Letzter Mann

Olgeke

Mitglied
Was hatte ich mir nur dabei gedacht.
Überall Blut und Gestank, und alles war irgendwie nass. Es war der fünfte Tag. Der fünfte und letzte Tag. Die Planung sah vor, dass wir bis spätestens 22 Uhr abends zurück sein sollten, damit unsere Ladung noch gelöscht werden konnte. Ich konnte es kaum erwarten. Endlich runter von diesem verfluchten Schiff. Zu Anfang war es ja noch interessant und spannend. Doch das änderte sich schlagartig. Eigentlich sobald wir auf hoher See waren, und ich mein halbverdautes Frühstück über die Reling ins Meer spie.
Natürlich unter tosendem Gelächter der Besatzung. Alles zwielichtige und raue Personen.
Die waren allesamt nicht begeistert davon, dass so eine Landratte ihnen hier über die Schulter guckte. Seit ich an Bord gegangen war bereute ich es, dass ich mich freiwillig für die Reportage über den Walfang gemeldet hatte. Ich Vollidiot. Den ganzen Tag nur Wasser, Blut , Innereien und den dazugehörigen Gestank. Zusammen mit meiner Seekrankheit gab mir dass regelmäßig den Rest, und ich unterhielt wieder die Besatzung mit meinem speziellen Tanz an der Reling. Arschlöcher. Asoziales Pack. Die freute es natürlich. Aber nun war es ja bald geschafft, und ich hatte alles was ich für meine Reportage brauchte. Ich hatte mitbekommen, dass der Kapitän sagte, der nächste Wal sei der letzte. Dann würden wir uns auf den Rückweg machen. Es dauerte nur etwa eine halbe Stunde, bis wieder die Harpunen abgefeuert wurden und sich tief in den Rücken eines Tieres gruben. Das Wasser um den Wal herum färbte sich in wenigen Sekunden tiefrot, und während das Tier ums Überleben kämpfte flogen weitere Harpunen durch die Luft.
Keine verfehlte ihr Ziel. Eine bohrte sich genau ins Auge des Wals und mir wurde wieder schlecht. Er wurde mit Seilwinden, an denen die Harpunen hingen, ans Schiff rangezogen.
Von Deck aus wurde eine Schlinge um den Schwanz geworfen und zugezogen. So zogen sie ihn mithilfe von Winden und Bordkran an Deck. Der Wal zappelte noch, als die Walfänger sich auf ihn stürzten. Bewaffnet mit langen scharfen Klingen, die Speeren ähnelten, die aber wie Messer arbeiteten. Sie schnitten ihm den Bauch auf, die Innereien rutschen auf Deck und wurden wieder ins Meer geschmissen. Dann wurde er zerkleinert und in den Laderaum geworfen. Alles was man nicht verwerten konnte, bekam die See zurück. Mit viel Wasser bekam man dann noch das ganze Blut von Deck. Es war schwer zu sagen, wann der Tod eintrat, um das Tier von seinen Qualen zu erlösen.
So, das war’s. Ab nach Hause.
Die Männer begannen das Schiff aufzuräumen und zu schrubben, ich stellte mich an die Reling und starrte aufs Meer raus. Ich wunderte mich, denn es war immerhin schon 11 Uhr vormittags, und ich hatte immer noch mein Frühstück in mir. Es war ein schöner Sommertag, und ich beschloss die lange Rückfahrt zu nutzen, um irgendwie noch etwas Sonne zu tanken. Damit ich vielleicht etwas frischer aussah wenn wir heute Abend einlaufen würden. Meine Seekrankheit schien mich ja wenigstens am letzten Tag in Ruhe zu lassen.
So schipperten wir nun schon etwa eine Stunde Richtung Hafen, als plötzlich das Wetter umschwang. Es kam ganz unerwartet. Ohne Vorwarnung.
Binnen weniger Sekunden verdunkelte sich der Himmel, ein Sturm zog auf und die eben noch spiegelglatte See türmte sich zu haushohen Wellen auf. Der Wind peitschte uns die kalte Gicht in die Gesichter und das Schiff wurde zum Spielball des Meeres.
Alle wurden auf Deck hin und her geschleudert, und nach der dritten Welle die mit einer unvorstellbaren Wucht auf das Deck krachte, wurden auch schon die ersten zwei Walfänger über Bord gespült. Zwei Wellen später sah ich gerade noch wie der Kapitän von der Reling gerissen wurde, und wie er in der tobenden See verschwand. Einen kurzen Augenblick hatte ich den Eindruck, die Wellen schmissen sich von allen Seiten auf ihn, sobald er im Wasser landete. Um ihn für immer auf den Meeresgrund zu drücken.
Die See entfachte ihre ganze Gewalt und es schien als sei sie voller Zorn uns gegenüber.
Wenn ich das hier überleben wollte, musste ich es irgendwie unter Deck schaffen. Dazu durfte das Schiff aber nicht komplett absaufen, was, wie ich mir aber eingestehen musste, wohl kaum der Fall sein würde. Ich versuchte mich von der Reling zu lösen um in die Mitte des Decks zu gelangen. Dort wollte ich mich durch die Ladeluke in den Laderaum fallen lassen. Der war hoch genug mit Walfleisch gefüllt, so dass ich mir nicht alle Knochen brechen würde.
Mir gelangen drei schwankende Schritte von der Reling weg. Das Deck war nass und rutschig, und zum vierten Schritt kam ich gar nicht erst. Eine Welle spülte über Deck und holte mich von den Füssen. Ich schlug hart mit dem Gesicht auf das Stahldeck auf und mit einem hässlichen Krachen wurde meine Nase zerschmettert. Trotz des ganzen Wassers merkte ich, wie mir Blut aus dem Gesicht floss und meine Nase anzuschwellen begann.
Als das Wasser von mir abließ lag ich wie ausgeknockt da. Ich hatte ein Gefühl, als ob jemand mit jedem meiner Herzschläge mit einem Vorschlaghammer auf mein Gesicht eindrosch. Unter Schmerzen drehte ich den Kopf auf die Seite und übergab mich. Zuviel Salzwasser hatte den Weg in mein Innerstes gefunden.


