Linda in Love

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Rafi

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Linda in Love

Alles war noch genau so, wie es früher schon gewesen war: Die alte Musicbox dudelte Songs, die kaum noch jemand kannte; kalter Rauch klebte unter Decke des Nachtcafés und vermischte sich mit dem Geruch von Bier, Kaffee und Tee. Als wäre die Zeit eingefroren worden. Ein Relikt aus alter Zeit war diese Kneipe, ein Ort, der von den Wirrnissen alles Modernen unberührt geblieben war, der sich jeder Digitalisierung widersetzte und dem Verbote nur ein Aufruf zur Rebellion bedeuteten.
Ich saß an dem Platz in der Ecke, an dem ich auch damals meist gesessen hatte. Fast war es so etwas wie mein Stammplatz, wenn ich auch seit langer Zeit nicht mehr hier gewesen war. Aber was spielte Zeit schon für eine Rolle hier im Nachtcafé?
Tief sog ich die Bilder in mich ein, die Erinnerungen weckten und nie vergessene Gefühle. Ja, alles war so wie früher in dieser Kneipe der verlorenen Seelen. Und doch war alles anders; sie war nicht da. Ein leerer Raum, eine Aushöhlung in der Luft schien mir da, wo sie hätte sein sollen. Es war, als vermisse die schwere Luft ihr helles Lachen, als fehle dem Boden die Berührung ihrer Füße, als sehe sich ein jeder nach ihrem Sommerkleid um, das glockengleich um sie tanzte, wenn sie sich zur Musik drehte. Sie fehlte.
Ich nahm einen Schluck Kaffee; er schmeckte fad und konnte die Müdigkeit nicht aus meinem Gehirn spülen. Wie flach doch alles war ohne sie. Ein Foto war die Wirklichkeit geworden, ein Abziehbild, dem das Dreidimensionale nicht gelingen wollte. An der Wand stand noch ihr Name, den sie damals mit ihrem kirschroten Lippenstift geschrieben hatte, verwischt, doch noch immer lesbar. „Linda in Love“, umkränzt von einem Herzen.
Ich schloss die Augen, ließ mich forttragen, weit zurück in die Zeit, in der sie in mein Leben getreten war, gerade so, als hätte sie nur darauf gewartet, mich vollständig zu machen, den fehlenden Teil meines Ichs zu ersetzen …
Die Nacht ging zu Ende, als sie so unerwartet vor mir stand wie ein Regenguss, der die Wüste zum Erblühen bringt. „Hi“, sagte sie. „Ich bin Linda.“
Ich starrte sie an, halb betrunken. Berauscht vom Bier und vom Augenblick. Ich lächelte, war verlegen und wusste nicht, was ich antworten sollte.
„Du bist ziemlich schweigsam, was? Macht nichts, tut zwischendurch auch mal ganz gut. Ich kann ja für uns beide reden, wenn du willst.“
Sie nahm einen Stuhl, stellte ihr Glas auf den Tisch und setzte sich zu mir, und ich konnte nichts anderes tun, als ihre Schönheit, ihre Frische und Offenheit zu bewundern. Draußen dämmerte bereits der Morgen. „Schade, ich könnte ewig so weitermachen“, sagte sie. „Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass das wirkliche Leben nachts stattfindet? Ich meine, tagsüber geht man arbeiten oder einkaufen, man putzt seine Wohnung, kocht, isst, telefoniert, streicht die Wände in Pink. Aber nachts, nachts geht man tanzen, man trinkt und lacht. Erst wenn es dunkel ist, dann lebt man doch richtig, oder? Glaubst du, dass wir alle in Wirklichkeit Zombies sind? Oder vielleicht Vampire? Ja, wir sind Vampire. Pass auf, sonst sauge ich dich noch aus!“
Sie warf den Kopf zurück und lachte, und es klang, als würde eine Saite aus purem Silber in meinen Ohren vibrieren.
Noch immer hatte ich kein Wort gesagt. Doch ich spürte, dass ich eine Antwort formulieren musste, etwas Witziges, Kluges, Eloquentes, mit dem ich sie halten konnte. Sonst würde dieser Traum so plötzlich aus meinem Leben verschwinden, wie er aufgetaucht war.
