Liebe Freundschaft Liebschaft

Rupert Davis

Mitglied
Es war der Abend vor meinem Abiball. Und ich wusste jetzt schon, dass es ein sehr aufregender Abiball werden sollte. Das lag vor allem an drei Frauen. Mit einer von ihnen saß ich jetzt im Havanna, sozusagen die Stammkneipe unserer einstigen Clique. Anika studierte bereits seit einem Jahr in Göttingen und wir hatten uns lange nicht mehr gesehen.
»Nach all den Dingen, die wir durchgemacht haben, hätte ich niemals geglaubt, dass wir jemals wieder miteinander reden würden«.
Sie lächelte. »Ja«, sagte sie. »Unsere Freundschaft hat mir immer viel bedeutet«.
Ich nickte. »Vielleicht haben wir deshalb nie zueinander gefunden«. Sie wollte etwas entgegnen, aber sie hielt einen Moment inne, als die Bedienung unsere Getränke auf den Tisch stellte.
»Oder wegen Alex«, sagte sie dann trocken und ich war etwas verwundert. Für gewöhnlich hatte sie nicht soviel Humor, insbesondere wenn es um ihn ging. Alex war ihr Waterloo gewesen. Es gab eine endlose Liste von jungen Frauen, die auf ihn hereingefallen waren und Anika reihte sich ruhmlos ein. Dieser Splitter saß immer noch tief in meinem Herzen. Aber ich war selbst nur wenig besser gewesen.
»Oder wegen Mara«, sagte ich, um sie nicht allein im Regen stehen zu lassen. Der seltsame Tonfall, der meine Worte begleitete, fiel ihr nicht auf, oder sie ignorierte ihn. Ich war jetzt schon über zwei Jahre mit Mara zusammen, aber ich würde es nicht mehr lange sein. Das war eines der Dinge, die ich Anika sagen wollte, aber ich musste vorsichtig sein.
»Ich habe es nie verstanden, woran es genau gelegen hat«, lenkte ich vorerst von Mara ab. »Ich meine, ich habe mich in Dich verknallt, als ich auf eure Schule gekommen bin.«
»In der elften Klasse?«, fragte sie ungläubig.
Ich nickte. Das war jetzt vier Jahre her. Und wenn man so jung ist wie ich, sind vier Jahre eine verdammt lange Zeit. »Ich denke, Du hast etwas länger gebraucht, um mich zu bemerken«, sagte ich amüsiert.
»Nicht viel länger«, wehrte sie schnell ab.
»Wie viel?«, wollte ich wissen.
»Na ja, ich denke mal Anfang der Zwölften«, räumte sie lächelnd ein.
In der Zwölften? Wir waren drei Jahre lang verliebt und haben nie zueinander gefunden? » Aber wieso dann die Sache mit Alex?«
»Frag nicht«, blockte sie ab und sah zur Seite.
»Ich will es aber wissen. Anika, unser Fehler war immer, dass wir nie gesagt haben, was wir fühlen, dass wir nie miteinander geredet haben. Jedenfalls nicht über diese Dinge.«
»Ich weiß es nicht, ich kann es Dir wirklich nicht sagen.«
»Er hat es Dir leicht gemacht, nicht wahr?«
»Er hat es mir schwer gemacht, ihn zu ignorieren.«
Ich musste lachen. »Das meine ich nicht. Du kanntest Alex ziemlich gut und wusstest, was er für ein Hallodri ist.« Sie nickte, aber sie schien nicht zu verstehen, worauf ich hinaus wollte.
»Er war Dir nicht wichtig, Du wusstest von vorneherein, dass diese Beziehung nicht ewig halten würde.«
Ihr plötzlich erstarrter Blick, dieser erschrockene Ausdruck. Ich hatte etwas getroffen, etwas, dessen sie sich selbst noch nicht bewusst gewesen war. Irgendwie schlummerte dieser Gedanke schon lange in mir. Sie erwiderte nichts darauf. Ich habe schon oft die Erfahrung machen müssen, dass Menschen ungern auf ihre Schwächen hingewiesen werden.
»Sei ehrlich, Du wusstest es doch!«
Sie atmete tief durch. Man konnte sehen, wie sie mit sich selbst rang.
»Ja«, gab sie dann zu.
»Und deshalb haben wir nie zueinander gefunden«, offenbarte ich ihr.
»Weil ich Angst hatte«, sagte sie leise.
»Es war ein Teufelskreis«, verbesserte ich sie.
»Es war nicht Deine Schuld. Ich hatte ebenso Angst, Angst zurückgewiesen zu werden.«
»So wie nach Deiner Florenzfahrt?«, fragte sie. Mir ging es um Klärung, nicht um Schuldzuweisungen, aber irgendwie schien sie nun den seelischen Märtyrertod sterben zu wollen.
»Es war eine böse Geschichte«, räumte ich ein. »Aber ich verstehe jetzt, was Dich dazu getrieben hat. Und immerhin habe ich es wenig später selber nicht besser gemacht.«
»Mara«, sagte sie und ich nickte.
»Richtig«, bestätigte ich, »Wir sind beide vor uns selbst geflohen.«
»Ganz so einfach ist es auch nicht«, warf sie ein.
Ich wusste, worauf sie hinaus wollte. »Du wolltest nicht schon wieder eine Beziehung zerstören.«
»Immerhin hattest Du Mara doch für mich verlassen.«
Das stimmte nur bedingt. Ich würde für niemanden eine funktionierende Beziehung aufgeben. Nicht einmal für Anika. »Es gab auch andere Gründe.«
