Linda schreibt

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Haremsdame

Mitglied
Linda schreibt. In Zeiten, in denen sie das nicht schafft, fühlt sie sich leer und ausgebrannt.

Als Kind fiel Linda das Sprechen schwer. So schwer, dass sich ihre Mutter Sorgen machte und die Zweijährige wegen des unverständlichen Kauderwelsches einem Arzt vorstellte. Der diagnostizierte allerdings nur Faulheit. Vielleicht hatte er recht, denn später sagte man Linda nach, sie habe alles Unausgesprochene von früher nachgeholt.

Mit elf Jahren investierte Linda ihr ganzes Taschengeld in Briefmarken. Sie hatte viele Brieffreundinnen, von denen sie im Laufe ihres Lebens die eine oder andere kennen lernte. Schon damals fiel ihr auf, dass sie durch geschriebene Worte viel mehr über die Menschen erfahren konnte, als durch gesprochene Worte. Auch sie öffnete sich schriftlich leichter als mündlich. „Vielleicht, weil niemand meinen Gedankenfluss unterbricht?“ überlegt sie heute.

Inzwischen schreibt Linda vor allem am Computer. „Das geht schneller als mit der Hand,“ hat sie festgestellt. Außerdem spart sie sich den Weg zur Post ebenso, wie das Warten auf den Briefträger. „Allerdings,“ resümiert sie melancholisch, „bekomme ich heute keine so hübsch verzierten Umschläge mehr. Auch keine Briefmarken, die verschlüsselte Botschaften übermitteln.“

Doch die Kraft der Buchstaben blieb erhalten. Linda wundert sich immer noch: „Was haben die paar Schnörkel an sich, dass sie mich ganz tief in meinem Innern treffen können? Warum sind geschriebene Zeilen manchmal eindringlicher als gesprochene Worte?"

Für Linda haben Wortzusammenstellungen eine eigene Seele. Buchstabenverbindungen können ihr Blut in Wallungen bringen, sie aus dem Alltag entführen. Einigen Zeilen entsteigen Geister, die sie schon lange zu kennen scheint. Fremde werden zu verwandten Seelen, deren Alter und Aussehen keine Rolle spielt.

„Es macht mir Angst, wenn ich Dich nicht erreichen kann“, sagt Lindas Freund, wenn sie mal wieder in ihrer Welt unterwegs ist. Sie selbst beschreibt ihren Zustand wie einen Rausch. Ohne Alkohol oder andere Drogen, nur mit Hilfe einer Tastatur und ihrer Phantasie, verlässt Linda den normalen Alltag. Ihr Geist schwebt hinaus in die Unendlichkeit des Alls.

Dort draußen bekommt Lindas Inneres Verbindung zu einer Ebene, auf der sich alles gewesene und zukünftige Leben vereint. Dort sind Körper unwichtig. Dort zählen nur durchsichtige Gebilde in den unterschiedlichsten Farbtönen. Dort finden Begegnungen von Seelen statt, für die unsere irdischen Körper viel zu schwerfällig sind. Linda bezeichnet diesen Zustand als „Liebe pur“ oder „geistigen Orgasmus“.

Obwohl sich Linda auf ihrem Höhenflug sehr wohl fühlt, kehrt sie nach einer Weile wieder bewusst in den Alltag zurück. Sie vergleicht sich dann mit einem Auto, das nach dem Auffüllen des Tankes wieder „fahrtüchtig“ ist.
 

namaqool

Mitglied
hallo haremsdame,

hier in der lelu gibt es gewiss viele lindas und lindos.
ich würde den 2. satz komplett streichen. der erste satz alleine wirkt noch stärker auf mich.

dein text geht tief.

grüsse, namaqool.
 

Haremsdame

Mitglied
Danke, namaqool,
für Deine Einschätzung des Textes und Deinen Tip. Habe den zweiten Satz gleich gestrichen. Hast sicher recht, er war unnötig.
Einen schönen Tag noch
Haremsdame
 

Trasla

Mitglied
Gefällt mir gut!

Einzig über das Wort "Buchstabenverbindungen" bin ich gestolpert, das scheint mir ein wenig klinisch konstruiert. Und der Vergleich am Ende mit dem Auto - da finde ich gibt es passenderes. Ich persönlich empfinde solche Ausflüge mehr als Reinigung, Entspannung... jedenfalls etwas, dass nicht dafür notwendig ist, dass man "funktioniert", sondern dass dafür sorgt dass man besser, zufriedener und mit mehr Freude lebt.