„Ich … ich weiß nicht“, sagte ich, und ich hörte, wie rau meine Stimme klang. „Vielleicht sind manche Menschen von der Sonne und andere vom Mond.“
Linda erstarrte und schaute mich mit großen Augen an wie ein Kind, dem ein Wunder begegnet war. „Das ist so schön!“, rief sie schließlich aus. „Von der Sonne geboren die einen, vom Mond erschaffen die anderen. Das erklärt alles, einfach alles! Darum gibt es Tag und Nacht. Damit jedes Himmelskind seine Zeit bekommt!“
Sie sprang auf, lachte, beugte sich vor und umarmte mich. Ihr Kuss, schnell auf meinen Mund geblitzt, schmeckte nach Kirschen. „Das will ich nie, nie, niemals nicht vergessen!“
Sie kramte einen Lippenstift aus ihrer Tasche und schrieb es an die Wand: „Linda in Love“. Dann malte sie ein Herz um die Worte. „Jetzt verrate mir deinen Namen, hijo de la luna!“
Ich war verwirrt und fragte, was diese Worte bedeuteten. „Sohn des Mondes“, lachte sie. „So nenne ich dich. Und wie nennen dich die anderen?“
„Bert. Ich heiße Bert.“
„Bert ist gut. Schön kurz. Das kann ich mir merken. Sag, Bert, Sohn des Mondes, was hast du jetzt vor?“
Ihre Direktheit gefiel mir. Mehr noch, sie machte mich verliebt, ließ mich munter werden und unternehmungslustig. „Ich weiß nicht“, antwortete ich, die Kirschen noch schmeckend. „Das Nachtcafé schließt gleich …“
„Hast du Lust, schwimmen zu gehen?“
„Schwimmen …?“
„Ja, schwimmen“, lachte Linda hell und klar. „Sag bloß, du bist noch nie in den Sonnenaufgang getaucht!“
„Nein – nein, bin ich noch nicht.“
„Dann komm, Bert vom Mond, komm!“
Sie nahm meine Hand und zog mich mit sich. „Ich weiß, wie wir die Nacht verabschieden und den Tag begrüßen können. Lass und zwischen den Zeiten tauchen!“
Der Himmel im Osten färbte sich silbern, als wir über den Maschendrahtzaun des Schwimmbades kletterten. Übermütig sprang Linda auf das taunasse Gras, rannte los, und ich hatte Mühe, ihr zu folgen. Im Laufen streifte sie ihre Schuhe von den Füßen, wandt sich aus ihrem Kleid, warf den Slip von sich. Nackt erreichte sie das Becken, in dem das Wasser klar und glatt wie ein Spiegel nur darauf zu warten schien, ihren Leib umhüllen zu dürfen.
Sie schrie, als sie sich hineinstürzte und hinabtauchte. Ich sah von oben ihren schlanken Körper am Grund des Beckens mit kräftigen Armzügen Meter für Meter dahingleiten. Lindas Haar wehte unter Wasser wie eine blonde Fahne hinter ihr.
Prustend tauchte sie am anderen Ende des Becken wieder auf, lachte und schlug mit den flachen Händen auf die Wasseroberfläche. „Was ist los?“, rief sie. Ich stand noch immer unschlüssig da, wo sie vor einer Minute untergetaucht war. „Komm schon, das Wasser ist herrlich!“
Was soll’s, dachte ich und streifte mein Shirt über den Kopf, knöpfte die Hose auf. Einen Moment lang zögerte ich. Was, wenn man uns erwischte? Und vor allem – ich kannte diese Fee ja kaum. Und – ja, zugegeben: Es war mir peinlich, mich nackt vor einer fremden Frau wie Linda zu zeigen. Dann aber gab ich mir einen Ruck, streifte die Hose ab, warf Schuhe und Strümpfe hinter mich, und sprang kopfüber ins Wasser. Man lebt nur einmal, dachte ich mir. Und morgen sind wir tot.
Sofort tauchte ich wieder auf, um mit hastigen Zügen zu Linda zu schwimmen.
„Na siehst du“, lachte sie, „du kannst es doch.“
Keuchend hielt ich mich am Beckenrand fest. Jetzt waren unsere Körper einander ganz nah. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Linda war wirklich unglaublich schön. Tropfen fielen von ihrer spitzen Nase, das nasse Haar klebte ihr am Kopf und an den Schultern, ihre Brüste waren halb unter Wasser. Sie war so perfekt, so … überirdisch!
