Licht und Schatten

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Licht und Schatten

Zögernd stahl sich ein Sonnenstrahl durch das Gitter. Jörg Baumann tigerte auf und ab, durchkreuzte Licht und Schatten der Zelle. Wut, Angst und Verzweiflung tobten in seinem Innern. Sein Anwalt Dr. Jäger ließ ihm mitteilen, dass es neue Erkenntnisse im Fall Maurer gäbe und er wolle so rasch wie möglich kommen. Was für Erkenntnisse? Der Fall war doch längst abgeschlossen, Jörg zu zwölf Jahren Haft verurteilt! Fragen über Fragen stürzten auf ihn ein, ließen ihm keine Ruhe mehr. Alles wurde wieder an die Oberfläche gezerrt. Wozu? Aufgewühlt steckte er die Hände in die Hosentasche, wo seine Finger nach dem zerknitterten Foto tasteten. Zärtlich strich sein Daumen über das Papier. Es zeigte Lisa und ihn beim Picknick. Er entspannte sich ein wenig und erinnerte sich an jenen Sommer vor fünf Jahren.

Er hatte Lisa zum Picknick in den Park eingeladen, um ihr seine Liebe zu gestehen und sie um ihre Hand zu bitten. Kurz bevor er das Haus verließ, prüfte er noch rasch sein Aussehen im Spiegel. Der zeigte ihm das Bild eines glücklichen und gut aussehenden jungen Mannes. Lisa wartete bereits an der Straßenecke bei ihrer Wohnung. Wie hübsch sie aussah in ihrem bunten Sommerkleid. Unge-zähmte blonde Locken fielen ihr auf die braungebrannten Schultern. Im Park hielt er den Augenblick des Glücks mit dem Selbstauslöser fest.
Nach einem Schluck Limonade fragte ihn Lisa ungeduldig: „Warum hast du es am Telefon so spannend gemacht? Was ist los? Was musst du mir unbedingt sagen?“
Zärtlich hielt er ihre Hand und nahm allen Mut zusammen: „Lisa, es gibt für mich nur noch dich. Ich möchte für immer mit dir zusammen sein, mit dir Kinder bekommen und mit dir alt werden. Bitte heirate mich. Ich liebe dich von ganzem Herzen!“
Zögernd sah sie ihn an und meinte leise: „Ich soll dich heiraten? Jörg, das kann ich nicht.“
„Aber warum denn nicht? Lisa, ich liebe dich! Du und ich…“
„Jörg, es tut mir so Leid, du bist mein bester Freund. Aber ich, ich liebe einen anderen. Verstehst du?“
„Wie soll ich das verstehen? Du hast nie etwas erzählt!“
Plötzlich packte ihn die Wut und die Eifersucht trieb ihn zu Worten, die er besser für sich behalten hätte. Lisa sprang auf und rannte weinend davon. Natürlich gab es für den heftigen Streit zahlreiche Zeugen. Man fand Lisa am nächsten Tag erstochen in ihrem Schlafzimmer. Da die Polizei am Tatort nur seine Fingerabdrücke gefunden hatte, wurde er schnell als Täter identifiziert.

Das vertraute Aufschließen der schweren Zellentüre brachte Jörg in die Gegenwart zurück. Ein Aufseher teilte ihm mit, dass der Anwalt auf ihn wartete. Endlich! Nervös ging Jörg vor dem Wärter durch die langen Gänge. Immer wieder musste er warten, bis der Beamte zahlreiche Gittertüren vor ihm aufschloss und hinter ihm verriegelte. Daran würde er sich nie gewöhnen können, es war so demütigend! „Ich bin unschuldig!“, schrie es in ihm. Niemals hätte er Lisa töten können! Er hatte sie doch geliebt! Aber die Beweislast war zu erdrückend. Was wollte Dr. Jäger? Warum ließ man ihn nicht endlich in Ruhe? Für die Welt da draußen war er Lisas Mörder. Verzweifelt umklammerte Jörg das Foto in seiner Hosentasche. Das kalte Neonlicht unterstrich die Blässe seiner Haut. Endlich betrat Jörg den Besucherraum.
Dr. Jäger kam mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. „Herr Baumann, ich habe gute Nachrichten“, strahlte er. „Das kriminaltechnische Labor hat Spuren an Lisas Kleidung ge-
funden, die man damals noch nicht feststellen konnte. Die DNA stammt nicht von Ihnen. Wir rollen den Fall neu auf.“
Jörgs Knie wurden weich.
Dr. Jäger rückte ihm einen Stuhl entgegen und meinte:
„Setzen Sie sich erst mal. Sie sind ja ganz blass. Ich kann ihre Gefühle gut verstehen.“
Konnte er das wirklich? Wie sollte jemand, der nicht in dieser Lage war, seine Gefühle verstehen? Die Faust, tief in seiner Hosentasche versenkt, umfing noch immer das Foto. Er legte es vor sich auf den Tisch. Endlich würden sie Lisas wahren Mörder finden. Ein kleiner Sonnenstrahl stahl sich in sein Herz.
 



 
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