Insgesamt trefflich beschrieben, was Schreiben bedeuten kann!
 

Duisburger

Mitglied
Ein guter Text, der mir sehr gefällt.
Lediglich der Abschluß ist mir doch zu profan und passt so gar nicht zum Vorausgeschriebenen.
Ein wenig Erkenntis, ein philosophischen Resumee oder ein Ausblick würde diese kleine Geschichte abrunden.

lg
Uwe
 

Haremsdame

Mitglied
Linda schreibt. In Zeiten, in denen sie das nicht schafft, fühlt sie sich leer und ausgebrannt.

Als Kind fiel Linda das Sprechen schwer. So schwer, dass sich ihre Mutter Sorgen machte und die Zweijährige wegen des unverständlichen Kauderwelsches einem Arzt vorstellte. Der diagnostizierte allerdings nur Faulheit. Vielleicht hatte er recht, denn später sagte man Linda nach, sie habe alles Unausgesprochene von früher nachgeholt.

Mit elf Jahren investierte Linda ihr ganzes Taschengeld in Briefmarken. Sie hatte viele Brieffreundinnen, von denen sie im Laufe ihres Lebens die eine oder andere kennen lernte. Schon damals fiel ihr auf, dass sie durch geschriebene Worte viel mehr über die Menschen erfahren konnte, als durch gesprochene Worte. Auch sie öffnete sich schriftlich leichter als mündlich. „Vielleicht, weil niemand meinen Gedankenfluss unterbricht?“ überlegt sie heute.

Inzwischen schreibt Linda vor allem am Computer. „Das geht schneller als mit der Hand“, hat sie festgestellt. Außerdem spart sie sich den Weg zur Post ebenso, wie das Warten auf den Briefträger. „Allerdings“, resümiert sie melancholisch, „bekomme ich heute keine so hübsch verzierten Umschläge mehr. Auch keine Briefmarken, die verschlüsselte Botschaften übermitteln.“

Doch die Kraft der Buchstaben blieb erhalten. Linda wundert sich immer noch: „Was haben die paar Schnörkel an sich, dass sie mich ganz tief in meinem Innern treffen können? Warum sind geschriebene Zeilen manchmal eindringlicher als gesprochene Worte?"

Für Linda haben Wortzusammenstellungen eine eigene Seele. Buchstabenverbindungen können ihr Blut in Wallungen bringen, sie aus dem Alltag entführen. Einigen Zeilen entsteigen Geister, die sie schon lange zu kennen scheint. Fremde werden zu verwandten Seelen, deren Alter und Aussehen keine Rolle spielt.

„Es macht mir Angst, wenn ich Dich nicht erreichen kann“, sagt Lindas Freund, wenn sie mal wieder in ihrer Welt unterwegs ist. Sie selbst beschreibt ihren Zustand wie einen Rausch. Ohne Alkohol oder andere Drogen, nur mit Hilfe einer Tastatur und ihrer Phantasie verlässt Linda den normalen Alltag. Ihr Geist schwebt hinaus in die Unendlichkeit des Alls.

Dort draußen bekommt Lindas Inneres Verbindung zu einer Ebene, auf der sich alles gewesene und zukünftige Leben vereint. Dort sind Körper unwichtig. Dort zählen nur durchsichtige Gebilde in den unterschiedlichsten Farbtönen. Dort finden Begegnungen von Seelen statt, für die unsere irdischen Körper viel zu schwerfällig sind. Linda bezeichnet diesen Zustand als „Liebe pur“ oder „geistigen Orgasmus“.

Obwohl sich Linda auf ihrem Höhenflug sehr wohl fühlt, kehrt sie nach einer Weile wieder bewusst in den Alltag zurück, um sich mit den sie umgebenden, realen Menschen auszutauschen.
 

Haremsdame

Mitglied
Danke für das Ausgraben dieses Textes! Ich freu mich, dass er Euch gefällt. Das Wiederauftauchen in der Realität habe ich am Schluss so abgeändert, dass er für mich passt.
 
U

USch

Gast
Hallo Haremsdame,

ein wunderschöner, liebevoll mit schriftstellernden Menschen umgehender Text. Da finden wir uns Schreiberlinge doch alle wieder.

LG Uwe
 



 
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