Sie blickte mir tief in die Augen, und da war etwas, das mich verwirrte. Eine Ferne, die mich ängstigte und zugleich neugierig machte. Mir schien, als gebe es in diesem Moment nur noch uns beide, und die ganze Welt drehte sich um diesen einen Augenblick, in dem Linda und ich der Mittelpunkt des Universums waren.
„Wenn die Sonne aufgeht, wird alles neu geboren“, sagte sie leise und wandte sich ab. Sie starrte direkt in die heller werdende Scheibe am Himmel. „Man kann gar nicht wissen, ob nachts alles so ist wie am Tag. Erst wenn die Sonne aufgeht, sieht man, ob man doch da ist.“
Plötzlich wandte sie mir wieder ihr Gesicht zu und lachte. „Wie lange kannst du die Luft anhalten? Ich wette, dass ich es länger kann als du!“
Meine Spannung fiel ab und machte einem nie gekannten Übermut Platz. „Okay“, sagte ich, „die Wette gilt!“
Kaum hatte ich ausgesprochen, als Linda auch schon die Lungen voll Luft sog und untertauchte. Ich tat es ihr gleich, siegessicher, suchte unter Wasser ihren nackten Körper, sah die rudernden Arme und die aufgeblähten Wangen. Sie hatte die Augen geöffnet und schaute mich an.
Ich hatte tief eingeatmet, weil ich sie besiegen wollte. Ja, ich wollte dieses Spiel gewinnen, obwohl ich damals schon ahnte, dass es weder ein Spiel war, noch dass ich gewinnen konnte. Aber eine eine Ahnung ist eben genau das; weit entfernt vom Wissen, und darum tauchte ich unter und genoss es und floh nicht.
Ich blieb so lange unter Wasser, bis meine Lungen brannten und der Druck und das Tosen in meinem Kopf immer stärker wurden. Mit einem Schrei stieß ich schließlich, als ich es einfach nicht länger aushalten konnte, durch die Wasseroberfläche. Ich schaute mich um. Linda tauchte noch immer nicht auf. Ich sah sie weit unter mir. Mein Atem ging stoßweise und rasselnd, aber sie machte keine Anstalten, endlich nach oben zu kommen.
Die Sonne war jetzt stark genug, dass Bert ich sie deutlich auf meiner kalten Haut spürte. Linda blieb noch immer unter Wasser.
Ich sah sie langsam mit den Armen gegen den Auftrieb rudern. Sie musste sehr geübt sein im Tauchen.
Endlich wurde mein Atem ruhiger und gleichmäßiger. Es war unglaublich, wie lange Linda unter Wasser bleiben konnte. So lange – ich wurde nervös. Niemand konnte so lange die Luft anhalten. Ich wurde unruhig, doch da sah ich, wie Linda langsam zur Oberfläche schwebte. Ihre Arme waren ganz ruhig, und ihr Haar sah aus wie ein Netz aus lebendigen Schlangen, die ihren schlanken Körper vom Kopf bis zu den Hüften umzüngelten. Sie bewegte sich nicht, trieb nur da wie ein Albatros, der weit oben am Himmel mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Kissen aus Luft ruht.
Wieder holte ich tief Luft. Ich tauchte hinab zu Linda. Sie regte sich nicht. Ich fasste sie bei den Hüften – wie kalt sie war!
Mühsam tauchte ich auf, ihren Leib fest an mich gedrückt. Linda bewegte sich nicht. „Linda! Linda!“, rief ich voller Angst. „Bitte, sag doch etwas!“
Ich schüttelte ihren reglosen Körper, strich ihr die nassen Haare aus der Stirn. Schließlich hielt ich ihr die Nase zu, presste meine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund und hauchte ihr meinen Atem ein – solange, bis Linda hustete, die Augen aufschlug und sich regte.
Sie lächelte mich an, ihre Arme schlangen sich um meinen Hals und zogen mich zu sich herab. Ohne ein Wort küsste sie mich, und ich versankt in diesem Kuss wie in einem See. „Ich habe gewonnen“, flüsterte sie, als wir uns endlich voneinander lösten.