Auf der anderen Seite des Schiffes schob sich die nächste Welle über die Reling und riss wieder jemanden mit sich.
Alles was lose auf Deck rumstand wurde durch die Gegend geschleudert. Netze, Taue und Ketten flogen durch die Luft. Eine schwere Stahltruhe wurde durch das Fenster des Steuerhauses katapultiert. Alles ging sehr schnell, und Panik und Chaos hatten die Besatzung fest im Griff. Ich sah in Gesichter von Männern, die krampfhaft versuchten sich irgendwo festzuhalten, um nicht über Bord zu gehen. Ich sah wie sie vor lauter Angst um ihr Leben schrien. Ich sah es nur, denn der Wind machte jede Chance etwas zu hören zunichte. Ich sah den ersten Harpunier, wie er sich an eine der Harpunenkanonen klammerte. Er schaute zu mir und ich blickte in vor Angst weit aufgerissene Augen, die aber auch wildentschlossen aussahen, diesen Albtraum zu überleben.
Als sich eine herumfliegende Harpune von der Seite durch seinen Schädel bohrte, wurde er von der Wucht des Geschosses aus meinem Blickfeld gerissen. Ich sah nur kurz, wie beim Austritt der Harpune seine rechte Kopfseite aufbrach und ein Schwall Blut hervorschoss. Sein Kopf klappte ruckartig nach rechts, und dann verschwand er.
Die See hatte ihn mit seinen eigenen Waffen geschlagen.
Ich musste hier weg. Der nächste Schwall Wasser spülte über mich hinweg, und beförderte mich wie beim Wellenreiten einige Meter weiter Richtung Heck. Dabei krachte ich gegen etwas hartes. Eine auf Deck verschraubte Bank, die mir sofort klarmachte, dass sie mehr aushielt als meine Rippen. Ich schrie auf und fasste mir an die Seite, was meinen Schmerz nicht linderte. Ich warf mich auf den Rücken und mir gefror das Blut in den Adern als ich in die dunklen Wolkenberge blickte.

Eine riesige Welle baute sich in meinem Blickfeld auf. Immer höher. Ich hielt die Luft an. Das war das Ende. Sie würde uns einfach verschlingen. Ich konnte die Wolken über mir schon nicht mehr sehen, nur eine hochhaushohe Wasserwand die jeden Augenblick auf uns einschlagen würde.
Die See wollte uns nun entgültig den Rest geben. Ich lag da und starrte fasziniert und gleichzeitig auch voller Angst nach oben. Es sollte wenigstens kurz und schmerzlos sein.
Ich hoffte, das mir das Genick brechen oder der Schädel zerschlagen würde. Dies erschien mir am besten. Hoffentlich nicht elendig absaufen und ertrinken. Nicht qualvoll unter Wasser nach Luft schnappen und nur Wasser atmen. Plötzlich hatte ich nur noch gnadenlose Angst. Ich schrie wie ein kleines Kind, ich fing an zu heulen und schrie nach meiner Mutter. Ich merkte, wie ich mir warm in die Hose schiss. Ja genau, dachte ich mir, scheiß auf den Tod. Ja, scheiß auf den Tod. Ich fühlte mich hilflos und erbärmlich.
Da lag ich, schreiend und vollgekotet, und dann war es soweit.
Sie kam. Sie stürzte auf uns nieder. Rasend schnell und mit einer Kraft, wie sie nur Naturgewalten entfesseln konnten.
Ich schloss die Augen und hörte mich und einige der anderen noch kurz laut kreischend aufs Ende warten. Dann nahm ich schlagartig nichts mehr wahr.