»Aber Du bist wieder zu Ihr zurück, als ich mich von Dir distanziert hatte.«
»Ja«, seufzte ich. Wie gesagt, Menschen werden ungern auf ihre Schwächen hingewiesen. Aber was war meine Schwäche? Mara, Anika, oder war ich es selbst?
»Zu der Zeit waren wir uns am nächsten gewesen«, sagte ich vielleicht ein wenig zu sehnsüchtig. Ich sah in ihren Augen, wie die Erinnerungen aufkeimten. Und ich konnte mich auch noch sehr genau erinnern. Ich hatte kurz vor der Florenzfahrt unseres Leistungskurses mit Mara Schluss gemacht. Sicher, Anikas Andeutungen waren nicht mehr falsch zu deuten, aber ich könnte selber nicht sagen,
welchen Einfluss sie auf diese Trennung gehabt hatte. Jedenfalls hatte sie mich damals zum Bahnhof gebracht. Es hatte zwar nicht geregnet, aber es war wie im Film gewesen. Wir küssten uns auf dem Bahnsteig.
»Ich habe eine ganze Woche in dieser verdammten Stadt geschmort, in der an jeder Ecke verliebte Pärchen standen und sich küssten«, sagte ich gespielt verärgert und sie lachte wieder. Ich hatte den schmerzlichen Ernst aus dem Gespräch verbannt. »Und dann kam ich zurück und Du warst nicht da. Du warst Wein trinken mit Alex.« Das Schuldgefühl wollte sich wieder auf ihre Miene zurückschleichen.
»Er kann froh sein, dass er mir danach nicht über den Weg gelaufen ist.« Sie lachte wieder. Alex war deutscher Meister im Wasweißich und trug den Schwarzen Gürtel. Ich war mir bewusst, dass ich sie gerade über eine Achterbahn der Gefühle jagte. Diese Wechselspielchen aus Freude und Leid, die Leichtigkeit und der ehrliche Schmerz. Aber ich kannte sie gut, vielleicht sogar besser als sie sich selbst. Und ich musste es tun, um sie weich zu kochen. Ich musste ihr die Wahrheit entlocken und der Moment war günstig.
»Und wie siehst Du unsere Beziehung jetzt?«, fragte ich.
»Du bist mein bester Freund«, erklärte sie ohne Umschweife. Ich war erleichtert, aber ich musste sichergehen. »Könntest Du Dir vorstellen, heute noch...«
Ich brauchte den Satz nicht beenden.
»Ich glaube es ist zuviel Zeit vergangen«, sagte sie.
Also nicht! Aber die Art, wie sie es sagte hätte mich warnen sollen. Ich erzählte ihr trotzdem von Anja. Aber ich kam nicht weit. Anikas Augen begannen zu glänzen. Tränen sammelten sich. Ich hatte sie gefragt. Ich hatte sie gefragt und sie hatte nein gesagt.
»Was ist mit dir?«, fragte ich und selbst mein Tonfall verriet, das ich die Antwort bereits kannte. Es war unser altes Problem. Wir können über so viel reden, aber nie ehrlich über unsere Gefühle zueinander. Seit drei Jahren.
»Ich hatte gehofft«, sagte sie schluchzend, »dass wir noch eine Chance gehabt hätten.«
Es fühlte sich an, als würde ein Hochhaus in mir zusammenstürzen. Es würde wohl nie enden. Für einen Moment wurde ich schwach. Ich war geneigt, mich fallen zu lassen, auf sie zuzugehen. Einen Kuss. Ein Kuss war der einzige Höhepunkt unserer Beziehung und es war zu wenig. Aber es war auch zu spät. Viel zu spät. Ich hätte nicht sagen können, ob es die Beziehung gewesen wäre, die wir damals hätten haben können. Deshalb wusste ich auch nicht, ob es Vernunft oder ob es Leichtsinn war, was mich zu den folgenden Worten verleitete.
»Ich glaube diese Chance hatten wir. Vor langer Zeit.« Sie nickte und wandte ihr tränenüberlaufenes Gesicht ab.
»Was ist mit Mara?«, fragte sie nach einer Weile, nachdem sie sich wieder gefasst hatte.
Mara? Warum erkundigte sie sich ausgerechnet nach Mara?
»Es ist endgültig aus. Ich habe gemerkt, dass mich die Beziehung eingeengt hat.«
»Und Du hast diese Anja kennen gelernt.« Ich nickte.
» Anja steckt in einer ähnlichen Situation wie ich und wir fanden auf Anhieb einen gemeinsamen Nenner«.
»Und wie hat Mara reagiert?«, wollte sie wissen.
Ich hatte ihr damals erzählt, wie schwer die erste Trennung für Mara gewesen war. »Sie weiß es noch nicht«, gestand ich ihr. »Sie kommt morgen erst aus London zurück.«
»Das heißt sie und Anja werden beide auf dem Abiball sein?«
Ich seufzte. »Und Du! Aber Mara wird nicht kommen. Ich sage es ihr, sobald sie zuhause ist.«

Der Abiball war wahrlich aufregend, Anja und ich kamen uns näher und Mara war wirklich nicht gekommen. Anika ging mir aus dem Weg, wie auch Maras und meine gemeinsamen Freunde. Zwei Tage später fuhr Anja nach Frankreich und hinterließ mir eine Option auf eine Beziehung. In vier Wochen, wenn sie zurückkehren würde.
Zwei Wochen später fuhr ich nach Göttingen um Anika zu besuchen. Vier Jahre sind wirklich eine verdammt lange Zeit.
 



 
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