Ich spürte ihren nackten Körper in meinen Armen und wusste, dass ich ihr in diesem Moment verfallen war. „Ja, du hast gewonnen“, flüsterte ich zurück. „Du hast gewonnen …“
Von diesem Tag an waren wir zusammen, ohne dass es dazu eines Wortes oder einer Erklärung bedurft hätte. Oft fragte ich mich, was Linda eigentlich an mir mochte. Sie war so anders als ich, so frei, so voller Leben. Zugleich wusste ich nicht, ob Linda ahnte, warum ich sie liebte. Ihr aber schienen solche Gedanken und Grübeleien nichts zu bedeuten. Sie lebte für den Augenblick, jeden Tag und jede Nacht einzig für das Hier und Jetzt. Für Linda gab es kein Gestern und kein Morgen, nur der Moment zählte, und jede Sekunde des Tages wurde wie ein Feuerwerk entfacht. Sie warf mich aus meinen gewohnten Bahnen, aus den eingefahrenen Gleisen eines Lebens, dessen Verlauf bis zu Lindas Auftauchen vorgezeichnet schien: Ich studierte Betriebswirtschaft, später würde ich einmal die Firma meines Vaters übernehmen. Das war der Plan, der längst entschiedene Entwurf meines Lebens. Meine Eltern finanzierten mir eine kleine Wohnung, mein Studium und alles, was ich so brauchte. Dafür erwarteten sie, dass ich mein Studium so schnell wie möglich absolvierte, danach ein, vielleicht zwei Jahre „Erfahrung sammle“ und dann das Korsett überstreife, das sie bereits für mich gestrickt hatten. Alles war klar und glatt, es gab keine Überraschungen, keine Berge, die nicht von vorneherein aus dem Weg geräumt werden konnten.
Jetzt aber war Linda in mein Leben getreten und zwang mich, alles neu zu überdenken. Sie befreite mich von etwas, Ketten vielleicht, die ich vorher gar nicht als solche empfunden hatte. Was sie mir schenkte, war eine neue Sicht. Einen klareren Blick auf das Leben.
Immer war es früher Abend, wenn wir einander trafen. Und immer schien Linda eben erst aufgewacht zu sein.
„Du siehst müde aus“, bemerkte sie eines Abends. Wir saßen einander gegenüber auf dem Boden in meinem Zimmer. Linda hatte Kerzen entzündet und sie in einem weiten Kreis um uns herum aufgestellt.
„Es war ein langer Tag“, antwortete ich. Mich verwirrte der fremdartige Zauber des Feuerkreises. „Ich muss mich auf eine Prüfung vorbereiten.“
Linda beugte sich vor und nahm meine Hände in ihre – die Berührung elektrisierte mich. Ganz tief blickte sie mir in die Augen. „Du bist nicht frei, hijo de la luna, nicht frei“, flüsterte sie. „Da sind so viele Fesseln, die dich daran hindern, auf dem Seil zu tanzen!“
Wie hypnotisiert fühlte ich mich, sodass mir nichts anderes blieb, als still zu hocken und Linda zu bewundern. In diesem Augenblick meinte ich, nicht einfach nur eine Frau vor mir zu haben. Nein, Linda war mehr, sie war ein magisches Wesen, dessen Zauber meinen Geist in Welten entführte, deren Existenz ich bis dahin nicht einmal erahnt hatte.
„Weißt du, wie es ist, hoch oben auf dem Seil zu stehen, Bert? Du schaust in die Tiefe und da ist nichts. Kein Netz, kein doppelter Boden, einfach nichts. Das ist das wahre Leben. Wenn du das siehst und spürst, weißt du, dass du bist.“
Ihre Worte irritierten mich. Aber ich glaubte ihr. Alles, was sie sagte, war so klar und rein, war Wahrheit. Linda war wie ein Engel, der den ganz sicher vorhandenen Teufel der Langeweile in mir zu Tode lebte.