Da war wieder dieser Mann, und er rief mir etwas zu. Ich konnte ihn wieder nicht hören, obwohl er direkt vor mir zu stehen schien.
Dann wurde ich wasserspuckend wach, blickte in ein gleißend helles Licht, und rang um
Luft. Ich schlug mir geblendet die Hände vor die Augen, und tatsächlich, ich atmete. Ein tiefer Luftzug, der meine Lungen füllte, mich jedoch sofort wieder husten ließ.
Es dauerte einige Zeit, bis ich verstand, dass ich gerettet war. Ich befand mich mit drei Besatzungsmitgliedern in einem Rettungsboot und die Sonne strahlte hell vom blauen Himmel. Sie erzählten mir, sie hätten mich bewusstlos aus dem Wasser gefischt und wiederbelebt. Wir waren die einzigen, die von der See freigegeben wurden.
Wir und dieses kleine Rettungsboot. Ich konnte es nicht glauben, es war wie ein Wunder.
Wir befanden uns in viel befahrenem Gewässer, und spätestens Morgenfrüh würden sie uns vermissen und mit der Suche beginnen. Wenn nicht schon eher, falls es jemand geschafft haben sollte, noch einen Notruf loszusenden bevor die Hölle über uns hereinbrach. Wahrhaftig ein Wunder, wir sollten überleben.



