Zu wenige sind es allemal. Ich liebe auch meine Frau. Ich liebe sie als Mutter meiner Kinder, und als Ehefrau und Vertraute. Aber Ilsa liebe ich als mein Leben.
 



 
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