„Komm, Bert, ich will dir etwas zeigen.“
Langsam richtete sie sich auf. Sie lächelte, als sie über den Ring aus Kerzen stieg. „Ich will dich mit auf eine Reise nehmen. Auf eine Reise zu dir selbst.“
Damit holte sie etwas aus ihrer Hosentasche. Ein Tütchen, in dem ich ein blassgelbes Pulver erkennen konnte. „Engelsstaub, der die Nacht mit Leben füllt. Hast du Angst, Bert? Das musst du nicht. Es zeigt dir den Mond, sein Licht, sein Strahlen. Komm mit mir auf das Seil, Mondkind. Komm, wir wollen tief, ganz tief tauchen!“
Ich starrte auf das kleine Päckchen in Lindas Hand. Sie hielt es mir hin, lockte mich, verführte mich. Ich war ihr ausgeliefert. Ich konnte mich nicht dagegen wehren, wollte mich nicht wehren. Ich nahm, was sie mir gab und genoss die Bitternis, die Trockenheit, das Würgende. Gut war, was von Linda kam; schlecht war alles andere.
Linda hatte ihre Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt. Wie eine Statue, die ein alter Meister aus Marmor geschliffen hatte. Ich spürte, wie ihre Gedanken auf Reisen gingen, wie sich ihre Seele frei vom Körper machte und weit oben über allen Dingen des irdischen Seins flog. Und dann sah ich meine eigene Seele, die gläsern leuchtete, spürte das Wasser um mich und die Tiefe zu meinen Füßen, die mich zu sich hinab ziehen wollte. Doch schwebte ich ja, ich glitt dahin und folgte Linda, die ihre Hand ausstreckte, die Hand, deren Finger zu Federn geworden waren. Ihre Berührung war wie Glut, die mich gefrieren ließ, wie Wein, der mir als Sand durch die Kehle rann, wie Schmerz, der mir als höchster Genuss erschien.
„Dort ist der Horizont“, hörte ich sie sagen, und ich antwortete: „Ich will darüber hinaus. Weiter, weiter …“
Plötzlich war es, als explodiere mein Kopf. Durch meine geschlossenen Augenlider sah ich Farben und Lichter, hörte Geräusche, spürte Wärme und Liebe. Ich wurde leichter, jede Berührung des Bodens schwand unter mir. Schwebend, schwebend spürte ich die Leichtigkeit, kein Gewicht war mehr da, nichts, das lastete und bedrückte. Schwerelos glitt ich dahin im Raum zwischen oben und unten, zwischen den Hemisphären, zwischen Grund und Spiegel. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen. Vielleicht war dann alles vorbei. Freiheit! Freiheit, zügellos und ohne Blei, an das die Geburt einen fesselt. In meinen Ohren rauschte es, meine Lunge brannte, dick wurde die Luft um mich herum und zäh. Die Zeit, jenes unaufhörliche Gliederband aus Sein und Sein und Sein, verebbte.
Wie lange schon? Eine Stunde, zwei? Ich wusste es nicht. So lange, bis auf einmal alles stürzte. Meine Glieder wurden schwerer, ich fühlte mich matt, und mit einem Mal kroch kalte Angst in meine Eingeweide. Angst vor dem, was ich gerade erlebt hatte, Angst davor, dieses Gefühl niemals wieder einfangen zu können. Ich spürte den Fall aus einer nie zuvor erreichten Höhe, und der Aufprall war das Schlimmste.
Nicht, dass er schmerzhaft gewesen wäre. Nein, es war eher eine jähe Enttäuschung, dass es vorbei war. Eine Traurigkeit, nun doch wieder in der Realität gefangen zu sein, alles Gewicht spüren zu müssen. Wie zuvor das Bedürfnis nach Schlaf zu empfinden, Hunger, Durst, Verpflichtungen.
Doch jetzt verstand ich, warum Linda stets so aufgedreht und voll sprühendem Leben war. Was da mit mir geschehen war, war einfach fantastisch. Niemals hätte ich gedacht, dass es solche Gefühle überhaupt gab. Wieder und wieder wollte ich es spüren. Dieser Tanz sollte niemals enden. Ein Taucher wollte ich sein für immer. Wesen zwischen den Welten. Und so nahm ich weiter, was Linda mir gab. Es war gut. Es kam von ihr.
Wir liebten einander. Wir hielten einander. Dass wir einander vernichteten – wie hätten wir es ahnen sollen? Eine Rose war Linda, die, kaum von mir gepflückt, begann zu welken; und ich war einer Kerze Docht, dessen Licht im Wachs ertrank, welches Linda war. Doch strahle unser geteiltes Glück noch über allem. Sorgen verflogen und wurden zu Wolken, vom Wind davon geweht; es gab keine Schmerzen, und Kummer erstickte im Staub der Engel.