So trieben wir einige Stunden auf See umher, bis sich plötzlich der Himmel zuzog.
Es ging so schnell wie zuvor, und mir stockte der Atem. Dunkle Wolken türmten sich zu riesigen Bergen auf. Das durfte einfach nicht war sein. Nicht schon wieder. Ich bemerkte nicht, wie ich mich immer fester am Boot festkrallte, bis mir ein Fingernagel komplett vom Nagelbett riss. Ich schrie auf, aber blickte sofort wieder von meinem, nur noch an Fäden hängendem, blutigen Fingernagel wieder Richtung Wolken.
Doch irgendetwas war anders. Wir bemerkten erst einige Momente später, dass kein Wind aufkam. Die See blieb ruhig, und kein Lufthauch bewegte sich. Es war unnatürlich.
Diese bedrohlichen Wolken, und dazu diese unheimliche Stille.
Keiner von uns rührte sich, und man traute sich kaum zu atmen. Umso stärker bemerkte ich nun auch den Schmerz der in meinem Finger pochte. Ich wollte gerade noch mal nachsehen, als es geschah.
Mit einem mal brach die spiegelglatte Wasseroberfläche auf, und ein Schiff schoss Richtung Himmel. Keine einhundert Meter von uns entfernt. Als das Schiff fast komplett aus dem Wasser ragte, fiel der Bug nach vorne über, und es schlug auf dem Wasser auf. Ich dachte, ich halluzinierte, da wir kein Trinkwasser hatten und die Sonne die ganze Zeit auf uns niedergebrannt hatte. Doch an den Gesichtern der anderen sah ich, dass ich keineswegs halluzinierte.
Das Rettungsboot wurde hin und her geschaukelt, als die Wellen die das Schiff beim Aufprall aufs Wasser losgejagt hatte, uns erreichten. Das konnte nicht sein. Wir glaubten nicht was wir sahen. Einen mit Algen, Seetang und Muscheln behangenen Dreimaster. Ein altes Segelschiff. Doch das sollte nicht genug sein. Als der Segler nun ruhig im Wasser lag, und ich genauer hinsah, erkannte ich Bewegungen an Deck. Männer.
Eine Schiffsmannschaft. Ich stand kurz vor der Ohnmacht. Es war totenstill, bis ein Ruf zu uns drang. Doch er galt nicht uns, sondern der Besatzung des alten Schiffes. Ein einzelnes Wort durchschnitt die Stille, und die Angst hatte uns wieder in ihrem festen Griff. „Beidrehen !!!!! „.
Einen Augenblick später hielt das Schiff auf uns zu. Unmöglich. Niemals. Nicht ohne Wind. Das konnte doch nicht sein. Ich wollte weg, nur noch weg. Doch wo sollte ich schon hin.
Ich starrte in Richtung des näherkommenden Bugs. Schnell näher kommend. Er durchpflügte die Wasseroberfläche in einer irren Geschwindigkeit, und machte nicht den Eindruck als würde er langsamer werden. Das Schiff hatte die Hälfte der Entfernung zwischen uns bereits zurückgelegt als es nun anfing beizudrehen, und kam gerade mal etwa fünfzehn Meter vor uns mit voller Breitseite zum stehen. Unsere kleine Rettungsnussschale begann stark zu schwanken, und unser Schiffskoch ging über Bord und wurde einige Meter weggetrieben. Als das Rettungsboot langsam wieder zur Ruhe kam, und ich sah, dass unser Smutje schon begann zu uns zurückzuschwimmen, hatte ich nur noch Augen für den Dreimaster. Die ganze Besatzung stand an der Reling und starrte auf uns nieder. Keiner rührte sich, und ließ langsam meinen Blick über das ganze Schiff wandern. Im Hintergrund hörte ich, wie sie mühsam dabei waren, unseren fetten Koch wieder ins Boot zu ziehen. Dann sah ich den Namen des Dreimasters, und mir wurde sofort klar, dass ich dieses Schiff kannte. Ich hatte diesen Namen schon einmal gehört, nur viel mir nicht ein in welchem Zusammenhang.
Wir wussten nicht was wir machen sollten. Alle starrten wir auf den Segler, und da war immer noch diese unheimliche Stille. Bis ich jemanden hinter mir rufen hörte. Es war unser Koch, dem nichts besseres einfiel, als zu fragen, ob wir an Bord kommen könnten.
Da hätte er aber mal schön alleine rüberschwimmen können. Ich sah an den entsetzten Gesichtern der anderen, dass sie genauso wenig wie ich Lust hatten auf ein tauchendes Segelschiff zu gehen, das dazu noch aus einer ganz anderen Zeit zu sein schien. Das war doch alles total absurd. Wie in einem Horrorfilm in dem Geisterpiraten ihr Unwesen trieben. Das konnte doch nur ein schlechter Traum sein.
Plötzlich sah ich ihn, und ich hatte ein wenig Hoffnung, dass dies doch nur ein sehr realer Traum war. Der Mann aus meinen Träumen. Da stand er, und nun sah ich nicht nur sein Gesicht. Er hatte wie alle anderen diese alte Kleidung an, die schon seit ewigen Jahrzehnten nicht mehr modern war. Dazu einen Zylinder auf dem Kopf und einen Bart, der in einem schmalen Streifen sein Kinn bis rauf zu den Haaren einrahmte.
Ich fing an zu zittern, und mir lief der Schweiß aus allen Poren. Ich wartete wie gebannt, ob es wie in meinem immer wiederkehrenden Traum sei, und ob ich ihn diesmal hören könnte. Und tatsächlich. Ich sah es genau. Er sah mich an, holte tief Luft, und rief.
Und ich hörte. Oh mein Gott. Ich hörte ihn, und was ich hörte trieb meinen Herzschlag in die Höhe. Ich wünschte ich hätte es nicht gehört. Es war ein Befehl, und der galt nicht uns, sondern seiner Mannschaft. „Abwärts bis letzter Mann“. Er war der Kapitän dieses Schiffes.
Es kam Bewegung in die Männer an der Reling. Sie griffen hinter sich, und als sich alle wieder uns zugewandt hatten, hielten sie alle lange Wurfharpunen im Anschlag.
Wurfharpunen! Das war ein altes Walfangschiff. Der Kapitän drehte sich um und entfernte sich von der Reling. Mit einem Knall viel es mir ein. Natürlich, das Walfangschiff „Pequod“. Und ich hörte es so deutlich als würde ich neben ihm gehen. Aber das musste einfach ein Traum sein. Es war nichts anders möglich. Ich hörte das Klopfen ganz genau. Mit jedem zweiten Schritt den er tat. Nein, unmöglich.
Das Walfangschiff „Pequod“, und Kapitän Ahab mit seinem Holzbein aus Walknochen.
Ich hatte die Geschichte als Kind ein oder zweimal gelesen. Gelesen, die Geschichte.
Eine Geschichte, nur eine Geschichte. Gleich mussten wir einfach aufwachen.
Doch die Wurfharpune, die meinen Brustkorb zerschmetterte, und mein Rückrat durchbrach belehrte mich eines Besseren. Dieser Schmerz.
Das war kein Traum.
 



 
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