Wochen vergingen, in denen Linda mich in ihre Welt entführte. Tagsüber schliefen wir, während wir die Nacht zu einem Fest machten. Wir liefen barfuß durch den warmen Sommerregen, sprangen in Pfützen, malten prächtige Kreidebilder auf die stillen Straßen der Stadt und balancierten Hand in Hand im Mondschein über die schmale Ufermauer unten am Fluss. An Lindas Seite gab es keine Angst und keine Ungewissheit mehr. Alles war klar und rein und gut.
Nur manchmal, wenn dem Flug der Aufprall folgte, regten sich Zweifel in mir. Dann war es, als stände ich auf einer Klippe, unter der weit, weit die Gischt wütete. „Spring“, sagte Linda. „Die Wellen fangen dich auf.“
Und ich sprang, tauchte ein in Lindas Arme und in ihre Zuversicht. Woge war sie und ich Delfin. Nahm ich Engelsstaub, war ich frei. Was kümmerten mich dann noch Pflichten, was Ziele und Pläne? Linda war gut, ich war gut, Staub war gut. Alles andere war alt und schlecht und von den fetten Maden der Vergangenheit halb zerfressen und verfault.
Der Sommer verging. Kühler wurden die Nächte, kürzer die Tage, und ich musste mich auf meine Prüfungen vorbereiten. Tagsüber versuchte ich mich auf seine Bücher zu konzentrieren, aber das fiel mir immer schwerer. Mein Körper wollte den Schlaf nachholen, den ich ihm nachts versagte.
„Was soll’s“, sagte Linda nur und lachte silberhell. „Wenn du schlafen willst, dann schlaf. Schließ die Augen, vielleicht kannst du träumen. Vom Fliegen oder vom Tauchen. Aber denk daran, dass du dein Leben verschläfst.“
Hatte sie recht? Verschlief ich mein Leben, wenn ich nicht wach blieb? Oder lebte ich nur in einem Traum, der den Schlaf verjagte? Ich wusste es nicht, und es war mir gleich. Wenn es ein Traum war, dann sollte er niemals enden …
Es war fast Mittag, als ich müde und von Schmerzen gequält die Augen öffnete. Der Schlaf hatte mich schließlich doch übermannt, ich war an meinem Tisch über den Büchern zusammengesunken. Die Bücher – was waren das für Bücher? Was stand darin? Ich konnte mich nicht erinnern. Panik erfasste mich. Engelsstaub, ich brauchte den Staub der Engel!
In meinem Kopf schlugen Schmiede auf glühende Ambosse, mir war übel; bittere Galle stieg meine Kehle empor. Das Ende, dachte ich panisch, das ist das Ende. Die Gischt kommt mich holen, sie reißt mich in den Abgrund. „Die Gischt. Die Gischt!“
Ich hörte, wie ich schrie, bis keine Luft mehr in meinen Lungen war; mir schien es war eine fremde Stimme. Ich schlug um mich, bis meine Fäuste gegen Wände prallten und die Haut an den Knöcheln aufriss; dies war eines anderen Blut. Ich trat mit den Füßen auf den Boden, bis meine Beine nachgaben und ich fiel, fiel, fiel …
Als ich erwachte, sah ich nur Weiß. Nun bin ich im Licht, dachte ich ruhig. Es ist warm, es ist eng. Ich konnte die Arme nicht heben. Erst viel später realisierte ich, dass man mich mit Lederriemen ans Bett gefesselt hatte.
„Sie sagen, es sei zu deiner eigenen Sicherheit.“
Linda saß an meinem Bett. Sie strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Wie geht es dir, hijo de la luna?“
„Ich weiß nicht.“ In mir kochte etwas Ungutes, etwas Ängstigendes. „Wie lange bin ich hier?“
„Fast eine Woche. Du hast so lange geschlafen, so lange. Bist du jetzt wach?“
„Ich habe Durst. Und mein Kopf ist ganz schwer. Aber ja – ja, ich bin wach. Was ist denn passiert?“
Sie gab mir zu trinken, streichelte meine Wangen. „Du bist getaucht, Bert. Tief und lange getaucht. Als ich dich fand, hast du nicht mehr geatmet. Aber ich habe dich wachgeküsst.“
Die Gedanken tanzten einen grotesken Reigen in meinem Kopf. Eine Woche! Es schien mir, als wären es nur Augenblicke gewesen, drei oder vier Atemzüge. „Es ist dieses Zeug, Linda, dieser Engelsstaub. Es ist Gift!“
Sie lächelte und streichelte mich, ihre Augen schienen müde. „Sag mir, liebst du mich?“
„Mehr als alles andere. Aber versprich mir, dass wir damit aufhören, Linda. Das ist nicht das Leben, nicht das Leben. Es ist der Tod!“
Ihr Blick ging ins Leere, ihre Finger schienen Tasten in der Luft anzuschlagen und eine Melodie zu spielen, die nur sie allein wahrnehmen konnte. „Der Tod, mein lieber, lieber Bert“, sagte sie schließlich, „der Tod ist doch das wahre Leben. Das musst du doch erkennen. Ist denn dieses langsame Sterben, das man Leben nennt, nicht das wirklich Grausame? Ich liebe dich seit jenem Morgen, an dem wir uns zum ersten Mal sahen. Erinnerst du dich, Bert? Wie wir schwimmen waren und tauchen? Da hast du mich wachgeküsst. Ins Leben hast du mich zurückgeholt, und in diesem Augenblick begann mein Sterben. Die schönste Zeit von allen, die wertvollste. Haben wir denn nicht unsere Nächte mit Gold geschmückt, Edelsteine gegessen und Silber getrunken? Haben wir denn nicht in einer Luft aus Seide getanzt und auf einem Bett aus Orchideen geschlafen? Sag mir, Bert – willst du all das vergessen, all das hinter dich werfen?“
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ja, es war die schönste Zeit meines Lebens, die wertvollste. So unbeschwert, dass es fast schon schmerzte. Doch war es nicht die Wirklichkeit. „Es war nur ein Traum“, sagte ich. „Nur ein Traum, der nun zu Ende ist. Ich will mit dir zusammen leben, Linda, wirklich leben. Ohne Gift.“
Sie lachte, und es klang, als würde eine Saite aus purem Silber in meinen Ohren vibrieren. „Mein lieber, lieber Bert“, sagte sie und strich wieder über meine Stirn. „Du kannst so lange tauchen. Viel länger als ich, du hast es ja gezeigt. Wie ist es da so hoch oben auf dem Seil? Kann man von da, wo du warst, über den Horizont sehen? Sag mir, ist man da oben wirklich frei? Zeig mir doch, wie klar die Luft ist und wie hell die Sonne scheint.“
Sie holte ein Tütchen aus ihrer Hosentasche. „Wo du warst, will ich hin“, sagte sie, dann wandte sie sich ab …
Noch immer steht ihr Name mit Lippenstift geschrieben hinter mir an der Wand „Linda in Love“, umkränzt von einem Herzen. Er würde verblassen, irgendwann von irgendwem weggewischt werden. In Wirklichkeit ist nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
Die Sonne geht auf. Es wird Zeit für mich. In zwei Stunden werden sie Linda gewaschen, ihr einen Brei eingeflößt und sie auf dem Stuhl am Fenster fixiert haben. Ihre Augen werden hinaus in den hellen Tag blicken, doch sie werden nichts sehen. Kein Licht ist hell genug, um zu ihr durchzudringen. Keine Sonne kann sie erwärmen. Ihre Seele ist weit unten geblieben in der Kälte und der Dunkelheit; sie hat den Weg zurück ins Leben nicht mehr gefunden. Ich glaube, sie irrt dort auf dem Meeresgrund herum, und sie tanzt auf einem Seil. Vielleicht sieht sie Farben und hört Musik. Vielleicht ist sie glücklich. Ich wünsche es ihr.
In zwei Stunden werde ich das große Buch nehmen und ihr vorlesen. Von den Delfinen und den Seepferdchen, von Meerjungfrauen und von versunkenen Kontinenten. Wie jeden Tag seit jenem, an dem sie zu viel Engelsstaub genommen hat. Ich werde ihr vorlesen und ihr ab und zu über die Stirn streicheln, bis es Zeit für sie wird, ins Bett gebracht zu werden. Dann werde ich sie küssen und ihr sagen, dass ich sie liebe. Für immer
 



 
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